Die Erdölökonomien Westasiens haben sich gut geschlagen, und gemessen am globalen Durchschnitt schneiden auch Südafrika und Brasilien gut ab. Den 2008 einsetzenden Abschwung, bei dem es sich um die erste wirklich globale Rezession handelte, haben die BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) deutlich besser gemeistert als die großen Wirtschaften der NATO-Länder und Japans. Der Süden gewinnt also für den globalen Kapitalismus zunehmend an Bedeutung. Im Norden ansässige transnationale Konzerne, die Regierungen, die sie unterstützen, und jene Eliten, die mittlerweile einsehen, dass die Wahrung ihres Wohlstands die kapitalistische Globalisierung voraussetzt, brauchen die sich ausweitenden Märkte, die eine wachsende ›globale Mittelschicht‹ bereitstellt. Mit der teilweisen Ausnahme der USA, Kanadas und Australiens, bei denen es sich immer noch um Einwandergesellschaften handelt, ist es nun der globale Süden, der den Staffelstab der Mittelschichtsexpansion übernimmt. Gleichzeitig zählen Südafrika und Brasilien zu den ungleichsten Gesellschaften der Welt. Chinas Gini-Koeffizient ist beständig angestiegen, wie auch der Russlands. Und das indische Wirtschaftswachstum ist zumindest während der letzten fünf Jahrzehnte von zunehmender Einkommens- und Wohlstandsungleichheit geprägt gewesen. Ein Trend, der sich seit den neoliberalen Reformen von 1991 noch verstärkt hat. Es überrascht daher kaum, dass die Zahl der Dollar-Millionäre und -Milliardäre im Süden rapide steigt. Doch damit nicht genug: Brasilien, Indien und China sind auch wesentlich für das land grabbing in Afrika mitverantwortlich. Und Südafrika dient eher als Anlaufhafen für ausländisches Kapital, das dem Kontinent seine Rohstoffe zu entziehen sucht, denn als Bollwerk gegen solche Beutezüge. Tatsächlich beteiligt sich das Land auch selbst an solchen Aktivitäten. So viel also zur Vorstellung, die BRICS-Staaten seien die ›Vorhut‹ des Kampfes gegen die Ausbeutung Afrikas durch den Norden. Darüber hinaus gibt es gute Gründe, an der zukünftigen Wirtschaftsleistung der aufstrebenden Staaten zu zweifeln. Zurzeit liegen dort die Pro-Kopf-Einkommen weit hinter denen der OECD-Staaten. Nur Südkorea ist in den OECD-Klub aufgenommen worden. Tatsächlich ist es aufgrund des erforderlichen Ressourcenund Energieverbrauchs weder ökologisch noch materiell möglich, das Pro-Kopf-Einkommen der BRICS-Staaten und anderer ›Aufsteiger‹ auch nur annähernd dem der wohlhabendsten OECD-Staaten anzugleichen. Das bedeutet, dass das vergleichsweise niedrige Einkommensniveau der aufstrebenden Staaten auch in Zukunft massenhaft Verelendung und Unmut hervorbringen wird. Das ist heute umso mehr der Fall, da es die Revolutionierung der Kommunikationstechnologie den Armen ermöglicht zu erkennen, wie entbehrungsreich sie im Vergleich zu den Wohlhabenden ihrer jeweiligen Gesellschaft leben. Es war die relative Unzufriedenheit, die das sowjetische System auf verhängnisvolle Weise unterminierte, und nicht etwa absoluter wirtschaftlicher Mangel. Im Süden werden aller Wahrscheinlichkeit nach sowohl relative Benachteiligung als auch absolute Verelendung weit verbreitet bleiben. Beides wird Nährboden sein für jene Wut auf die Eliten, die sich in jüngerer Zeit etwa im ›arabischen Frühling‹ Bahn gebrochen hat. In Westeuropa war mit der kapitalistischen Modernisierung die Entstehung einer gewerkschaftlich organisierten Arbeiterklasse verbunden gewesen. Es ist unwahrscheinlich, dass die BRICS-Staaten oder gar andere Staaten des globalen Südens auch nur den vergleichsweise niedrigen gewerkschaftlichen Organisationsgrad Nordamerikas und Japans erreichen werden. So werden die objektiven Bedingungen für eskalierende Arbeiterunruhen im globalen Süden geschaffen. An Bedeutung gewinnen werden basisdemokratische Organisationen in den Slums und lokalen Communities, und nicht etwa nur an den Arbeitsplätzen. Um in sich differenzierte Formen einheitlichen Handels zu ermöglichen, wird es dringend nötig sein, sich einer Vielzahl von Problemen zu stellen, die mit Ethnizität, Gender und Qualifikationsgefällen verbunden sind. Urbane Kämpfe um das Recht auf Stadt werden zunehmen. Angesichts des Fortbestands der Bauernschaft in weiten Teilen des Südens werden aber auch die Land- und ›Agrarfrage‹ Schlüsselprobleme bleiben.
Das Quintett und die Rolle der USA
Der Aufstieg einzelner Staaten der Südens, der wirtschaftliche Aufschwung in Ost- und Südostasien sowie die Entstehung von BRICS, IBSA1 , BASIC2 und den G20 haben keine ernstzunehmende Verschiebung der weltweiten Machtverhältnisse nach sich gezogen. Es bildet sich eher ein informelles Kollektiv heraus. Vermutlich wird dies ein Quintett sein, bestehend aus jenen Mächten, denen aufgrund ihrer demografischen, wirtschaftlichen und militärischen Bedeutung die Hauptverantwortung für die Stabilisierung der kapitalistischen Weltordnung zukommen wird: die USA, die EU, Russland, China und Indien. Allen Behauptungen zum Trotz, der Aufstieg des Südens kündige eine dramatische globale Machtverschiebung an, ist die Entstehung dieses Quintetts das wahrscheinlichste Szenario. Trotz ihres relativen (nicht etwa absoluten) Niedergangs werden die USA darin die wichtigste koordinierende und vermittelnde Kraft bleiben. Die peripheren Großmächte mögen zwar bestrebt sein, sich aufeinander zuzubewegen und Bündnisse zu schließen, von denen die USA ausgeschlossen sind. Erste Priorität hat für sie jedoch ihr jeweiliges bilaterales Verhältnis zu den USA. Letztere ziehen aus diesem Arrangement beträchtlichen Nutzen, und sie werden alles tun, damit dies so lange wie möglich so bleibt. Es wird keinen kollektiven Hegemon und auch keine einzelne Macht geben, die die Rolle der USA übernimmt: Die Behauptungen, China sei der neue Hegemon oder Indien eine nahezu gleichrangige Macht, sind nicht haltbar. Die lockeren Bündnisse der BRICSStaaten bieten auch keine wirksame Alternative oder Ergänzung zum Quintett. Aus dem Kontext weltweit eskalierender wirtschaftlicher, sozialer, politischer und ökologischer Probleme folgt, dass das Quintett seiner Aufgabe, als stabilisierende Kraft zu wirken, aller Wahrscheinlichkeit nach nicht gerecht werden wird. Eine barbarischere Weltordnung zeichnet sich ab, was die Überwindung des Kapitalismus umso dringlicher macht. Dies wird zu einem Problem, mit dem sich selbst fortschrittlich denkende Menschen (noch) ernsthafter beschäftigen müssen als bisher. Gemessen an der Zahl von Konzernen, die zu den kapitalstärksten 500 gehören, liegt China vor allen anderen Staaten des Südens, gleichzeitig aber auch immer noch weit hinter den USA. Brasilien und Indien hatten Mitte 2013 jeweils acht Konzerne in der Liste der obersten 500, China 89. Die entsprechenden Zahlen für Japan, Deutschland und die USA lauten 62, 30 und 132. Südafrikanische Konzerne tauchen in der Aufstellung überhaupt nicht auf. Es ist außerdem wichtig, das Ausmaß der in einem Land getätigten internationalen Investitionen zu berücksichtigen, um dessen finanzwirtschaftliche Verwundbarkeit einschätzen zu können. Die entsprechenden Zahlen legen den Schluss nahe, dass sich die USA im Vergleich zu China in einer extrem anfälligen Lage befinden. Sicherlich liegt hier langfristig eine Schwäche der USA. Kurz- und mittelfristig ausschlaggebend ist jedoch nicht das Ausmaß der Schulden oder Überschussreserven, sondern die Währung, in der diese notiert sind. China hält seine Reserven in Form von US-Staatsanleihen, deren Zinsen viel niedriger sind als die für Kredite, die zur Begleichung von Auslandsschulden aufgenommen werden. Der Euro, der Yen und vor allem der US-Dollar sind die Weltwährungen und werden es auf absehbare Zeit bleiben. Und es sind die USA, die mehr als jedes andere Land Einfluss auf die Währungsverhältnisse und Zinssätze ausüben, wodurch sie in der Lage sind, die Ausgleichung ihres anhaltenden Zahlungsbilanzdefizits zu vermeiden. Dennoch lässt sich mit einiger Sicherheit sagen, dass China die einzige Wirtschaftsmacht des globalen Südens ist, die darauf hoffen kann, ein ernstzunehmender wirtschaftlicher Rivale der USA zu werden. In militärischer und kultureller Hinsicht ist China den USA jedoch unterlegen. Um Hegemonie auszuüben, muss man die Fähigkeit zur Gewaltanwendung mit der Herstellung von Zustimmung verbinden. Letztere setzt voraus, dass man über eine gewisse Anziehungskraft verfügt, also über eine Gesellschaft und über Werte, die andere Länder und Bevölkerungen, ob zu Recht oder zu Unrecht, nachahmen wollen. Doch wie viele Staaten mit ihren herrschenden und Mittelschichten wären gern Russland, China oder Indien ähnlicher anstatt den USA?
Die nächsten Schritte
An welchen Punkten des globalen Systems können fortschrittlich denkende Menschen nun ansetzen? Zunächst einmal sollten wir uns keine Illusionen darüber erlauben, dass die aufstrebenden Länder des globalen Südens den erhofften Ausgangspunkt von Widerstand darstellen werden. BRICS, IBSA und BASIC sind Bündnisse, die danach streben, ihren Mitgliedsstaaten günstigere Positionen innerhalb der bestehenden globalen Herrschaftsinstitutionen zu sichern. Käme es aber zu einer ernsthaften Schwächung der US-amerikanischen Vormachtstellung, wäre es möglich, dass die Staaten des Südens einen größeren Gewinn als bisher darin erkennen würden, stärker miteinander zu kooperieren und fortschrittlichere Wirtschaftsmodelle zu erkunden. Die Region, die sich nicht nur durch den massivsten Widerstand gegen neoliberale Entwicklungsmodelle auszeichnet, sondern auch bereits alternative Wege geht (wie zaghaft und unsicher auch immer), ist Lateinamerika. Allen Schwierigkeiten und Unwägbarkeiten zum Trotz, mit denen die Bolivarianische Allianz für Amerika (ALBA), die Bank des Südens (Banco de Sur), die Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten (CELAC), Mercosur, Telesur und die Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR) zu kämpfen haben: Sie stehen doch für eine fortschrittlichere Orientierung als die vom Norden dominierten, neoliberalen Institutionen globaler und regionaler Herrschaft. Was Asien angeht, so gilt es zwei Vorhaben weiterzuverfolgen, die einen wichtigen Beitrag zur Veränderung der geopolitischen und geowirtschaftlichen Verhältnisse leisten können. Erstens ist festzuhalten, dass wir zwar die Entwicklung erneuerbarer Energien in den nächsten Jahrzehnten vorantreiben müssen, dabei aber weiterhin von Öl und Erdgas abhängig sein werden. In dieser Hinsicht ist die Zeit reif für das Projekt eines kollektiven asiatischen Versorgungsnetzes zur Wahrung der Energiesicherheit, mit Öl- und Erdgaspipelines, deren Ost-West-Achse durch Asien verläuft (vom Iran über Zentralasien, Russland und Sibirien bis zur Ostküste Chinas), während die Nord-SüdAchse bis zu den Ländern Süd- und Südostasiens hinabreicht. Das bestehende Pipelinenetz, das von Ostsibirien zum Pazifik verläuft und dem Export russischen Rohöls nach China, Japan und Korea dient, ließe sich bequem in ein solches umfassenderes Infrastrukturnetz integrieren. Es würde die Geopolitik der Region ebenso verändern wie die Beziehungen zu Europa und Japan, die beide einen hohen Verbrauch an Öl und Erdgas haben. Den USA würde es den Einfluss entziehen, den sie gegenwärtig auf Indien, die südostasiatischen Länder, China, Japan und selbst Europa ausüben, indem sie den Mittleren Osten und die wichtigsten Seerouten für Öltanker kontrollieren. Der ehemalige indische Erdölminister Mani Shankar Aiyar richtete im November 2005 einen ›Runden Tisch‹ der Minister ein, um diese Pläne mit Vertretern der wichtigsten nord- und zentralasiatischen Produzenten (darunter Russland) sowie der wichtigsten asiatischen Konsumenten (darunter China und Japan) zu besprechen. Dieses weitblickende Vorhaben wurde aufgegeben, als Aiyar vom indischen Kongress aus dem Erdölministerium geschasst und auf einen niedrigrangigeren Kabinettsposten versetzt wurde. Sehr zur Freude der USA, denn Aiyar war der führende Kritiker sowohl der neoliberalen wirtschaftspolitischen Wandels Indiens als auch der außenpolitischen Wende hin zu den USA. Zweitens ist es an der Zeit, auf einen asiatischen Währungsfonds hinzuarbeiten, der von den Regierungen seiner Mitgliedsstaaten auf viel demokratischere Weise zu verwalten wäre als in solchen Institutionen bislang üblich. Er würde ermöglichen, die Bedeutung des USDollars sowie der gegenwärtigen neoliberalen Institutionen (Internationaler Währungsfonds, Weltbank) einzuschränken. Die Idee ist nicht neu, sondern geht zurück auf einen Vorschlag, den Japan bereits 1997 auf dem Höhepunkt der Asienkrise formulierte. Spätere, ähnlich gelagerte Vorstöße sind im Sande verlaufen, vor allem aufgrund der mangelnden Bereitschaft Japans und anderer US-Verbündeter, mit dem Weltbank-IWF-Komplex und dessen Kontrolle durch das US-Schatzamt zu brechen. Wenn der Neoliberalismus in Lateinamerika am stärksten infrage gestellt worden ist, dann liegt das auch daran, dass die USA sich in Westasien und Nordafrika festgefahren haben. Diese Region bleibt die große politische Achillesferse des imperialen Projekts, denn hier ist es möglich, den USA eine politische Niederlage zuzufügen (wenn auch keine militärische). Die geowirtschaftlichen und geopolitischen Konsequenzen wären erheblich und würden Asien weitaus hoffnungsvollere Aussichten verschaffen, fortschrittliche Veränderungen weltweit durchzusetzen. Die Schlüsselprobleme, die nach weltweiter Solidarität verlangen, sind in diesem Zusammenhang: (a) Widerstand gegen die illegalen Besetzungen Afghanistans, Iraks und Palästinas sowie gegen die Einrichtung von Marionettenregierungen und Führungen, die imperialen Interessen dienen. (b) Widerstand gegen die versuchte Isolation des Iran aufgrund seiner Entwicklung von Kapazitäten zum Bau einer Atombombe. Das Hauptziel muss vielmehr darin bestehen, eine massenvernichtungswaffenfreie Zone im Mittleren Osten (Middle East Weapons of Mass Destruction Free Zone/MEWMDFZ) zu etablieren, zu der auch Israel gehört, (c) Gerechtigkeit für das kurdische Volk sowie (d) die Beseitigung antidemokratischer monarchischer, theokratischer sowie faktischer Militärherrschaft in der Region.
Der Beitrag ist entnommen aus dem TNI Working Paper »Shifting Power. Critical Perspectives on Emerging Economies«, das im September dieses Jahres erschien. Aus dem Englischen von Max Henninger.