Die Migrationsfrage als Herausforderung für die Linke

Seit dem Sommer 2015 und der Nichtschließung der deutschen Grenzen für die zahlreichen Flüchtlinge vor allem aus dem Kriegsgebiet Syriens, die in Ungarn und Österreich sowie in den Balkanländern gestrandet waren, wird in der deutschen Öffentlichkeit wieder einmal erregt über die Fragen von Asyl und Einwanderung diskutiert und gestritten. Bereits Anfang der 1990er Jahre gab es einen Diskurs mit ähnlichen Frontstellungen. Nach der undemokratisch betriebenen Vereinigung der zwei deutschen Staaten wurde die große Zahl von Asylsuchenden vor allem aus Osteuropa von den konservativen Parteien und der Regierung offensichtlich genutzt, um eine nationalistische Stimmung zu erzeugen. Im Ergebnis wurde das Grundrecht auf Asyl 1993 faktisch abgeschafft; nach diesem Recht wurden 2017 weniger als ein Prozent der 600 000 gestellten Anträge bewilligt (vgl. taz, 9.8.2018). Im Jahr 2015 war neu, dass Merkel mit ihrer Äußerung vom 31.8. „Wir schaffen das“ sich positiv zur Aufnahme von Flüchtlingen verhielt, dass relevante Teile der CDU/CSU nun die Existenz des Islam in Deutschland anerkannten, für einen kurzen Moment flüchtlingsfreundlich waren und dass die AfD, die nach ihrer Gründung im April 2013 alsbald in eine Krise geraten war, sich in dieser Zeit durch eine rassistische Codierung des Fluchtthemas etablieren konnte. Von humanitärer und flüchtlingsunterstützender Seite wurde beanstandet, dass die Behörden oft überfordert und nicht hilfreich waren. Umfangreiche Infrastrukturen für die Flüchtlingshilfe, die in den 1990er noch vorhanden waren, waren aufgrund des Dublin-Übereinkommens deutlich verringert worden. Die Zivilgesellschaft sowie viele ehrenamtliche Helfer*innen übernahmen Aufgaben (Beratung, Lebensmittelversorgung, Übernachtungen). Von konservativer und rechter Seite aus wurde kritisiert, dass die Regierung unverantwortlich gehandelt und den Staat dem Eindringen von Flüchtlingen nach Deutschland unkontrolliert ausgeliefert habe. Ein Sommer 2015 dürfe sich nicht wiederholen, was heißen soll, dass der Staat zukünftig entschieden in der Lage sein muss, die Flüchtlinge an der Grenze und gegebenenfalls zurückzuweisen.

Die Hilfe und das völkerrechtlich gebotene Offenhalten der Grenzen waren notwendig, um das Leben von Menschen zu retten und wurde (bis heute) von einer Mehrheit der deutschen Bevölkerung getragen. Diese war auch aufgeschreckt worden durch die Berichterstattung in den Medien, die immer wieder und zu Recht den Tod von Flüchtlingen aus dem Kriegsgebiet und von Migrant*innen, die im Mittelmeer ertranken, skandalisierten. Die Diskussion polarisierte aber, weil schon ab Oktober 2014 in Dresden wöchentliche Demonstrationen der Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlands gegen Flüchtlinge und Asylsuchende stattfanden – ein Spektakel, dem die Medien über die Maßen Aufmerksamkeit widmeten. In Medienberichten, in Kommentaren, in Talkshows oder in Stellungnahmen von Politiker*innen wurde im Namen des Verständnisses für die Sorgen der Menschen und Bürger vielfach Feindseligkeit gegenüber Geflüchteten und Rassismus genährt. Auf dieser Grundlage konnte dann auch die AfD Wahlerfolge erzielen. Insbesondere die von den Medien enorm hochgespielten Ereignisse in Köln in der Silvesternacht 2015/16 und die Kritik an Angela Merkel und der politischen Klasse, die für die Übergriffe und Gewalthandlungen von Migranten und Flüchtlingen immer wieder persönlich haftbar gemacht wurde, gaben der AfD dann eine enorme Resonanz und ermöglichten die Artikulation einer verbreiteten Unzufriedenheit mit den Herrschenden. Der AfD gelang es – mit tatkräftiger Unterstützung einer Reihe von in- und ausländischen Akteuren, zu denen möglicherweise das Bundesamt für Verfassungsschutz unter Maaßen ebenso gehört wie Personen aus dem Umfeld der Schweizer SVP –, verschiedene soziale Widersprüche in der Frage der Migration als imaginärer Ursache zu verdichten; sie fordert eine Schließung der Grenzen, die Zurückweisung von Migrant*innen und Flüchtlingen bis zum Gebrauch von Schusswaffen und rigorose Abschiebungen. Vieles wird de facto von der Bundesregierung und der EU verfolgt. Die EU hat Verträge mit der Türkei und Libyen geschlossen, damit diese Flüchtlinge und Migrant*innen an der Durch- und Ausreise hindern. Sie bemüht sich, die humanitäre Flüchtlingshilfe zu unterbinden und zu kriminalisieren und Frontex zu einem eigenen europäischen Polizeiapparat auszubauen. In Vereinbarungen mit Regierungen auf afrikanischem Boden werden, gestützt auf moderneste Überwachungstechnologien, umfangreiche Grenz- und Wegkontroll- sowie Lagerdispositive bis weit in Subsahara-Regionen geschaffen, um weiträumig die Migration zu erschweren oder zu blockieren. In Hotspots sollen die Flüchtlinge gesammelt und an der Weiterreise gehindert werden; hier hängen viele von ihnen über Monate in einem administrativen Nirgendwo fest. In Ankerzentren werden die Flüchtlinge und Asylbewerber*innen festgehalten, bis über sie entschieden wird, um sie dann gegebenenfalls schnell abschieben zu können. Auch werden vermehrt Länder als sicher erklärt, um die Abschiebung vornehmen zu können; selbst jene, die sich sprachlich und beruflich schon gut integriert sind, werden trotz eines ersichtlichen Arbeitskräftemangels abgeschoben. Über die Flüchtlinge und Migrant*innen wird von Regierungsvertreter*innen auf abwertende Weise gesprochen: „Menschenfleisch“, „Invasoren“, „kriminelle Illegalen“, „Asyltouristen“, Helfer werden als „NGO-Taxis“ oder „Anti-Abschiebe-Industrie“ diskreditiert, Ängste werden geschürt und damit Entsolidarisierung, Beschimpfung und tätliche Angriffe ermutigt. 

Die Linke war und ist über die Frage des Umgangs mit Asyl, Flucht, vor allem aber mit Migration gespalten. Dabei stehen nicht die menschen- und völkerrechtlichen Regelungen zur Diskussion. Aber es wird von einem Teil der Linken darauf hingewiesen, dass die staatlichen Kapazitäten und Ressourcen stark belastet seien, also die Bewilligungsbehörden, die Kommunen, die für die finanzielle Unterstützung, Wohnraum oder Sprachkurse zu sorgen haben, die Schulen und Lehrkräfte. Befürchtet wird, dass es vor allem für Menschen mit geringen Einkommen und Qualifikationen zu einer Konkurrenz um Wohnungen oder Arbeitsplätze kommt, weil viele Migrant*innen und Flüchtlinge nur gering qualifiziert sind. Der Streit geht darum, ob gefordert werden kann, die Grenze offenzuhalten und alle, die kommen, aufzunehmen – oder ob es eine Begrenzung und über das bisherige Maß der Regulierung hinaus weiterer Regulierung durch ein Einwanderungsgesetz bedarf. Befürchtet wird, dass ohne Regelung und Zugangsbegrenzung Sogwirkungen entstehen und weitere Menschen zuwandern könnten. Aus dem Blickwinkel der Migrationsforschung ist das nicht ohne weiteres zu erwarten, da viele Menschen nicht oder nur in benachbarte Regionen migrieren. Aber es ist auch nicht klar, wann in den Auswanderungsländern jener Grad erreicht ist, von dem an Abwanderung abnimmt. Selbst wenn noch sehr viele weitere Menschen aufgenommen werden können, stellt sich die Frage, wie viele das sein können, wenn sozialstaatliche Unterstützung gewährt werden können soll und die Migration nicht einfach Prozessen des Arbeits- oder Wohnungsmarkts überlassen wird. 

Menschen migrieren jedenfalls nicht allein aus politischen oder religiösen Gründen oder in unmittelbarer Not, sondern weil sie für sich und ihre Kinder in ihren Herkunftsländern aufgrund mangelnder ökonomischer Entwicklung, kultureller Rückständigkeit oder bestehender Ungleichheits- und Abhängigkeitsverhältnisse keine den Zielländern vergleichbare Zukunftsperspektive sehen. Es bedarf für solche Migrationsgruppen sicherer Migrationswege, einer Veränderung der Verwaltungspraktiken, sie für den deutschen Arbeitsmarkt beruflich zu qualifizieren und in ihn zu integrieren, sodass es nicht zu Vernichtung von Individuen und deren Lebensperspektiven kommt. Zugestanden werden müsste auch, dass ein Teil der Migrant*innen auch in eigenen Communities, also sogenannten Parallelgesellschaften, leben wollen und dort eine eigene Ökonomie entwickeln, dass sie bereits über Qualifikationen verfügen und der Spracherwerb für eine gelingende Integration nicht unbedingt erforderlich ist. Für die deutsche Gesellschaft sind die Migrant*innen, die in mehreren Ländern zu Hause sind, kein Nachteil (wie im Fall des Fußballspielers Özil auch behauptet wurde), sondern durchaus ein Vorteil, weil sie ökonomische, politische und kulturelle Vermittler*innen sind. 

Auch ein solidarisches Einwanderungsgesetz würde notwendigerweise die Zuwanderung begrenzen. Viele Linke haben deswegen Zweifel daran, ob eine Regulierung der Einwanderung der richtige Weg ist, weil dies immer mit einer Auswahl von Menschen verbunden ist. Sie treten für offene Grenzen ein und lehnen jede Form eines europäischen Grenzregimes ab. Für die Bestimmung einer linken Politik ist das jedoch nicht ausreichend. Denn auch in diesem Fall fällt die Entscheidung darüber, wer Zuwander*in ist, in gewisser Weise „blind“. Es entscheiden dann nicht mehr demokratisch vereinbarte Gesetze, Behörden oder Unternehmen, sondern die Entscheidungen fallen dann bei den vielen Individuen oder in den Familien, die sich zur Migration entscheiden und dafür in irgendeiner Weise die Ressourcen mobilisieren können. Die Einwanderung setzt auch den Klassencharakter der Einwanderungsländer selbst nicht außer Kraft, die Einwander*innen erfahren über kurz oder lang deren hochmodernen Charakter, der sich hinter der Fassade einer gut funktionierenden Gesellschaft vollzieht, und müssen feststellen, dass sie selbst und ihre Kinder trotz aller Anstrengungen durchaus in den sozialen Klassenpositionen gefangen bleiben. Für die Linke stellt sich nicht allein die Frage, wie in emanzipatorischer Hinsicht mit einem Grenzregime umzugehen ist. Solange es Staaten gibt, gibt es Grenzen; Staaten sind unter anderem durch die Definitionsmacht über die Bevölkerung und das Territorium definiert. Die Grenzen sind nicht offen; die Forderung nach offenen Grenzen kann also nur auf eine relative Öffnung der staatlichen Grenzen zielen. Andernfalls wäre ein Zustand gemeint, in dem die Menschheit geeint und staatenlos zusammenlebt und staatlich bestimmte Grenzen beseitigt wurden. Wenn es aber den Staat als Herrschaftsform gibt, dann muss auch unterschieden werden zwischen denen, die zum Staatsvolk gehören, bestimmte Rechte genießen, Teil eines bestehenden sozialen Kräfteverhältnisses sind, und denen, die zuwandern, aber nach bestimmten Regeln Zugehörigkeit erlangen oder nicht erlangen; die Anerkennung von Bürgerschaft und damit verbundenen Rechten ist immer ein umkämpfter Kompromiss zwischen den sozialen Klassen. Nationalismus und Rassismus sind ideologische Muster in diesen Kämpfen um den bürgerschaftlichen Status. Diese Muster müssen bekämpft werden, weil sie sich auch gegen die Linke und emanzipatorische Ziele richten. Vor allem aber stellt sich die Frage, welche Politik die Linke mit Blick auf die Migrant*innen selbst verfolgt, die in Deutschland als einem Einwanderungsland leben. Es muss darum gehen, diese für ein demokratisch-sozialistisches Projekt zu gewinnen. Für eine solche Politik ist von Bedeutung, eine realistische Vorstellung davon zu haben, wer diese Migrant*innen sind, wie sie sich orientieren, wie sie ihre Lebenszusammenhänge organisieren und wie diese sich mit den Lebenszusammenhängen der Einwanderungsgesellschaft selbst verknüpfen.

Migration und Hegemonietheorie bei Gramsci

Die Überlegungen Antonio Gramscis in die gegenwärtige Diskussion einzubeziehen, kann sich als anregend erweisen. Anregend, weil Gramsci auf bestimmte Aspekte der Migration hinweist, die gegenwärtig durch die Auseinandersetzung um das Grenzregime in den Hintergrund gedrängt werden. Gramsci hat es mit der Binnenmigration in Italien und mit der Auswanderung aus Italien zu tun. Er erörtert Fragen der Klasse und der Klassenpolitik ebenso wie ihren Zusammenhang mit Rassismus. Als Zuwanderer aus dem italienischen Süden in den industrialisierten Norden hat er erfahren, wie Migrant*innen diskriminiert, wie sie von den Herrschenden gegen die norditalienischen Linken instrumentalisiert werden und wie sie miteinander solidarisch sein können. Die Frage der Zusammensetzung der Bevölkerung und die Funktion der Auswanderung aus Italien hält er ausdrücklich als eines der Hauptthemen der „Gefängnishefte“ fest (Gramsci 1991, 67). 

Das vorrangige Ziel seiner Philosophie der Praxis bestand in einer radikalen Reflexion auf die bürgerliche und die sozialistische Tradition, die beide die volle Bedeutung jener neuen Weltauffassung nicht verstanden, zu der Marx einen entscheidenden Impuls gegeben hatte und in deren Zentrum die konkrete geschichtliche Praxis der Aneignung und die aktive und bewusste Gestaltung der natürlichen und gesellschaftlichen Welt durch alle Menschen steht. Gramsci kritisiert, dass in diesen historischen Praktiken das lebendige Arbeitsvermögen und die intellektuellen Kompetenzen der meisten Menschen lediglich als Ausführungsorgane betrachtet werden, die dem Willen Weniger für deren Zwecke zur Verfügung stehen. Ergebnis dieser herrschaftlichen Verfügung über das Arbeitsvermögen der Subalternen ist, dass ihr Denken, ihr Fühlen uneinheitlich und ungleichzeitig bleiben muss. Es ist mit den fortgeschrittensten Entwicklungen des Produktionsapparats und der technischen Naturaneignung verbunden. Doch alles wird von den Herrschenden derart organisiert, dass die Subalternen ihr Denken und Fühlen nicht – ausgehend von den fortgeschrittenen Arbeitsprozessen – ausarbeiten können. Sie bleiben deswegen in vielen Hinsichten hinter den modernen Lebensformen zurück. Ihr Denken und Fühlen ist ungleichzeitig, ihr Alltagsverstand bizarr, sie sind gleichzeitig Höhlenmenschen und hochmodern. „Wenn die Weltauffassung nicht kritisch und kohärent, sondern zufällig und zusammenhangslos ist, gehört man gleichzeitig zu einer Vielzahl von Masse-Menschen, die eigene Persönlichkeit ist auf bizarre Weise zusammengesetzt: es finden sich in ihr Elemente des Höhlenmenschen und Prinzipien der modernsten und fortgeschrittensten Wissenschaft, Vorurteile aller vergangenen, lokal bornierten geschichtlichen Phasen und Intuitionen einer künftigen Philosophie, wie sie einem weltweit vereinigten Menschengeschlecht zu eigen sein wird. Die eigene Weltauffassung kritisieren heißt mithin, sie einheitlich und kohärent zu machen und bis zu dem Punkt anzuheben, zu dem das fortgeschrittenste Denken der Welt gelangt ist.“ (Gramsci 1994, 1376) 

Gramsci verbindet mit der Philosophie der Praxis als neuer Weltauffassung die Erwartung, dass sie beizutragen hilft, die weltgeschichtliche Unterscheidung von Kopf- und Handarbeit zu überwinden. Eine neue Zivilisation und Lebensweise erscheint ihm möglich und wünschenswert, in der alle Individuen die Möglichkeit hätten, ihr Denken und Fühlen auf das Feinste auf den höchsten Stand der gesellschaftlichen Entwicklung zu bringen und sich damit zu befähigen, am gemeinsamen Leben gestaltend zu beteiligen und sich nicht von anderen führen zu lassen. Es sollte weder Subalterne noch Führer und Leiter geben. „Die Philosophie der Praxis […] ist nicht das Regierungsinstrument herrschender Gruppen, um den Konsens zu haben und die Hegemonie über subalterne Klassen auszuüben; sie ist der Ausdruck dieser subalternen Klassen, die sich selbst zur Kunst des Regierens erziehen wollen und die daran interessiert sind, alle Wahrheiten zu kennen, auch die unerfreulichen, und die (unmöglichen) Betrügereien der Oberklasse und erst recht ihrer selbst zu vermeiden.“ (Gramsci 1994, 1325) Wenn die Menschen sich selbst regieren, wird es auch das Verhältnis von Führenden und Geführten, von Regierenden und Regierten, also auch keine Hegemonie mehr geben, weil die Individuen sich selbst regieren. 

Im Anschluss an Foucault wird heute zu Recht kritisch beobachtet, dass der Neoliberalismus die aus der christlichen Tradition stammende Machttechnik der Führung der Führungen einsetzt. Dazu gehören auch die Techniken der Selbstführung, mit denen sich die Individuen selbst anleiten und wie freiwillig und voller rationaler Überzeugung mit Sorge um sich, mit Selbstbeobachtung und Selbstprüfung, Beratung, Coaching oder therapeutischer Unterstützung jene körperlichen, psychologischen und sozialen Eigenschaften ausbilden, fördern und intensivieren, die es ihnen erlauben, ihre Subjektivität an den Anforderungen einer intensiven kapitalistischen Verwertung auszurichten: also Arbeitspraktiken, Konsummuster, Freizeitverhalten, Ernährungsgewohnheiten, sportliche Betätigungen, Gesundheitsvorsorge. Obwohl Gramsci auch alle diese Aspekte im Blick hat, ist er doch von einer solchen neoliberalen Bedeutung des Begriffs denkbar weit entfernt. Die Fähigkeit zur Selbstregierung bedeutet: nicht subaltern sein, sich nicht von anderen zu deren Vorteil verwalten lassen, sondern die Organisation des gesellschaftlichen Produktionsapparats, die gesellschaftliche Arbeit und Arbeitsteilung, die Gewohnheiten, das Wissen und Fühlen, die Lebensweise gemeinsam mit anderen bestimmen können. 

Wenn Gramsci besondere Formen der Arbeitsteilung anspricht, dann beinhaltet dies immer eine bestimmte Form der Verteilung der Bevölkerung – ein Problem, das Gramsci mit dem Begriff der rationalen Proportionen der Bevölkerungszusammensetzung bezeichnet. Der Begriff ist grundlegender als der des Arbeitsmarktes, da der Arbeitsmarkt nur einen spezifischen, nämlich kapitalistischen und trotz aller Lenkungsversuche irrationalen Mechanismus zur Zusammensetzung der Bevölkerung darstellt (er führt zu Überbeschäftigung, erzeugt verschiedene Formen der überschüssigen Bevölkerung, nimmt Teile der Bevölkerung aus der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und Kooperation heraus, berücksichtigt die geschlechtliche Arbeitsteilung vielfach nicht). Jedes Gesellschaftssystem erfordert seiner Ansicht nach eine spezifische Gliederung und Verteilung der Bevölkerung auf die gesamtgesellschaftliche, nicht allein ökonomische Arbeitsteilung. „Jedes System hat sein eigenes Gesetz der bestimmten Proportionen in der demographischen Zusammensetzung, sein »optimales« Gleichgewicht und Ungleichgewichte, die, wenn sie nicht mit geeigneter Gesetzgebung zurechtgebogen werden, von sich aus katastrophisch werden können, weil sie die Quellen des nationalen Wirtschaftslebens austrocknen, abgesehen von jedem anderen Element von Auflösung.“ (Gramsci 1999, 2068) Gramsci weist auf mehrere Elemente einer irrationalen Zusammensetzung der Bevölkerung hin: die langanhaltende Auswanderung aus Italien, die Binnenmigration aus dem Süden des Landes in den industrialisierten Norden, der geringe Beschäftigungsanteil der Frauen oder das unausgewogene Verhältnis zwischen den Generationen aufgrund niedriger Geburtenraten. Besonders betont er das ungünstige Verhältnis von aktiver und passiver Bevölkerung. Für seine Analyse des Faschismus ist es ein entscheidender Gesichtspunkt, dass in den europäischen Gesellschaften ein erheblicher Anteil der Bevölkerung Renteneinkommen bezieht. Damit meint Gramsci einen Teil der Staatsbeschäftigten in Italien und viele Bürger*innen kleinerer Städte, die als Eigentümer*innen das Land überteuert an Bauern verpachten und von diesen Renten leben. „Ja, man kann sagen, dass, je älter die Geschichte eines Landes ist, desto zahlreicher und lastender diese Ablagerungen nichtstuerischer und unnützer Massen dieser Pensionäre der Wirtschaftsgeschichte sind, die vom ‚Erbe‘ der ‚Ahnen‘ leben.“ (Gramsci 1999, 2065) Diese Gruppen wollen die notwendigen Veränderungen des Produktionsapparats nicht vornehmen, sondern die anachronistische demographisch-gesellschaftliche Struktur Europas bewahren, gleichzeitig aber Elemente der modernen Form der Produktion und Arbeitsweise, die Gramsci als Fordismus bezeichnet, aus den USA einführen. „Um es in schlichten Worten zu sagen, Europa hätte gern das Fass voll und die Frau betrunken, alle Vorteile, die der Fordismus hinsichtlich der Konkurrenzfähigkeit hervorbringt, bei Aufrechterhaltung seines Heeres von Parasiten, die ungeheure Massen an Mehrwert verschlingen, die Eingangskosten belasten und die Konkurrenzfähigkeit auf dem internationalen Markt niederdrücken.“ (Gramsci 1999, 2064) Gegenüber dieser Status quo orientierten Haltung, wie sie insbesondere vom faschistischen Ständestaat vertreten wird, hat Gramsci den Eindruck, dass die italienischen Arbeiter*innen, auch so, wie sie von seiner eigenen Gruppe „Ordine nuovo“ nach dem Krieg vertreten wurde, für eine Erneuerung und Modernisierung der sozio-ökonomischen Struktur seien. „Die italienischen Arbeiter haben sich nie auch nur passiv den industriellen Innovationen widersetzt, die auf Kostensenkung abzielten, auf Rationalisierung der Arbeit, auf die Einführung vollkommenerer Mechanismen und vollkommenerer Organisationsformen des Gesamtbetriebs; ganz im Gegenteil. In Amerika ist das geschehen und hat zur Liquidierung der freien Gewerkschaften und zu einem System von (untereinander) isolierten betrieblichen Organisationen geführt. Eine sorgfältige Analyse der italienischen Geschichte vor 1922, die sich nicht vom äußerlichen Karneval blenden ließe, sondern fähig wäre, die Tiefenantriebe der Bewegung zu fassen, dürfte zu dem Schluß kommen, daß gerade die Arbeiter die Träger der neuen industriellen Erfordernisse waren und sie auf ihre Art wacker behaupteten.“ (Gramsci 1999, 2078) 

Die Frage der Bevölkerungszusammensetzung ist für Gramsci mit der Frage der Hegemonie verbunden. Wenn er feststellt, dass es zu einer Zuwanderung vom kinderreichen Land in die Industriestädte mit niedriger Geburtenrate kommt, so betont er die damit verbundenen sozialen Prozesse. Denn „die geringe städtische Geburtenrate [erfordert] einen ständigen und bedeutenden Aufwand für die Ausbildung der fortwährend neu in die Verstädterung Eintretenden und bringt ein fortwährendes Sichändern der politisch-sozialen Zusammensetzung der Stadt mit sich, was fortwährend auf neuen Grundlagen das Problem der Hegemonie aufwirft“ (Gramsci 1999, 2078, Herv. AD). Gramsci begriff diese Aufgabe der Hegemonie als eine genuine Aufgabe der Linken, um eine Spaltung der verschiedenen Gruppen der Arbeiter*innen zu verhindern. In der „Süditalienischen Frage“ sprach er die Erfahrung an, dass vor und im Krieg die Bourgeoisie vermittels der Sozialistischen Partei unter den Massen des italienischen Nordens eine rassistische Ideologie gegenüber den Zuwander*innen aus dem Süden Italiens verbreitet hat. Dieser Ideologie zufolge seien es die Migrant*innen, die den schnelleren Fortschritt Italiens verhinderten, weil sie biologisch minderwertig und durch natürliche Bestimmung Halbbarbaren oder völlige Barbaren seien. „Wenn der Süden rückständig ist, so tragen nicht das kapitalistische System oder irgendeine andere geschichtliche Ursache die Schuld daran, sondern die Natur, die die Südländer als Faulpelze, Dummköpfe, Verbrecher und Barbaren geschaffen hat.“ (Gramsci 1955, 9) Diesem Rassismus des bürgerlichen Nordens gegenüber den Kleinbauern und Landarbeitern des Südens stellte er die Möglichkeit einer „‘Hegemonie des Proletariats‘“ entgegen. Das Proletariat könne „in dem Maße zur führenden und herrschenden Klasse werden, wie es ihm gelingt, ein System von Klassenbündnissen zu schaffen, das ihm gestattet, die Mehrheit der werktätigen Bevölkerung gegen den Kapitalismus zu mobilisieren […], und dies bedeutet in Italien, unter den realen, in Italien bestehenden Klassenverhältnissen, in dem Maße, wie es ihm gelingt, die Zustimmung der breiten bäuerlichen Massen zu erlangen.“ (Gramsci 1955, 8) 

Hegemonie ist von Gramsci in den „Gefängnisheften“ zu einem umfassenderen Begriff ausgearbeitet worden. Er umfasst nun mehr als nur ein Bündnis von Arbeiterklasse und bäuerlicher Masse unter der Führung der ersteren. Der Begriff beinhaltet für Gramsci nun, dass zweierlei Arten von Hegemonie einander gegenüberstehen, die der bürgerlichen Klasse und die des Proletariats. Hegemonie wurde von der bürgerlichen Klasse als Herrschaftsform zunehmend seit etwa 1870 ausgebildet. Dies bedeutet, dass sie darauf verzichtet, lediglich ihr primitives ökonomisch-korporatives Interesse durchzusetzen und bereit und fähig ist, eine Vielzahl von Zugeständnissen an die Subalternen zu machen. Die Entstehung dieser neuartigen Herrschaftsstrategie der Hegemonie hält Gramsci offensichtlich für eine Rückwirkung des Kolonialismus auf die europäischen Gesellschaften, erläutert dies jedoch nicht näher. Diese kolonisierenden Staaten verlieren ihren ‚flüssigen‘ Charakter; Hegemonie bedeutet, dass sich ein weitläufiges System von zivilgesellschaftlichen Aktivitäten und Organisationen bildet: Neben den Massenparteien und Gewerkschaften mit Sport- und Gesangsvereinen, Wohnungsbau- und Konsumgenossenschaften entstehen zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften, eine Vielzahl von bürgerlichen Vereinigungen, die sich um die Moral der Frauen und der Familien, um soziale Sicherheit, Gesundheit oder rassische Reinheit sorgen, es entstehen wissenschaftliche Gesellschaften, Akademien und volksnahe Bildungseinrichtungen. Die Hegemonie der bürgerlichen Klasse erfasst aus Gramscis Sicht das gesamte Staatsleben, sie gestaltet damit die Gesellschaft vollständig nach ihren Gesichtspunkten der Lenkung des Produktionsapparats und den Erfordernissen der kapitalistischen Reichtumsproduktion um, sodass sie sich auf eigener Grundlage reproduzieren kann. Die Klassengegensätze werden nicht mehr in großen Konfrontationen ausgetragen, sondern gehen über in das, was er einen Stellungskrieg nennt, also eine Vielzahl von unterschiedlichen Konflikten und wechselnden Kräfteverhältnissen in den weitverzweigten Schützengräben der Zivilgesellschaft. Die Gesellschaft nimmt die Form eines sich selbst permanent revolutionierenden Organismus an, der von einem Gleichgewicht in ein anderes übergeht. In diesen Prozessen spielen diejenigen, die vom Land in die Städte zuwandern, durchaus eine wichtige Rolle, und stellen eine enorme Herausforderung für die Hegemonie dar, da nun mit immer neuen Gruppen von Migrant*innen soziale Kompromisse gefunden werden müssen, wenn es um die berufliche Ausbildung in der Industrie oder die »psycho-physische Anpassung an bestimmte Bedingungen der Arbeit, der Ernährung, der Wohnung, der Gewohnheiten usw. [geht], was nichts Angeborenes, ›Natürliches‹ ist, sondern erworben sein will« (Gramsci 1999, 2072). Zu diesen neuen städtischen und industrialisierten Gewohnheiten gehört die Organisation des Wissens und der Bildung ebenso wie eine Umarbeitung der Sexualität, des Umgangs mit der freien Zeit oder mit dem Alkohol. Für Gramsci besteht die Herausforderung der Hegemonie demnach darin, die fortwährend neu in die Industriegebiete einwandernde ländliche Bevölkerung für die Ziele der kommunistischen Arbeiterbewegung und Emanzipation zu gewinnen. Wenn es darum geht, den Alltagsverstand der Arbeiter*innen auf ein höheres intellektuelles Niveau zu heben, sodass sie in der Lage sind, Autonomie zu gewinnen, sich aus der bürgerlichen Hegemonie und der Abhängigkeit von traditionellen Intellektuellen (Priester) oder bürgerlichen Intellektuellen (Lehrer, Ingenieure, Kulturindustrie) herauszulösen und die Elemente einer eigenen Lebensweise zu entwickeln, dann muss der sich immer wieder erneuernden Ungleichzeitigkeit auch unter den Arbeiter*innen, die aus der Zuwanderung entsteht, hegemoniepolitisch Rechnung getragen werden. 

Gramsci war sich völlig im Klaren darüber, dass dies schwierig ist und die bürgerliche Hegemonie – also der Rassismus, die Bevölkerungspolitik, die Gliederung der Bevölkerung durch die Formen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung – im Vorteil ist. Dies verdeutlichen seine Überlegungen zum Problem des Intellektuellen. Aus seiner Sicht hat jede Klasse ihre Intellektuellen, und sie haben die Aufgabe, die Hegemonie einer Klasse zu organisieren, also ihre Denk-, Fühl- und Lebensweise. Die Subalternen sind allerdings von vornherein in einem Nachteil, denn aufgrund des Zwangs zur körperlichen Arbeit, aufgrund der kaum vorhandenen Möglichkeiten, über die Art und Weise gesellschaftlicher Arbeit und ihren Umfang zu disponieren, auch aufgrund der Tatsache, dass sie kaum über Produktionsmittel der intellektuellen Arbeit und Ressourcen wie Zeit, elaborierte Begriffe oder Kenntnisse verfügen, haben sie auch kaum die Möglichkeit, ihre eigenen Intellektuellen hervorzubringen, sondern sind darauf angewiesen, bürgerliche Intellektuelle zu gewinnen, die sich in ein organisch-repräsentatives Verhältnis zu den Subalternen begeben. Subalternität besteht unter anderem eben auch darin, die Welt, das Verhältnis zu ihr und zu sich selbst in einer Weise zu begreifen, die von einer anderen Klasse und ihren Intellektuellen vorgegeben werden. Gramsci zufolge geht es darum, sich aus dieser Subalternität herauszulösen und eine Abspaltung zu organisieren, denn alle Menschen sind ihrer Möglichkeit nach Intellektuelle, können also ihr eigenes Denken und Fühlen kritisch bearbeiten und gemeinsam mit anderen zu einer autonomen Weltauffassung fortentwickeln. Doch gerade Migrationsprozesse können dies aus Gramscis Sicht erschweren. Seine Überlegungen zur Migration waren vom Thema der Auswanderung aus den europäischen Ländern und vor allem aus Italien bestimmt. Die Funktion Italiens in der seinerzeitigen internationalen Arbeitsteilung sah er darin, Produzentin einer Arbeiterreserve für die ganze Welt zu sein. Dies verwies auf die Unfähigkeit der führenden Klasse, „einer Nation eine Stellung in der Welt und in der internationalen Arbeitsteilung zu geben; die Auswanderung ist eine Folge der Unfähigkeit der führenden Klasse, der Bevölkerung Arbeit zu geben, und nicht der nationalen Armut“ (Gramsci 1991a, 262). Die Bourgeoisie war nicht in der Lage, eine relativ homogene Gesellschaft, also eine Produktionsstruktur und Arbeitsteilung zu schaffen, in der die Funktionen relativ gleichzeitig waren und aufeinander verwiesen. Es wurde keine höhere nationale Einheit geschaffen, mit der Auswanderung der Arbeiter*innen trugen diese zur Steigerung des Mehrwerts bei den ausländischen Kapitalismen bei. Deswegen kam es nicht nur zu Arbeitslosigkeit, sondern auch zu einem Mangel an Lebensperspektiven. „Dass die Einführung und die Entwicklung des Kapitalismus in Italien nicht von einem nationalen Standpunkt erfolgte, sondern von beschränkten regionalen Standpunkten und von denen begrenzter Gruppen, und dass er vor seinen Aufgaben großteils versagt hat, womit er eine krankhafte Auswanderung, die nie wieder absorbiert worden ist und die immer notwendig blieb, ausgelöst und ganze Regionen ökonomisch ruiniert hat, ist völlig sicher. Die Auswanderung muss in der Tat einerseits als ein Phänomen absoluter Arbeitslosigkeit betrachtet werden und andererseits als Manifestation der Tatsache, dass das inländische Wirtschaftsregime keinen Lebensstandard garantierte, der dem internationalen in dem Maße nahegekommen wäre, dass die bereits beschäftigten Arbeiter die mit dem Verlassen des eigenen Landes verbundenen Risiken und Opfer nicht vorgezogen hätten.“ (Gramsci 1998, 1931) Dabei beobachtete er Unterschiede der verschiedenen Formen der Auswanderung: Während er bei der deutschen Auswanderung vermutete, dass auch organisierende Elemente der Industrie mit auswanderten, sah er die italienische Auswanderung kritisch: „In Italien wanderte nur die Arbeitermasse aus, die industriell wie geistig noch überwiegend ungeformt war. Die entsprechenden intellektuellen Elemente blieben da, auch sie ungeformt, wurden also in keiner Weise durch den Industrialismus und seine Zivilisation verändert; es kam zu einer außerordentlichen Arbeitslosigkeit von Intellektuellen, die eine ganze Reihe von Korruptions- sowie politischen und moralischen Zerfallserscheinungen mit nicht unbeträchtlichen ökonomischen Rückwirkungen hervorbrachte.“ (Gramsci 1991, 187)

Einige an Gramsci anschließende Überlegungen

Die Andeutungen von Gramsci zu Migration, Bevölkerungszusammensetzung und Hegemonie haben große Bedeutung, wenn wir nach dem Zusammenhang von Herrschaft in migrantischen Gesellschaften fragen. Einige Gesichtspunkte möchte ich zum Schluss hervorheben. 

a) Rassismus ist ein Herrschaftsverhältnis. Es trägt dazu bei, eine doppelte Subalternität zu reproduzieren. Die Subalternen, die zum herrschenden Kollektiv zählen, werden mittels der nationalistischen und rassistischen Intellektuellen der Hegemonie des Bürgertums unterworfen. Es wird die reale gesellschaftliche Spaltung in eine andere imaginäre Spaltungslinie verschoben und dort absorbiert. Die intellektuellen Kompetenzen, das Denken und Fühlen der Subalternen werden nicht fortentwickelt; sie werden in den Gegensatz von Elite und Volk hineingezogen und populistisch verdummt, indem ideologische Muster geschaffen werden, in denen Gefühle wie Angst, Wut, Hass verselbständigt, erzeugt, intensiviert und rationale Momente sowie vernünftige Einsicht gegeneinander gestellt werden. Die bürgerlichen Intellektuellen versuchen eine Repräsentationsbeziehung zu den Unteren herstellen, indem sie paternalistisch behaupten, ihre Sorgen ernst zu nehmen. Damit werden die Subalternen daran gehindert, sich intellektuell den Stand der Verhältnisse und der Zusammenhänge zu erschließen und anzueignen. Gleichzeitig werden sie gespalten in imaginäre Einheiten: die Einheimischen, die früheren und die neu ankommenden Migrant*innen. Der globalisierte gesellschaftliche Gesamtarbeiter wird aufgespalten, einzelne seiner Teile werden nationalistisch und rassistisch anderen übergeordnet und erhalten mitunter korporative Vorteile. Mit einer Deutung der Konkurrenz auf den Arbeitsmärkten und in den Betrieben werden die Lohnabhängigen entlang der Linie der Einheimischen und der Zugewanderten aufeinander gehetzt – was bis zur Gewalt von Gewerkschaftsmitgliedern gegen migrantische Kolleg*innen reichen kann, die für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen (vgl. Bojadžijev 2008). Die rassistische Unterordnung von Migrant*innen und deren prekäre und häufig illegalisierte Lebenslage dient dem Druck auf die Löhne und die Arbeitsverhältnisse sowie einer Disziplinierung der Arbeitsprozesse oder des Alltags der Subalternen – die sich wechselseitig beobachten und einschüchtern anstatt dass sie sich unbefangen als Migrant*innen oder Kolleg*innen aufeinander beziehen können: die einen, weil sie „Einwanderung in die Sozialsysteme“, Gewalt, sexuelle Übergriffe oder Terrorismus befürchten, die anderen, weil sie verunsichert sind hinsichtlich des richtigen Verhaltens, Aggression oder Rassismus befürchten und Benachteiligung für sich und ihre Familien erfahren. 

Die Konstruktionen einer imaginären Bevölkerungszusammensetzung muss von der Linken bekämpft werden. Deutschland hat rund 19,3 Millionen Einwander*innen. In manchen deutschen Großstädten liegt ihr Anteil deutlich über dem Durchschnitt (Frankfurt 49 Prozent, Augsburg 46 Prozent); in ihnen hat die Mehrheit der Kinder einen migrantischen Hintergrund (Frankfurt 75 Prozent, Augsburg 62 Prozent, München 58 Prozent). Die Mehrheit der Einwander*innen kommt aus europäischen Ländern (Polen, Russland, Italien, Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Österreich). Etwas mehr als die Hälfte haben die deutsche Staatsangehörigkeit. Die Migrant*innen, die neu kommen, treffen ihrerseits schon auf eine multinational zusammengesetzte Arbeiterklasse. Angesichts des Mangels an Facharbeitskräften besteht von Seiten der Wirtschaft Bedarf an Migration, ohne migrantische Arbeit ist mittelfristig die ökonomische und soziale Reproduktion in Deutschland selbst bedroht. Die Linke muss diese migrantische Zusammensetzung der Bevölkerung klassenpolitisch ernstnehmen. Viele der Menschen mit migrantischem Hintergrund gehören zur Arbeiterklasse, sind aber im Selbstverständnis der Linken kaum präsent. Entsprechend muss die Linke die Gruppen und Interessen derer, die in Deutschland leben, ebenso vertreten wie die derjenigen, die zuwandern und verbindende sowie hegemoniale Praktiken entwickeln. 

Vor dem Hintergrund dieser Zahlen und der unterschiedlichen Herkünfte der Migrant*innen ist auch die Rede von der Integration fragwürdig. Wenn von ihnen erwartet wird, dass sie sich integrieren, so muss notwendigerweise unklar bleiben, „in was“ hinein eine Integration überhaupt stattfinden kann, da die konkrete lokale Gesellschaft, in der viele Migrant*innen leben, eben komplex zusammengesetzt ist. Zudem handelt es sich beim Ansinnen der Integration immer um einen Druck und Zwang, der von einer Seite auf andere ausgeübt wird. Dies geht mit Rassismus einher, denn es steht gerade nicht zur Diskussion, nach welchen Gesichtspunkten das gemeinsame Leben organisiert wird. Auch wenn gegenwärtig insbesondere Menschen mit islamischer Glaubenszugehörigkeit zum Objekt des Rassismus werden, so sollte nicht außer Betracht gelassen werden, dass es weiterhin antisemitischen Rassismus gibt und Menschen, die als Slawen angesehen werden, in der deutschen rassistischen Tradition als minderwertig betrachtet werden und entsprechende Stereotype verbreitet sind. Die Objekte des Rassismus sind also je nach Konjunktur austauschbar. Integration ist insgesamt ein fragwürdiges Ziel, denn es ist die Bemühung, in einer Klassengesellschaft mit all ihren Spaltungslinien einen Zusammenhalt herzustellen, der am Ende nicht mehr als eine ideologische Praxis sein kann und die Subalternen in stärkerem Maße bindet als die Herrschenden (vgl. Demirović 2015). 

Rassismus und Nationalismus leugnen heuchlerisch auch die nationalen Grenzen überschreitende Klassensolidarität des Bürgertums. Denn während Migrant*innen Leib und Leben riskieren oder in den Lagern Nordafrikas, Südosteuropas oder Italiens quälende Monate und Jahre an Lebenszeit verlieren oder der Sklavenarbeit mit extremer Ausbeutung unterworfen sind, gegen die sie sich aufgrund des Rassismus und der Illegalisierung kaum wehren können, verdienen Zypern, Malta oder Portugal und andere EU-Staaten Milliarden Euro damit, die EU-Staatsbürgerschaft an reiche Russen, Chinesen oder Bürger arabischer oder afrikanischer Staaten zu verkaufen, werden Gelder von Potentaten in den Banken der EU gehortet und angelegt, Investitionen und Immobilienkäufe ermöglicht, mit ihnen Exportgeschäfte getätigt oder die Steuerflucht subventioniert. Aber noch weiter: Die bürgerliche Klasse profitiert auch von der illegalen Immigration, an deren Organisation sie unmittelbar selbst beteiligt ist: nicht nur durch Menschenhandel, sondern auch durch die Ausbeutung einer Vielzahl von illegalisierten Arbeitskräften, die direkt durch Unternehmen, staatliche Agenturen oder private Haushalte an der formellen Gesetzgebung vorbei angeworben und beschäftigt werden (vgl. Karakayali 2008; Piñeiro 2015). 

b) Gramsci lenkt die Aufmerksamkeit darauf, dass Migration in hohem Maße ökonomisch ist und aus einer Ungleichzeitigkeit und Disproportionalität der Bevölkerungszusammensetzung und damit der gesellschaftlichen Arbeitsteilung resultiert. Die gegenwärtige Diskussion in Deutschland und der EU konzentriert sich auf Verfolgung aus politischen oder religiösen Gründen oder die Bedrohung durch militärische Konflikte. Doch es geht eben auch und vor allem um wirtschaftliche Gesichtspunkte: Menschen wird die Grundlage ihrer Subsistenz entzogen oder sie erwarten sich von der Migration eine Verbesserung der Lebensperspektiven für sich und ihre Kinder. „Wirtschaftsflucht“ wird als etwas Anrüchiges dargestellt – und das in einer Gesellschaft, in der es immer um Gewinn, Wirtschaftswachstum etc. geht. Wirtschaftsflucht meint etwas sehr Basales. Juden in Deutschland und Österreich wurde während des Nationalsozialismus die bürgerliche Grundlage entzogen: Sie erhielten Berufsverbot, ihre Geschäfte wurden bedroht, Vermögen eingezogen oder eingefroren, sie durften öffentliche Einrichtungen nicht mehr benutzen. Die Rede davon, dass es sich bei Migrant*innen nur um „Wirtschaftsflüchtlinge“ handele, ist verlogen. Denn es ist eigentlich selbstverständlich, dass Menschen abwandern, wenn sie keine Möglichkeit der Arbeit und Selbsterhaltung dort finden, wo sie leben. Dies dürfte eines der Hauptmotive für viele Spätaussiedler oder Angehörige von EU-Staaten sein, zu migrieren. Es geht mit Blick auf die afrikanischen Herkunftsländer vieler Flüchtlinge heute nicht darum, dort immer noch weiter entwicklungspolitisch einzugreifen und staatliche Gelder zu geben, weil dies angeblich effektiver sei als die Flüchtlinge in Deutschland zu unterstützen. Vielmehr geht es darum, die kapitalistischen Mechanismen in Deutschland und der EU zu ändern, die zu einer systematischen Ausplünderung dieser Länder führen und die Herausbildung einer organischen Arbeitsteilung stören. Dazu gehört, nicht nur mehr Import aus afrikanischen Ländern zu ermöglichen, sondern die Ausbeutung von Rohstoffen und Land einzustellen, sodass die Rentenökonomie und Korruption in diesen Ländern bekämpft werden kann, sowie die Exporte aus der EU kritisch unter dem Gesichtspunkt zu prüfen, ob sie die Ökonomien jener Länder zerstören. Schließlich sind auch die migrationspolitischen Überlegungen und Vorschläge zu berücksichtigen, die den afrikanischen Gesellschaften selbst angestellt werden. Die Geldüberweisungen von Migrant*innen sind ein wichtiger ökonomischer Faktor, ebenso Bildung und Wissen, das erworben wird, die kulturellen Kenntnisse – die im Weiteren den Beziehungen der Gesellschaften dienlich sein können. 

c) Von migrationspolitisch und antirassistisch engagierten Gruppen gibt es heute in Europa eine berechtigte massive Kritik am Grenzregime der EU und der Einzelstaaten, weil es Menschenrechte und völkerrechtliche Verträge verletzt und Menschen unsichere Migrationswege aussetzt. Viele Menschen waren und sind in der Flüchtlingshilfe und in den Willkommensinitiativen engagiert und helfen in vielfacher Hinsicht. Doch verhalten sich viele denen gegenüber, die dann als Migrant*innen in der Gesellschaft leben, eher liberal und – in einem urbanen Sinn – indifferent, so dass alle jeweils ihre Lebensweise praktizieren. Die Integration wird mehr oder weniger den gleichsam stummen Prozessen des Arbeitsmarkts und dem Staat, vor allem den Bildungsinstitutionen, überlassen. Die Migrant*innen werden kulturalisiert und auf ihre Herkunft reduziert. Sie selbst beziehen sich deswegen offensichtlich auf traditionelle kulturelle Gewohnheiten und entsprechende traditionelle Intellektuelle, die sie in ihrer Subalternität und in hilflosem Protest bestätigen. Gramsci weist darauf hin, dass die Frage der Migration auch eine der Hegemonie ist. Damit spricht er die Frage an, welche Lebensweise und welche Konformismen die Migrant*innen praktizieren werden. Die Organisation dieser Lebensweise sollte nicht der rassistischen Rechten, dem vielfach sozialrassistischen Bürgertum oder den traditionellen Migrationsintellektuellen und ihren aus den Herkunftsstaaten betriebenen kulturellen und religiösen Apparaten überlassen bleiben. Hegemonie würde demgegenüber einschließen, von der Linken her eine (selbst)kritische Lebensweise mit den Migrant*innen zusammen zu entwickeln und in der Folge auch gemeinsam neue Kategorien von Intellektuellen herauszubilden – was einschließt, mit allen jenen migrantischen Intellektuellen, die schon längst in Berlin, Paris oder Wien leben, als integrale intellektuelle Elemente einer neuen Kultur in die Diskussion zu kommen oder bestehende Diskussionen zu vertiefen. 

d) In der Diskussion über Migration und insbesondere im Kontext der Sammlungsbewegung „aufstehen“ wird kritisiert, dass die Linke sich zu einem erheblichen Teil für identitätspolitische, nicht jedoch für soziale Fragen interessiere. Es wird angenommen, dass die Mehrheit der politischen Parteien in Deutschland eine kosmopolitische Orientierung repräsentierten, während die kommunitäre Orientierung lediglich von der AfD vertreten werde und sich daraus ein Repräsentationsdefizit ergebe für diejenigen, die sowohl kommunitär als auch offen für Linke seien. Angenommen wird, dass die Sammlungsbewegung dieses Defizit füllen und diejenigen als Wähler*innen (wieder)gewinnen könnte, die nicht wählen, früher einmal die Linke gewählt haben oder die AfD aus kommunitaristischen Gründen wählen würden. Es lässt sich fragen, wie plausibel diese Annahme ist, denn immerhin hatte die Partei Die Grünen prominente Intellektuelle wie Axel Honneth, die für kommunitaristische Positionen eingetreten sind. Aber dieser gab auch zu verstehen, dass es eines Strukturwandels der Politik durch eine personelle und thematische Transzendierung nationaler Grenzen und die Bildung transnationaler Aktionszentren bedürfe (vgl. Frankfurter Rundschau, 15.9.2009). Er konstatierte seinerzeit, dass keine der Parteien mit Ausnahme der Grünen über ein Konzept der sozialen Gerechtigkeit verfüge, das mehrdimensional und komplex genug sei, Chancengleichheit, Angewiesenheit auf Arbeit, Generationenbenachteiligung und ökologische Rücksichtnahme in ein vernünftiges Verhältnis zu bringen. Eine kommunitaristische Orientierung scheint nicht die Lösung zu sein. Mir geht es hier jedoch nicht um diesen Aspekt, sondern um den Kosmopolitismus, der für Gramsci eine zentrale Frage seiner Hegemonie- und Intellektuellentheorie war. Er diskutierte diese Frage mit Blick darauf, in welcher Weise Intellektuelle in der Lage sind, sich mit den Subalternen zu verbinden, diese zu organisieren und in ihrem Namen anerkanntermaßen zu sprechen. Kosmopolitismus wird von ihm überwiegend kritisch verwendet, weil er vor dem Hintergrund der italienischen Geschichte die These vertritt, dass die bürgerlichen Intellektuelle Italiens seit dem Mittelalter nicht in der Lage gewesen seien, sich mit den Subalternen zu verbinden und diese zu organisieren. Die italienischen Intellektuellen hätten über lange Zeit und in der Tradition der Intellektuellen der katholischen Kirche (das Papsttum in Rom, das Latein in Distanz zur Volkssprache) eine vor allem europäische Funktion wahrgenommen, als Humanisten, als Admirale, Wissenschaftler, Architekten, als Baumeister von Festungen, als Juristen des kanonischen und römischen Rechts, Künstler und Musiker. Das Denken der italienischen Intellektuellen sei universalistisch, abstrakt und allgemein und den Subalternen gegenüber äußerlich geblieben. Sie seien deswegen nicht in der Lage gewesen, zur Herausbildung eines modernen Nationalstaats beizutragen, vielmehr seien viele ausgewandert, hätten mit ihren Fähigkeiten und Techniken der Führung andere Staaten bereichert und damit beigetragen, eine nationale Zivilisation zu schaffen und die führenden Klassen zu festigen. Gramsci fragt sich offensichtlich, inwieweit der Kosmopolitismus (oder Internationalismus) ein Moment der Philosophie der Praxis ist, da er die Gefahr beinhaltet, keine Verbindung zu den konkreten Gruppen der Subalternen herstellen zu können. So deutet er kritisch an, dass Trotzki eher ein kosmopolitisch orientierter Kommunist gewesen sei, der mit seiner Konzeption der permanenten Revolution, also in Gramscis Begriff Bewegungskrieg, mit den konkreten nationalen Prozessen Russlands und mit den Kämpfen in der Zivilgesellschaft und den Herausforderungen eines Stellungskriegs wenig verbunden war. Gramsci arbeitet jedoch heraus, dass der Kosmopolitismus nicht nur abstrakt war, sondern im 18. Jahrhundert zur Hegemonie Frankreichs und zur expansiven Wirkung der Revolution beitrug – und durchaus eine konkrete historische Funktion in der Organisation einer organischen kollektiven Praxis annehmen konnte. Offensichtlich hält er die subalternen Klassen hinsichtlich des Programms und der historischen Bestimmung für kosmopolitisch, nicht jedoch in den Gewohnheiten (im Unterschied zu den herrschenden Klassen) (vgl. Gramsci 1992, 810). Er argumentiert an einer entscheidenden Stelle gegen jene italienischen Intellektuellen des Risorgimento, die den Mythos eines wiedergeborenen Italiens in einer neuen europäischen und internationalen Kosmopolis pflegen; er hält das für Rhetorik. Aus seiner Sicht muss die italienische Tradition des Kosmopolitismus sich im arbeitenden Volk fortsetzen. Aus nationalen Gründen seien die Subalternen am Internationalismus interessiert. „Daran mitzuwirken, die Welt ökonomisch auf einheitliche Weise zu rekonstruieren, liegt in der Tradition der italienischen Geschichte und des italienischen Volkes, nicht um sie zu beherrschen und sich die Früchte fremder Arbeit anzueignen, sondern um zu existieren oder sich zu entwickeln. Der Nationalismus ist ein anachronistischer Auswuchs in der italienischen Geschichte, von Leuten, die den Kopf nach hinten gewandt haben wie die Verdammten bei Dante.“ (Gramsci 1993, 1174) Es spricht alles dafür, im Anschluss an die Überlegung von Gramsci die falsche Problematik von Kommunitarismus und Kosmopolitismus hinter sich zu lassen. Der Kommunitarismus, die Heimat und der lokale Patriotismus, den linke Intellektuelle in der vermeintlichen Sorge um die wahren Interessen der „Abgehängten“ und Prekären verständnisvoll propagieren, ist eben eine Praxis dieser Intellektuellen, also Professor*innen, Politiker*innen, Theatermacher*innen oder Publizist*innen, die wenig oder gar nichts mit den Subalternen zu tun haben und auf die sie sich vor allem plebiszitär vermittelt über die Apparate des Überbaus beziehen, vor allem die Medien. Das führt zu rhetorischen und kurzfristigen Erfolgen, die von bürgerlicher Macht ermöglicht wird; dies kann erheblich irritieren, jedoch nicht zu einer Organisation der subalternen Klassen beitragen. Gramsci gibt Argumente dafür, sich auch die Praktiken der Kosmopoliten konkret anzusehen: Sie können in weit fortgeschrittenen Formen der kapitalistischen Arbeitsteilung und Ausbeutung unterworfen sein: in der Plattform- und Gigökonomie, in der Logistik, in den neuen Medien, in Entwicklung und Dienstleistungen für digitale Technologien, in E-Commerce. In solchen Fällen bedarf es neuer organischer Praktiken, die in der Lage sind, der hohen Ungleichzeitigkeit der Arbeits- und Ausbeutungsverhältnisse sowie der Lebensweise gerecht zu werden. 

e) Von dem US-Ökonomen Galbraith wurde jüngst das Recht auf Nicht-Wanderung gefordert. Dabei dürfte es sich nicht allein um ein formelles Recht handeln. Vielmehr geht es um das, was Gramsci eben im Sinn hat, wenn er von einer rationalen Proportion der Bevölkerungszusammensetzung spricht. Dies bedeutet, dass Menschen aufgrund einer entsprechenden gesellschaftlichen Arbeitsteilung keine Notwendigkeit sehen, migrieren zu müssen. Für die Gesellschaft in den OECD-Staaten wäre eine Reorganisation der Proportionen der Bevölkerung folgenreich, die Gliederung dieser Gesellschaften müsste weitgehend umgebaut werden. Denn viele Wirtschaftsabläufe ergeben sich deswegen, weil globale Ressourcen vernutzt oder Produkte exportiert werden, die an anderen Orten Menschen aus der Produktion freisetzen und ihnen die Subsistenz entziehen. Diese Probleme einer disparitären Entwicklung der Ökonomie und Gesellschaft und heterogen-ungleichzeitigen Arbeitsteilung wird mit den industriell-technologischen Fortschritten weiter zunehmen: Ein immer kleinerer Teil der Bevölkerung wird mit den Mitteln einer kapitalintensiven Produktion einen immer größeren stofflichen Reichtum erzeugen. Viele Menschen – und das gilt auch für viele migrantische und einheimische Arbeitskräfte – werden nicht mehr benötigt oder haben für die Arbeits- und Bildungsprozesse die notwendigen psycho-physisch-intellektuellen Voraussetzungen nicht und üben niedrig qualifizierte Tätigkeiten auf unterem Einkommens- und Lebensniveau aus. Die kapitalistische Ökonomie tendiert dazu, in großem Umfang ‚Überflüssige‘ zu erzeugen, die nicht einmal mehr damit rechnen können, als Mitglieder einer industriellen Reservearmee irgendwann einmal in den Produktionskreislauf einbezogen zu werden. Die Gewinne an Produktivität und stofflichem Reichtum müssen als Reichtum an alle verteilt werden. 

Aus Gramscis Sicht geht es um die Herstellung einer regulierten, gleichzeitigen Produktions- und Lebensweise mit einer neuen Form von rationaler Bevölkerungszusammensetzung. Dies erscheint mir ein wichtiger Aspekt seiner Überlegung auch für die Frage der Migration zu sein. Denn unter emanzipierten Lebensbedingungen werden die rationale Bevölkerungszusammensetzung und die Logik der Migration anders als die heutige beschaffen sein. Menschen werden ein gemeinsames Interesse daran haben, gleichmäßige Entwicklungen und Prozesse der globalen Arbeitsteilung rational zu organisieren und aufrecht zu erhalten. Die Notwendigkeit der Abwanderung stellt sich nicht, sondern ist eine Praxis der Freiheit, die unter Bedingungen einer global nachhaltigen, kontinuierlichen und koordinierten Reproduktion stattfinden kann. 

f) Für Nordwestdeutschland oder die Niederlande wird erwartet, dass mit dem Anstieg des Meeresspiegels aufgrund der Klimaveränderungen mehrere Hunderttausend, wenn nicht Millionen Menschen in der zweiten Jahrhunderthälfte umgesiedelt werden müssen. Vermutlich werden sich die Küstenlinien deutlich verschieben. Die großen Häfen, die Logistik, die Versorgung weiter Teile der europäischen Bevölkerung könnten gefährdet sein. Die Nahrungs- und Wasserversorgung könnte auch in Mitteleuropa durch den Klimawandel stark beeinträchtigt werden. Slavoj Žižek schrieb jüngst, dass es etwas Beruhigendes habe, wenn wir behaupteten, wir seien schuld und dann Kleinigkeiten hier und da änderten. Doch wirklich schwierig sei es zu akzeptieren, „dass wir auch nur machtlose Beobachter sind, die sitzen und schauen, was ihr Schicksal ist“ (NZZ, 14.9.2017). Er schlussfolgert, dass lokale und globale Veränderungen in der Umwelt zu noch nie da gewesenen sozialen Veränderungen führen könnten. „Sind wir – wären wir – in der Lage, sie zu meistern? Migration heißt das Megathema nicht der Gegenwart, sondern der Zukunft.“ Žižek will offensichtlich vor Kommendem warnen, doch diese Zukunft ist schon längst eingetreten. Um mit Gramsci zu sprechen: Die Menschen stellen sich nur die Probleme, für die sie Lösungen bereits haben. Die Lösungen sind vorhanden, die Linke muss die Kräfte zusammenbringen, die die Probleme bewältigen können. Aber dies wird nur gelingen, wenn wir uns klarmachen, dass es sich nicht um uns auf der einen Seite, die Menschen hier, und die Probleme da draußen, die Migrant*innen dort, auf der anderen Seite handelt. Die Gesellschaften selbst sind gespalten, es geht um die, die herrschen und um die, die beherrscht werden. Die Linke hat die Aufgabe, in ihrer internationalistischen Perspektive für die globalen Lösungen einzutreten. Längst wissen alle, dass die herrschende Lebensweise radikal geändert und den mächtigen Interessen die Grundlage entzogen werden muss, die die Vergangenheit und die Kontinuität fortschreiben wollen. Ein weiteres Mal handelt es sich um eine Erfahrung, die Gramsci beschrieben hat: Die Herrschenden wissen, dass sich alles ändern müsste, doch sie wollen ihre Machtstellung nicht aufgeben, und deswegen können sie auch nichts lösen. Der autoritäre Populismus, der Rassismus, mit dem wir es verstärkt seit einigen Jahren zu tun haben, ist jene Strategie der Mächtigen, die glauben machen wollen, es müsse sich nichts Grundsätzliches ändern, alle Warnungen seien nur Fake, die Krisen nur Ideologie, wir könnten zum Land unserer Väter, zu unserer alten Identität und Stärke zurückkehren. Es sind hysterische, panische, korrupte, dumme und primitive Herrschende und ihre Intellektuellen, die individualistische Strategien zu ihrem eigenen Vorteil verfolgen. Demgegenüber geht es heute darum, in einer umfassend kritischen Situation eine neue Intellektualität und Rationalität sowie die transformatorischen Praktiken und kollektiven Gewohnheiten auszubilden, die die Probleme ermöglichen zu bewältigen.