Bereits vor dem Ausbruch der weltweiten Covid-Pandemie wurde allgemein anerkannt, dass sich die amerikanische Hegemonie in einem unumkehrbaren Niedergang befindet. Seitdem hat sich das Tempo des Hegemonieverlusts beschleunigt. Im August 2021 nahmen die Taliban Kabul ein, als die US-amerikanischen Streitkräfte auf chaotische und überstürzte Weise abzogen. Zwanzig Jahre US-Intervention in Afghanistan und im Nahen Osten endeten mit einer demütigenden Niederlage. Nur etwa ein halbes Jahr später brach der Krieg zwischen Russland und der Ukraine aus, dessen wirtschaftliche und geopolitische Folgen ganz Europa zu destabilisieren drohen.

Wir beobachten das schiere Versagen der amtierenden Hegemonialmacht bei der Verhinderung eines militärischen Großkonflikts, der von einer anderen Großmacht in einem geopolitisch wichtigen Gebiet ausgelöst worden ist. Dies ist der endgültige Beweis dafür, dass der Niedergang der US-amerikanischen Hegemonie in seine finale Phase eingetreten ist: die des Zusammenbruchs. 

In der Vergangenheit hat der Zusammenbruch von Hegemonialmächten zu Großmachtkonflikten, globalen Wirtschaftskrisen, Aufständen und Revolutionen sowie zu Elend und Verwüstung für Hunderte von Millionen Menschen geführt. Mit welchen Folgen können wir rechnen, wenn die amerikanische Hegemonie zusammenbricht? Kann das System zu einer Art «Gleichgewicht» zurückkehren, oder wird es ebenfalls kollabieren? 

Zwischenstaatliche Konkurrenz und Hegemonialmacht

Eine Hegemonialmacht ist weitaus mehr als lediglich die «stärkste» Macht im kapitalistischen Weltsystem. Der Weltsystemtheorie zufolge beruht das kapitalistische Weltsystem auf zwischenstaatlicher Konkurrenz. Um jedoch eine übermäßige Konkurrenz der Nationalstaaten zu verhindern, hat das kapitalistische Weltsystem historisch aufeinander folgende Hegemonialmächte benötigt, die dem System vorstehen, um dessen gemeinsame Interessen zu verwalten und voranzubringen.

Diesen gemeinsamen Interessen kann nicht wirksam Rechnung getragen werden, wenn einfach jedem Nationalstaat erlaubt wird, seine individuellen «nationalen Interessen» zu verfolgen.  Zu den gemeinsamen Interessen gehören die Aufrechterhaltung des systemweiten «Friedens» (Verhinderung von Großmachtkonflikten), die Sicherstellung globaler makroökonomischer Stabilität, die Ausarbeitung eines globalen Gesellschaftsvertrags und – im Kontext des 21. Jahrhunderts – das Management globaler ökologischer Nachhaltigkeit.

Ein System ohne wirksame Governance-Struktur wäre eines, das der «Tyrannei kleiner Entscheidungen» unterliegt oder nicht in der Lage ist, «Probleme auf Systemebene» durch entsprechende «Lösungen auf Systemebene» zu bewältigen (Arrighi und Silver 1999: 26–31).  Ein System, dem es regelmäßig nicht gelingt, «Lösungen auf Systemebene» zu finden, wird aller Wahrscheinlichkeit nach zerfallen, also aufhören, als kohärentes System zu funktionieren.

Wie kann der Kapitalismus über eine systemweite Governance-Struktur verfügen, ohne das auf zwischenstaatlicher Konkurrenz beruhende Weltsystem aufzugeben? Historisch ist es dem kapitalistischen Weltsystem gelungen, mit diesem Dilemma umzugehen, indem einer der stärksten Staaten in regelmäßigen Abständen als Hegemonialmacht fungiert hat.

Auf dem Höhepunkt ihrer Macht verfügt eine Hegemonialmacht in den Bereichen Industrie, Handel, Finanzen und Militär über gewaltige Vorteile gegenüber anderen Staaten. Diese ermöglichen es der etablierten Hegemonialmacht, anderen Großmächten ihren Willen aufzuzwingen. Die etablierte Hegemonialmacht genießt in den genannten Bereichen Vorteile, weil sie im Vergleich zu anderen Nationalstaaten über ausreichend Macht und Reichtum verfügt.  In dem Maße, in dem die der Hegemonialmacht zur Verfügung stehenden industriellen und finanziellen Ressourcen einen relativ großen Anteil an den Gesamtressourcen des Systems ausmachen, kann man vernünftigerweise erwarten, dass sich die nationalen Interessen der Hegemonialmacht weitgehend mit den gemeinsamen Interessen des Systems decken. Daher ist die Hegemonialmacht in ihren besten Jahren sowohl stark motiviert als auch mit den erforderlichen Ressourcen ausgestattet, um die gemeinsamen Interessen des Systems zu verwalten und zu fördern (Li 2008: 113–115). Ist eine Hegemonialmacht jedoch im Niedergang begriffen, wird sie immer weniger in der Lage sein, die gemeinsamen Interessen des Systems zu verwalten. Zu einem Zusammenbruch kommt es, wenn eine solche Hegemonialmacht die Kontrolle über den Lauf der Dinge verloren zu haben scheint und daher auch der Fähigkeit, die gemeinsamen Interessen des Systems zu verwalten, verlustig geht. Infolgedessen wird das System zum Opfer erratischer Interaktionen verschiedener spontaner Kräfte.

Der Niedergang der US-amerikanischen Hegemonialmacht

Als die USA als unbestrittene neue Hegemonialmacht aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgingen, führten sie die Umstrukturierung des kapitalistischen Weltsystems an. 

Die von den USA angeführte Umstrukturierung trug in den 1950er und 1960er Jahren zu einem beispiellosen Boom des globalen Kapitalismus bei. In den späten 1960er Jahren sah sich das kapitalistische Weltsystem jedoch mit einer neuen Welle wirtschaftlicher und politischer Instabilität konfrontiert. Die Kombination aus langem Wirtschaftsboom und wohlfahrtsstaatlichen Institutionen ermutigte die westlichen Arbeiterklassen zu militanten Kämpfen. Von Mitte der 1960er bis Anfang der 1980er Jahre litten die USA und die anderen kapitalistischen Kernländer (Westeuropa und Japan) unter einem anhaltenden Rückgang der Profitrate. 

Die US-amerikanische Niederlage in Vietnam zeigte die Grenzen der militärischen Vormacht der USA auf. Revolutionäre Bewegungen drohten sowohl kapitalistische als auch sozialistische Regierungen von Ost- bis Westeuropa, von China bis Lateinamerika und von Portugal bis zu den afrikanischen Kolonien zu destabilisieren. 

Die Ölschocks von 1973 und 1979 boten den ersten Hinweis darauf, dass die Erschöpfung der Ressourcen und der Umwelt dem künftigen Wirtschaftswachstum unüberwindliche Grenzen setzen könnte. Als die internationale Zahlungsbilanz der USA immer ungünstiger wurde, mussten die USA die nominale Kopplung des US-Dollars an Gold, wie sie im Rahmen des Bretton-Woods-Systems mit seinen festen Wechselkursen bestanden hatte, aufgeben. Die gesamten 1970er Jahre hindurch kämpfte die Weltwirtschaft mit der «Stagflation», einer Kombination aus wachsender Erwerbslosigkeit und steigender Inflation, die durch traditionelle keynesianische Politik nicht zu bewältigen war. 

In Reaktion auf das, was Giovanni Arrighi als «Signalkrise» der US-amerikanischen Hegemonie bezeichnet hat (Arrighi 1994: 214–217), verlagerten die US-amerikanischen Eliten den Schwerpunkt der Kapitalakkumulation von der materiellen auf die finanzielle Expansion. Die US-Notenbank hob die Zinssätze drastisch an, um die steigende Inflation einzudämmen. Die Politik der monetären Austerität führte zu tiefen Rezessionen im eigenen Land und zu Schuldenkrisen von Lateinamerika bis Osteuropa. Diese Rezessionen und die anschließende wirtschaftliche Stagnation trugen dazu bei, die Verhandlungsmacht der Arbeiterklasse in den Kernländern des kapitalistischen Weltsystems zu schwächen. Zugleich bewirkten die vom Internationalen Währungsfonds und der Weltbank auferlegten «Strukturanpassungen» und «Schocktherapien» eine Verarmung der Bevölkerungen Lateinamerikas, Osteuropas und Afrikas. Außerdem zwangen sie das Finanzkapital, wieder in die Vereinigten Staaten zu fließen (Chossudovsky 1998).

Mitte der 1990er Jahre hatten die Profitraten in den Vereinigten Staaten und Westeuropa wieder das Niveau der 1960er Jahre erreicht oder sogar überschritten. Die kapitalistische Weltwirtschaft erlebte von 1995 bis 2007 eine Periode relativen Aufschwungs. Um die Jahrhundertwende entfielen auf die USA etwa zwei Fünftel und auf die USA und ihre Verbündeten zusammen etwa drei Viertel der gesamten Militärausgaben der Welt (Council on Foreign Relations 2014). Zu dieser Zeit schien die Hegemonie der USA unanfechtbar.

Doch anders als in den frühen Nachkriegsjahren, als die von den USA angeführte Umstrukturierung nicht nur die nationalen Interessen des amerikanischen Kapitalismus, sondern auch die gemeinsamen Interessen des Systems förderte, trug der Übergang von der materiellen Expansion zur finanziellen Expansion nach den 1970er Jahren zur Wiederherstellung der Profitrate bei, indem er zwischenstaatliche und soziale Konflikte verschärfte, die schließlich zum Zusammenbruch der Hegemonie führen sollten (Arrighi 2005).

Die in den 1980er und 1990er Jahren erfolgte globale neoliberale Umstrukturierung (die eine Politik der Privatisierung, Deregulierung, Handelsliberalisierung und Finanzialisierung umfasste) senkte die weltweite effektive Nachfrage und schuf die Voraussetzungen für häufige Finanzkrisen (Crotty 2000). Infolgedessen mussten die USA die Weltwirtschaft stabilisieren, indem sie als globaler «Kreditnehmer letzter Instanz» fungierten: Sie entwickelten erhebliche Handelsdefizite, und die US-Inlandsnachfrage musste sich auf schuldenfinanzierten Konsum stützen. Als die internen und externen finanziellen Ungleichgewichte der USA nicht mehr tragbar waren, wurden die USA und die Weltwirtschaft von der «Großen Rezession» von 2008/09 heimgesucht. Der Niedergang der US-amerikanischen Hegemonie beschleunigte sich (Li 2008: 72–87).

Die Risiken der Ausbreitung von Atomwaffen

Gemessen am Marktwert des Dollars ist der Anteil der USA an der Weltwirtschaft von 30 Prozent im Jahr 2000 auf 25 Prozent im Jahr 2020 gesunken. Im gleichen Zeitraum stieg der Anteil Chinas an der Weltwirtschaft von 4 auf 17 Prozent (Weltbank 2022). Es wird allgemein erwartet, dass China die USA in den nächsten Jahren als weltweit größte Volkswirtschaft ablösen wird.

Bei früheren Hegemoniewechseln konnte die neue Hegemonialmacht die alte, im Niedergang begriffene Hegemonialmacht erst nach einem oder zwei großen Kriegen ablösen, an denen alle damaligen Großmächte beteiligt waren. 

Es ist allerdings unwahrscheinlich, dass wir in den nächsten Jahrzehnten einen «Dritten Weltkrieg» in Form eines totalen Krieges zwischen der untergehenden Hegemonialmacht (den USA) und einem großen Herausforderer (China oder Russland) erleben werden. Dies liegt unter anderem daran, dass sich die Kosten eines totalen Krieges zwischen Großmächten im Zeitalter der Atombombe dramatisch erhöht haben: Ein solcher Krieg würde nicht nur den Tod von Millionen Menschen, sondern höchstwahrscheinlich auch die wechselseitige Vernichtung der Hauptkontrahenten nach sich ziehen. Trotz des Niedergangs der US-amerikanischen Hegemonie werden die USA in den kommenden Jahrzehnten wahrscheinlich die bedeutendste Militärmacht der Welt bleiben (Beckley 2018). Dies dürfte potenzielle Hegemonieanwärter davon abhalten, sich auf eine direkte militärische Konfrontation mit den USA einzulassen. 

Doch auch wenn der Ausbruch eines «Dritten Weltkriegs» nicht unmittelbar bevorsteht, wird der Niedergang der Hegemonialmacht schwerwiegende Folgen haben. In gewisser Weise sind diese bereits eingetreten. Wie oben erläutert, ist in einem auf zwischenstaatlicher Konkurrenz beruhenden Weltsystem die Hegemonialmacht unverzichtbar, um «Problemen auf Systemebene» mit entsprechenden «Lösungen auf Systemebene» zu begegnen. In der Vergangenheit ging es bei der Aufrechterhaltung des systemweiten «Friedens» hauptsächlich darum, militärische Großmachtkonflikte zu verhindern. Doch im Zeitalter der Atombombe erfordert die Aufrechterhaltung eines langfristigen, nachhaltigen und systemweiten «Friedens» auch eine wirksame Eindämmung der Ausbreitung von Atomwaffen.

Seit dem Zerfall der Sowjetunion und angesichts des unumkehrbaren Niedergangs der US-amerikanischen Hegemonie können die Großmächte nicht mehr sicherstellen, dass nur die fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats Zugriff auf Atomwaffen haben. Zusätzlich zu den fünf gleichsam «legalen» Atommächten sind Indien, Pakistan und Nordkorea zu «illegalen», aber offen deklarierten Atommächten geworden. Israel hat nie erklärt, über Atomwaffen zu verfügen, gilt aber als De-facto-Atommacht. Darüber hinaus hat eine Reihe weiterer Länder gewisse atomare Kapazitäten entwickelt (Wallerstein 2014a). Da sich die Ausbreitung von Atomwaffen schleichend aber stetig der Kontrolle entzieht, hat sich die Wahrscheinlichkeit eines «versehentlichen» regionalen oder sogar globalen Atomkriegs erhöht. Es ist auch wahrscheinlicher geworden, dass Atomwaffen in die Hände nichtstaatlicher bewaffneter Gruppen fallen. 

Kurs auf geopolitischen Zusammenbruch

Im 20. Jahrhundert war Öl das Herzblut der kapitalistischen Weltwirtschaft. Trotz der Entwicklung erneuerbarer Energien bleibt Erdöl eine unverzichtbare Energieressource für den Verkehr und verschiedene Industriesektoren (Heinberg 2016: 81–114).

Während eines Großteils der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Stabilisierung des Nahen Ostens – der weltweit wichtigsten Öl- und Erdgasförderregion – ein wichtiges diplomatisches und strategisches Anliegen der USA. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 beschlossen die herrschenden Eliten der USA (vermittelt über die Bush- und Cheney-Administration), sich auf ein strategisches Wagnis einzulassen. Sie wollten einen Großteil des Nahen Ostens durch ihre militärische Macht unmittelbar kontrollieren, um eine dauerhafte globale Hegemonie zu errichten, bevor eine andere Großmacht die Chance erhielt, es im Bereich wirtschaftlicher und militärischer Ressourcen mit den USA aufzunehmen. Dieses Wagnis ist spektakulär gescheitert. Anstatt eine dauerhafte Hegemonie zu sichern, verwandelte die Niederlage der USA im Nahen Osten einen langsamen und allmählichen hegemonialen Niedergang in einen rasanten (Wallerstein 2003: 13–30). 

Unter Obama erwiesen sich die Bemühungen der USA, den Machtverlust im Nahen Osten durch Interventionen in Libyen und Syrien umzukehren, erneut als vergeblich (Wallerstein 2014b). Nach dem katastrophalen Rückzug aus Afghanistan haben die USA jeden Anspruch darauf aufgegeben, die dominierende ausländische Macht im Nahen Osten zu sein.

Derzeit befindet sich der Nahe Osten in einer äußerst instabilen und fragilen Situation. Mehrere Regionalmächte wie Iran, Saudi-Arabien, Israel, Ägypten und die Türkei sind auf komplexe Weise miteinander verstrickt, sei es durch Feindseligkeiten, sei es durch ständig und rasch wechselnde taktische Bündnisse. Die tödlichen Konflikte in Jemen, Palästina und Syrien dauern an. Da der Iran seinem Ziel, eine genuine Atommacht zu werden, immer näher kommt, wächst die Gefahr, dass Israel seine Drohung direkter militärischer Maßnahmen wahrmacht. 

Wenn der Rückzug der USA aus dem Nahen Osten einen künftigen geopolitischen Zusammenbruch der Region (mit verheerenden Folgen für die globale Energieversorgung und die Weltwirtschaft) sehr wahrscheinlich gemacht hat, so hat der derzeitige Krieg zwischen Russland und der Ukraine die geopolitische Katastrophe vor die Haustür Europas gebracht.

Seit dem Zerfall der Sowjetunion haben die herrschenden Eliten der USA die Strategie der NATO-Osterweiterung verfolgt, um nicht nur die osteuropäischen Länder, sondern auch einige der ehemaligen Sowjetrepubliken zu integrieren. Obwohl die USA und die NATO-Funktionäre wiederholt behauptet haben, die Osterweiterung sei nicht gegen Russland gerichtet, besteht aus Sicht der russischen herrschenden Klasse kaum ein Zweifel daran, dass die herrschenden Eliten des Westens letztlich die Absicht verfolgen, Russland zu isolieren und zu schwächen, um einer Vorherrschaft der USA in Eurasien den Weg zu ebnen (Mearsheimer 2014). 

Unabhängig davon, wie man den derzeitigen Krieg zwischen Russland und der Ukraine moralisch beurteilt: Fest steht, dass Putin die Entscheidung zu diesem Krieg nicht getroffen hätte, wenn er nicht die dramatische Schwächung der USA durch den katastrophalen Afghanistan-Rückzug erkannt hätte. Es ist davon auszugehen, dass Putin vor Beginn des gegenwärtigen Krieges überzeugt war, der richtige Zeitpunkt für eine Gegenoffensive sei gekommen.

Es ist noch zu früh, um die langfristigen Folgen des Krieges zwischen Russland und der Ukraine zu beurteilen. Der Krieg und die vom Westen gegen Russland verhängten Sanktionen haben die globalen Lieferketten weiter beeinträchtigt, und das zu einem Zeitpunkt, da sich diese Lieferketten noch nicht von den durch die weltweite Covid-Pandemie verursachten Verwerfungen erholt haben.

Bereits vor dem Russland-Ukraine-Krieg ging es mit dem europäischen Kapitalismus tendeziell bergab. Der Anteil der Europäischen Union an der Weltwirtschaft sank, gemessen am Wechselkurs des Euros, von 25 Prozent im Jahr 2005 auf 18 Prozent im Jahr 2020 (Weltbank 2022). Der Wohlstand des europäischen Kapitalismus hängt weitgehend von dessen Fähigkeit ab, Vorteile in bestimmten hochtechnologischen Produktionssektoren aufrechtzuerhalten. Diese Sektoren sind wiederum von der Versorgung mit billiger Energie sowie einem relativ stabilen und friedlichen geopolitischen Umfeld abhängig. Der Russland-Ukraine-Krieg hat beidem ein Ende gesetzt. 

Wenn die europäische Wirtschaft kollabiert, ist es unwahrscheinlich, dass die europäischen kapitalistischen Länder politisch und gesellschaftlich stabil bleiben. Die Architektur der Europäischen Union selbst könnte in Frage gestellt werden. Europa ist der geografische Ursprung des modernen Weltsystems. Der Zerfall des europäischen Kapitalismus könnte sehr wohl den endgültigen Zusammenbruch des bestehenden Weltsystems darstellen.

Herausforderungen des 21. Jahrhunderts

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts litt die kapitalistische Weltwirtschaft neben zwei Weltkriegen unter immer verheerenderen Wirtschaftskrisen, die in der Großen Depression der 1930er Jahre gipfelten. Es bleibt abzuwarten, ob der gegenwärtige Zusammenbruch der Hegemonie zu einer vergleichbaren Weltwirtschaftskrise führen wird.

In der gegenwärtigen weltgeschichtlichen Situation geht die größte Bedrohung für die Zivilisation nicht von der Wirtschaft aus, sondern vom Kollaps der Umwelt. Die durchschnittliche globale Oberflächentemperatur liegt derzeit etwa 1,1 Grad Celsius höher als in der vorindustriellen Epoche und steigt alle zehn Jahre um weitere 0,2 Grad. Wenn die globale Durchschnittstemperatur auf über zwei Grad Celsius ansteigt, wird es zu spät sein, um einige größere Klimakatastrophen zu verhindern (z. B. einen Anstieg des Meeresspiegels, der die meisten Küstenstädte der Welt zu überfluten droht). Wenn Rückkopplungen zwischen ozeanischen und terrestrischen Ökosystemen ausgelöst werden, könnte der Klimawandel der menschlichen Kontrolle entgleiten. Dann wäre ein Großteil der Erdoberfläche letztlich nicht mehr für menschliche Besiedlung geeignet (Spratt und Sutton 2008).

Es ist bekannt, dass die derzeitige Klimakrise durch den massiven Verbrauch fossiler Brennstoffe verursacht wird, wie er seit Beginn der industriellen Revolution zu verzeichnen ist.  Trotz technologischer Fortschritte der letzten Jahre, die die Energieeffizienz verbessert und die Nutzung erneuerbarer Energien befördert haben, bleibt es höchst unwahrscheinlich, dass die Welt die Treibhausgasemissionen schnell genug reduzieren kann, es sei denn, die großen Emittenten (wie China und die kapitalistischen Kernländer) verpflichten sich zu einem Null- oder Negativ-Wirtschaftswachstum (Li 2020). In einem Weltsystem, das auf zwischenstaatlicher Konkurrenz beruht, ist es jedoch praktisch ausgeschlossen, dass sich ein Nationalstaat freiwillig Null- oder Negativwachstum auferlegt.

Wird die Menschheit genügend Zeit haben, um sich vor dem drohenden ökologischen Kollaps zu retten, bevor der Kapitalismus die materielle Grundlage der Zivilisation zerstört?

In der Vergangenheit hat der Kapitalismus hegemoniale Zusammenbrüche überlebt, indem er eine neue hegemoniale Macht hervorbrachte, die in der Lage war, «Problemen auf Systemebene» mit «Lösungen auf Systemebene» zu begegnen. Um jedoch «Lösungen auf Systemebene» anbieten zu können, muss die neue Hegemonialmacht ausreichend mächtig sein, um anderen Großmächten gegebenenfalls ihren Willen aufzuzwingen. Dies setzt voraus, dass die neue Hegemonialmacht über gewaltige Vorteile gegenüber anderen Großmächten verfügt, einschließlich des vorangegangenen Hegemons. Bei jedem der früheren Hegemonieübergänge war die neue Hegemonialmacht in Bezug auf territorialen Umfang, industrielle Ressourcen und militärische Macht um ein Vielfaches größer oder mächtiger als die vorherige (Arrighi 2005).

Die USA sind als Kontinentalmacht um ein Vielfaches größer als jeder europäische Nationalstaat. Russlands Territorium ist etwa anderthalbmal so groß ist wie das der USA. Da die russische Bevölkerung etwa halb so groß wie die US-amerikanische und die russische Wirtschaft nach wie vor relativ schwach ist, hat Russland keine realistische Chance, den USA ihre Position als dominierende Weltmacht streitig zu machen, obgleich sich Russland im nördlichen und westlichen Teil des eurasischen Kontinents zu einer Großmacht entwickeln könnte, die den Einfluss der USA in diesem Gebiet zurückdrängt.

Die Bevölkerung Chinas ist etwa viermal so groß wie die der USA. Dies bedeutet jedoch auch, dass Chinas Pro-Kopf-Ausstattung mit natürlichen Ressourcen und seine Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung nur einen Bruchteil der entsprechenden US-amerikanischen  Pro-Kopf-Ausstattung und -Wirtschaftsleistung ausmachen. Obwohl Chinas gesamtwirtschaftliche Leistung die der USA in einigen Jahren überholen wird, wird für die kommenden Jahrzehnte ein Rückgang sowohl der chinesischen Bevölkerung insgesamt als auch der chinesischen Erwerbsbevölkerung prognostiziert. Infolgedessen wird China wahrscheinlich nie eine überwältigende wirtschaftliche Überlegenheit gegenüber den USA erreichen, und die sinkende Investitionseffizienz bedeutet, dass Chinas Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung ihren Höhepunkt bei etwa der Hälfte des US-Niveaus erreichen dürfte (Rajah und Leng 2022).

Da die Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung in hohem Maße mit dem Stand der technologischen Entwicklung korreliert, beinhaltet Chinas relativ niedrige Pro-Kopf-Leistung, dass seine militärische Macht wahrscheinlich auch in den kommenden Jahrzehnten hinter der US-amerikanischen zurückbleiben wird (Beckley 2018: 62–97). 

Da die Hegemonialmacht USA zusammenbricht, es aber keine neue Hegemonialmacht geben wird, die an deren Stelle tritt und «Lösungen auf Systemebene» bietet, wird das bestehende Weltsystem seine Fähigkeit verlieren, «Probleme auf Systemebene» zu lösen. In dem Maße, in dem ein Weltsystem nicht als kohärentes System zu funktionieren vermag, weil es seine «Probleme auf Systemebene» nicht dauerhaft und wirksam lösen kann, haben wir den historischen Wendepunkt des Übergangs vom bestehenden System zu etwas anderem erreicht.

Worin wird «etwas anderes» bestehen? Wird der Kapitalismus durch ein neues System oder neue Systeme ersetzt werden? Wird das neue System oder werden die neuen Systeme egalitärer und demokratischer sein als das derzeitige? Oder wird es bzw. werden sie sich als unterdrückerischer und ausbeuterischer erweisen? Wird die Menschheit genügend Zeit haben, den kommenden weltgeschichtlichen Übergang zu vollziehen, bevor die materiellen Grundlagen der Zivilisation irreparable und unumkehrbare Schäden erleiden?

Die Antworten auf all diese Fragen werden von den globalen Klassenkämpfen der nächsten Jahrzehnte abhängen.