Die Debatte um die derzeitige ‚Inflation‘ ist in vollem Gange. Strittig sind nicht nur Ursachen, sondern vor allem die zur Bekämpfung eingesetzten Instrumente.[1] Die Erzählung einer nachfragebasierten Inflation, an die sich vor allem neoliberale und neoklassische Ökonom*innen klammern, scheint im Licht aktueller Studien und Erkenntnisse nicht mehr lange haltbar. Allmählich setzt sich selbst in den Führungsetagen der Europäischen Zentralbank (EZB) und Federal Reserve (FED) die Ansicht durch, dass die aktuelle Geldentwertung nicht durch eine zu hohe Geldmenge, sondern durch angebotsseitige Schocks ausgelöst wird (Panetta 2023; Schneider 2023). Im Klartext: Die Preiserhöhungen im Energie-sektor sind für die gegenwärtige Geldentwertung verantwortlich – nicht die lockere Geldpolitik der Zentralbanken. Daraus ergibt sich notwendig, dass Geldpolitik nicht der Schlüssel zur Bekämpfung der Preissteigerungen sein kann und es anderer Instrumente zum Bremsen der Geldentwertung bedarf. Diskussionen um die Ursachen von Inflation sind keine Entwicklung des 21. Jahrhunderts, sondern stehen seit Beginn der modernen Wirtschaftswissenschaften im Zentrum ihrer Debatten. Dabei gibt es zwei Erklärungsansätze: jenen der angebotsseitigen und jenen der nachfragebasierten Inflation (Ingham 2020, 48ff.). 

Die Anhänger*innen der nachfragebasierten Inflationstheorien sehen die Gründe für Inflation in einem Missverhältnis von Kaufkraft zu Warenmenge. Dadurch, dass Arbeiter*innen oder Staat aufgrund hoher Löhne oder Staatsverschuldung über zu viel Geld im Verhältnis zur real existierenden Warenmenge verfügen, sind Unternehmen gezwungen, die Preise zu erhöhen. Arbeiter*innen reagieren auf die Preissteigerungen mit der Forderung nach höheren Löhnen. So setzt sich die oft vorgebrachte Lohn-Preis-Spirale in Gang. In ihrer Folge steigen Preise quasi automatisch und Geld entwertet sich. Aus dieser Ansicht ergeben sich drei politische Handlungsoptionen: restriktive Geldpolitik, Sparkurs der Regierung sowie Verhinderung von Lohnerhöhungen. Konservative und Liberale Ökonom*innen berufen sich zumeist auf diese nachfragebasierte Inflationstheorie, um politischen Forderungen nach restriktiver Geldpolitik, Streik- und Lohnverzicht wie auch Sparkurs in der öffentlichen Daseinsvorsorge zu legitimieren. 

Auf der Gegenseite steht das Modell der angebotsseitigen Inflation. Dieser Ansatz vermutet die Ursachen für steigende Preise zuerst bei denjenigen, die die Preise für Waren setzen. In einer mehrheitlich profitorientiert und privat organisierten Wirtschaft sind das zuallererst Unternehmen. Der neoliberale Flügel der angebotsbasierten Erklärungsversuche beharrt darauf, dass die Kräfte des freien Marktes und das Gesetz von Angebot und Nachfrage den perfekten Preis für ein Gut setzen. Unternehmen tragen in dieser Logik keine Verantwortung für steigende Preise. Aus kritischer Perspektive ist diese Position zu verwerfen. Unternehmen im Kapitalismus agieren nicht in einem unsichtbaren Netz oder gar im Sinne der Gesellschaft, sondern profitorientiert sowie in enger Interaktion mit ihren Zuliefer*innen und Abnehmer*innen. Die Preise, die Unternehmen setzen, hängen also nicht von abstraktem Gesamtangebot oder Nachfrage eines Gutes ab, sondern von ihrer Machtposition gegenüber anderen Wirtschaftsakteur*innen und der erwarteten Profitrate (White/Godart 2007). Anhänger*innen dieser Theorien, unter ihnen viele Keynesianer*innen, vermuten hohe Marktmacht, Abhängigkeitsbeziehungen und Profitdruck als zentrale Treiber der Geldentwertung. Auf dieser Basis sind Unternehmen in der Lage, Absatzpreise in die Höhe zu treiben und damit je nach Sektor auch das gesamtwirtschaftliche Preisniveau. In diesem Sinne bietet es sich an, von einer Profit-Preis-Spirale zu sprechen. Während Geldpolitik ein vernachlässigtes Feld kritischer Diskussionen ist, findet sich meist ein schneller Konsens darüber, dass weder Reallohnkürzungen noch grundsätzlicher Sparkurs des Staates gesellschaftlich erstrebenswert sind.

Zwar gibt es durchaus Fälle nachfragebasierter Inflation, jedoch lassen Studien über die aktuelle Kaufkraftminderung keinen Zweifel an ihrer Ursache: Sie wird primär durch Profite von Großkonzernen, sowie durch hohe Energiepreise getrieben. Relevant sind weiterhin die Auswirkungen der Covid-Pandemie und des Ukraine-Kriegs auf globale Lieferketten (Ferguson/Storm 2023; Weber/Wasner 2023). Weitgehende Einigkeit herrscht auch darüber, dass die negativen Folgen der ‚Inflation‘ primär die unteren Klassen treffen – während Besitzer*innen von Unternehmen und Finanztiteln unbeirrt dicke Renditen einstreichen (Canepa 2023; Durand 2022, 46; Sonti / Jason 2022 ). Bisher wenig beleuchtet sind die konkrete Marktmacht, Abhängigkeitsbeziehungen und der Profitdruck, die hinter den aktuellen Teuerungen stehen und sie vorantreiben. Mit diesem Text versuchen wir auf Basis eigener empirischer Untersuchungen[2] sowie aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse und Diskurse einen Teil dieser Lücke zu schließen und aus kritischer Perspektive zu einer produktiven Diskussion um Ursachen und sich daraus ergebenden Handlungsfeldern beizutragen. 

Fossile ›Inflation‹? 

Die Ursachen der steigenden Preise lassen sich zunächst auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine und die damit vermeintlich entstandenen Brüche in fossilen Abhängigkeitsbeziehungen zurückführen. Zu Beginn des Krieges ließen diese die bereits durch die Covid-19-Pandemie gestiegenen Preise für Futures und Forwards für Öl und Flüssiggas (LNG) weiter in die Höhe schießen. Der Import fossiler Energieträger aus Russland in die EU wird zwar stetig reduziert, ist jedoch nach wie vor nicht vollständig eingestellt (The Economist 2023).

Rohöl-Produzenten*innen waren ungeachtet des Herkunftslands von Anfang an zentrale Profiteure des Krieges. Doch auch Strom-Hersteller*innen bekamen einen überproportional großen Teil des Kuchens ab. In Deutschland etwa orientiert sich der allgemeine Energiepreis auf Basis des Merit-Order-Prinzips am höchsten Erzeugungspreis im Markt. Wenn Preise für die Energieproduktion mit Öl und Gas steigen, treibt dieser Mechanismus den allgemeinen Preis für Energie massiv in die Höhe. Besonders seit Beginn der Pandemie und auch während des aktuellen Kriegsgeschehens sind die Profite der Energiekonzerne massiv durch die Decke gegangen (Wilson / Brower 2023). Trotz all der Diskussion um Deutschlands besonders prekäre Abhängigkeit von fossilen Energieträgern, sind deutsche Unternehmen hier keine Ausnahme. RWE etwa konnte seinen Börsenwert seit 2018 bis heute von 13,3 auf 32,1 Milliarden US-Dollar steigern, der jährliche Profit hat sich im selben Zeitraum mehr als verdreifacht. Auch der Börsenwert von E.ON ist im selben Zeitraum von 21,4 auf 33,8 Milliarden US-Dollar gestiegen, bei einer zeitgleichen Netto-Profitsteigerung von jährlich 1,4 auf 1,9 Milliarden US-Dollar. 

Die Ursachen für den Preisschock liegen also in Abhängigkeiten von fossilen Brennstoffen. Diese Entwicklung ist in einem längeren historischen Kontext zu betrachten. Große fossile Rohstoffunternehmen agieren in der globalen Wirtschaft als Market-Maker und nutzen ihre Machtposition und die allgemeine Abhängigkeit von schnell verfügbarer und günstiger Energie für sich aus – nicht erst seit kurzem. Wie Timothy Mitchell in seinem Buch ‘Carbon Democracy’ aufzeigt, war künstliche Verknappung des neu erschlossenen Rohstoffs schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Instrument, das Öl-Unternehmen zur Monopolbildung nutzten. Die aus dieser Konstellation entstehende Macht war und ist weiterhin ein Instrument zahlreicher Regierungen, um Kontrolle über die Bevölkerung auszuüben. In ähnlicher Weise konnten im Kontext des Ölpreisschocks 1973 und in Folge der Verstaatlichung des Öls im Nahen Osten Unternehmen und Regierungen der in der Organisation Erdölexportierender Länder (OPEC) organisierten Staaten Kontrolle über den Markt ausüben. Ölfirmen haben von Beginn der fossilen Energiegewinnung an durch ihre Kontrolle über die Wertschöpfungskette Politik in ihrem Sinne gestaltet (Mitchell 2013). Dieser Mechanismus hat bis zum heutigen Tage Kontinuität. So wurde etwa während des ersten Lockdowns im Zuge der Covid-19-Pandemie die Ölfördermenge durch die OPEC-Staaten stark reduziert, um so die gesunkene Nachfrage abzufedern und eine Schmälerung der Profitraten zu verhindern. Anfang April dieses Jahres einigten sich die OPEC+-Staaten (Bestehend aus den OPEC-Staaten sowie 10 Kooperationspartner*innen) auf eine Reduzierung der Fördermenge im Rahmen eines Preiskampfs mit den USA. 

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Abbildung 1: Globale Erdölförderung in Millionen Barrel. Zeitraum März 2018 bis März 2023

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Abbildung 2: Globale Exporte von LNG, insgesamt abzüglich Russland und Russland im Vergleich.

Diese überschwemmten ihrerseits den europäischen Markt mit LNG, um das Angebotsloch zu stopfen, das der russische Angriffskrieg hinterlassen hat (Reuters 2023). Die globale Produktion fossiler wie auch nachhaltiger Energieträger hat insgesamt seit 2018 höchstens unwesentlich und phasenweise abgenommen. Insbesondere der russische Anteil an den globalen LNG-Exporten hat sich seit Beginn des Angriffskrieges nur marginal  verändert (siehe Abb. 2). 

Dass die derzeitigen Preissteigerungen aus fossilen Abhängigkeiten erwachsen sind, lässt sich auch empirisch in der hohen Korrelation zwischen allgemeinem Preisniveau (Consumer Price Index in Deutschland) und Energiepreisen (EPEX Spot Preis Deutschland) erkennen, die im Zeitraum 01.03.2018 – 01.03.2023 einen R²-Wert[3] von ca. 0,56 aufweist. Noch höher ist die Korrelation zwischen Gaspreis und allgemeinem Preisniveau, diese liegt bei ca. R² 0,68. Beide Korrelationen sind im Zeitraum 01.01.2020 – 01.03.2023 noch höher. Dieser Zusammenhang ist zentralen politischen Akteuren nicht unbekannt. So wurde bereits in einem Monatsbericht der Bundesbank aus dem Jahre 2016 dargelegt, dass die Geldentwertung im Nachgang an die globale Finanzkrise sowie der Eurokrise nicht etwa mit einer Auslastung der Wirtschaft oder Arbeitsmarktdynamiken (wie Vollbeschäftigung oder steigenden Löhnen) zusammenhing, sondern aus dem steigenden Rohölpreis resultierte (Bundesbank 2016). Der Grund dafür ist klar: Wenn Energie teurer wird, steigen die Kosten für die Produktion. Diese werden bei ausbleibenden Gegenmaßnahmen der Politik schlicht von den Unternehmen an die Konsument*innen weitergegeben. Je nach Marktposition der Unternehmen kommt noch eine ordentliche Profitmarge dazu. Unsere Recherche bestätigt diese Annahmen: Die Korrelationen zwischen allgemeinen Herstellungskosten (Producer Price Index in Deutschland) und Energiepreiskosten sind in beiden von uns betrachteten Zeiträumen (siehe oben) ca. bei R² 0,76 respektive 0,72. Diese zusätzlich entstandenen Kosten werden aufgrund der hohen Exportquote in Teilen exportiert, werden aber auch mittel- bis langfristig die Preise für Industriegüter in Deutschland nach oben treiben.

Kapital, Risiko & Kaufkraftminderung

Unternehmen sind im Kontext steigender Energiepreise weiterhin auf den Zugang zu Kapital angewiesen, um die strukturell notwendige Ausweitung ihrer Tätigkeiten zu finanzieren. Als Quellen stehen ihnen Rücklagen, Kredite sowie die Emission von Finanztiteln zur Verfügung. Obwohl in Deutschland ansässige Konzerne im internationalen Vergleich überdurchschnittlich häufig auf interne Rücklagen zur Ausweitung ihres Geschäfts zurückgreifen können, beträgt die Summe der Kredite an nichtfinanzielle Unternehmen über 50 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (Braun/Deeg 2020) und hat damit einen erheblichen Einfluss auf die Funktionsweise der Wirtschaft. 

In der neoklassischen Ökonomie wird die Kreditvergabe als neutraler Faktor betrachtet. Es wird also angenommen, dass die Art und Weise, wie in der Wirtschaft über die Verteilung des allgemein einsetzbaren Tauschäquivalents bestimmt wird, keinen nennenswerten Einfluss hat. Diese eklatante Misskonzeption versperrt den Blick auf den entscheidenden Faktor, den Banken und Finanzmärkte in der Erzeugung der Geldentwertung haben. Da privatwirtschaftliche Banken vom Staat mit dem Privileg der Geldschöpfung ausgestattet sind, bestimmen sie wem ein zentrales Produktionsmittel, Kapital, in welcher Menge und unter welchen Konditionen zur Verfügung gestellt wird. Durch diese Machtposition üben sie einen direkten Einfluss auf die Entwicklung der Verteuerungen aus, da die Erstvergabe eines Kredits in einen Wirtschaftssektor diesen privilegiert und das Geld direkt und ohne Entwertungsverluste ausgegeben werden kann. Geldentwertungseffekte ergeben sich erst in den nächsten Schritten des Geldkreislaufes. Dieser Effekt wird auch Cantilloneffekt genannt (Sahr 2022). Der Energiesektor, aber auch andere Großindustrien, sind auf Grund hoher Umsätze ein beliebtes Ziel für privatwirtschaftlich vergebene Kredite und somit weniger von Profit-Preis-Spiralen betroffen als zum Beispiel Privatpersonen. Der Cantilloneffekt schafft also zentrale Bedingungen der ungleichen Verteilung der Folgen der Geldentwertung (Sierón 2019, 114ff). 

Die Bedingungen der Kreditvergabe haben noch einen weiteren nicht zu unterschätzenden Einfluss auf fossile Energiekonzerne: Sie bestimmen zu einem wesentlichen Teil den Profitdruck. Zwar unterliegen alle Unternehmen dem Zwang Rendite zu erwirtschaften, hohe Risikoaufschläge in der Kreditvergabe zwingen Konzerne jedoch dazu, besonders hohe Profitraten anzustreben. Dies führt im Kontext fossiler Energiekonzerne zu einem äußerst paradoxen Ergebnis: Aufgrund der sich entfaltenden Klimakrise und politischen Drucks ist zwar, wie von Sablowski beschrieben, ein marginaler Rückgang der Kreditvergabe an fossile Konzerne zu beobachten. Die privatwirtschaftlich vergebenen Kredite sind jedoch mit einem stetig steigenden Risikoaufschlag verbunden (Ehlers et al. 2021). Die entstehenden Kosten für die hohen Zinszahlungen decken Energiekonzerne, qua ihres Geschäftsmodells, über höhere Absatzpreise, welche die allgemeinen Preise für Energie in die Höhe treiben. Steigende Energiepreise sorgen wiederum in allen Wirtschaftssektoren für zunehmende Produktionskosten und erhöhen so das allgemeine Preisniveau. Obwohl Zentralbanken zur Rettung der Branche fossile Anleihen in Milliardenhöhe auf ihre Bilanzen übertragen haben (Carbontracker 2022), sind die Risikoaufschläge für Anleihen und Aktien fossiler Konzerne in den letzten zehn Jahren analog zu den Zinskosten für Kredite und Anleihen gestiegen (Alessi 2021). Der Weg zu günstigem Kapital ist also auch hier versperrt, wodurch ein struktureller Zwang für fossile Energiekonzerne entsteht, weit überdurchschnittlich hohe Renditen zu generieren. 

Nun sind die Pfade der Geldentwertung, wie im Titel angedeutet, nicht gradlinig. Seit Monaten sinken die Energiepreise, und somit die Produktionskosten; die Inflationsrate, gemessen als Verbraucherpreisindex stagniert jedoch bei 7 bis 8 Prozent.

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Abbildung 3. Relative Entwicklung. Zur besseren Vergleichbarkeit sind LNG-Average Price (gemessen als durchschnittlicher Gaspreis in der EU) Price & Energie-Spot-Preis in Deutschland (EPEX) auf der Primärachse (links) notiert. PPI & CPI Germany auf der Sekundärachse (rechts).

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Hier stößt die vorherrschende nachfragebasierte Inflationstheorie erneut an die Grenzen ihrer Erklärungskraft. Wie EZB-Vorstandsmitglied Fabio Panetta im Interview mit der New York Times eingestand, fokussieren sich Zentralbanken wie Politik möglicherweise zu sehr auf die Nachfrageseite und schenken der Angebotsseite zu wenig Beachtung (EZB 2023). Wie bei den für die Preissteigerung ursächlichen Energiepreisen, treiben auch hier Market-Maker die Preise nach oben, wenn die Umstände (also Marktmacht und Abhängigkeitsbeziehungen) dies zulassen (Häring 2023). Der Pfad der steigenden Preise hat eine Abzweigung genommen; weg vom Energie-Preisschock. Er hat sich in gewisser Weise verselbstständigt. Die Geldentwertung wird heute, provokativ gesagt, von jenen gemacht, die die Preisschilder bedrucken. Das Image des gierigen Unternehmens, wenngleich es sicher einen wahren Kern hat, stellt hier nur einen Teil der Wahrheit dar. Vielmehr liegt die Kernursache des Problems ironischerweise in seiner angeblichen Lösung: der Erhöhung der Leitzinsen. Dieses Instrument als Allheilmittel gegen Preissteigerungen zu betrachten, entstammt dem neoliberalen Dogma des Monetarismus, demzufolge allein die Geldmenge über die Entwicklung des allgemeinen Preisniveaus bestimmt.

Bei einer nachfragebasierten Geldentwertung profitieren vor allem Schuldner*innen (etwa Staaten, Unternehmen oder Privatpersonen), da ihre vereinbarten Zinszahlungen im Vergleich zum eigenen Verdienst schrumpfen. Im Gegenzug ziehen Gläubiger*innen, also Kreditgeber*innen wie Private-Equity-Firmen oder Kreditinstitute, den Kürzeren. Wir müssen bei der aktuellen Lage jedoch von einem Preisschock reden, nicht von einer nachfragebasierten Inflation: Die Wirtschaft ist weder ausgelastet noch durch Nachfrage überhitzt. Einzig die Preise steigen, wodurch die Kaufkraft der unteren Klassen geschmälert und das Sparen erschwert wird. Gleichzeitig sorgt der Zinserhöhungs-Wettlauf zwischen FED und EZB für immer teurer werdende Kredite für Unternehmen wie auch Staaten. Insbesondere letztere stehen dabei in einer steilen Hierarchie hinsichtlich der für sie verfügbaren Kreditbedingungen – die kapitalistischen Zentren im globalen Norden profitieren weiter von guten Bedingungen, während die Peripherien des globalen Südens bereits jetzt häufig keinen Zugang mehr zu Liquidität an nationalen wie internationalen Finanzmärkten haben. Bei stagnierenden Löhnen werden diese erhöhten Kosten für Kredite, genau wie die erhöhten Energiepreise, an Konsument*innen weitergegeben. Die Erhöhung der Leitzinsen ist also vielmehr Treiber der steigenden Verbraucherpreise als ein Mittel gegen sie. 

Wie der Inflation begegnen?

Die klaffende Lücke zwischen dem vorherrschenden neoklassischen Wirtschaftsdogma und der gegenwärtigen Prekarisierung der Gesellschaft wird ebenso gefährlicher wie manifester, sowohl hinsichtlich Zentralbankpolitik wie auch auf Regierungsebene.

Auf der einen Seite sprechen sich laut einer kürzlich erschienenen Studie des IFO-Instituts knapp zwei Drittel der deutschen Ökonom*innen für weitere Zinserhöhungen aus. Nur drei Prozent sind hingegen für eine Senkung des Leitzinses (Handelsblatt 2023). Ein Bruch mit der vorherrschenden Ideologie, die auch im links-liberalem Spektrum weit verbreitet ist, ist also mittelfristig nicht zu erwarten. Auf der Regierungsseite hält die Ampel – und allen voran Finanzminister Christian Lindner – beharrlich an der Schuldenbremse fest und verhindert somit notwendige Investitionen zu einer wirklichen Abfederung des Preisschocks sowie für Klimagerechtigkeit und Energieunabhängigkeit. Begründet wird dies unter anderem – und wie sollte es anders sein – mit den steigenden Preisen für Kredite (Schieritz 2023). Eine aktive Reduktion der Preise essenzieller Produkte durch die Politik, etwa durch eine Senkung oder Abschaffung der Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel, ist mit dieser Regierungskoalition und unter Finanzminister Lindner offenbar nicht einmal einer Diskussion würdig.

Eine zentrale kurzfristige, progressive Forderung für den Weg aus der Krise lautet daher: runter mit dem Leitzins. Über die hier breit diskutierte akute Verschlimmbesserung hinaus hat die restriktive Geldpolitik nicht nur negative Auswirkungen für Deutschland, Europa oder die USA – sie betrifft in besonderem Maße Staaten im globalen Süden. Da die Staatsschulden in den Peripherien oft in Dollar oder Euro notiert sind, laufen sie bei Aufwertungswettläufen wie dem momentanen Leitzins-Pingpong zwischen EZB und FED erhöhte Gefahr, in eine Schuldenfalle zu geraten. Der Ausweg aus dieser Situation hängt dann, wie beispielsweise im aktuellen Falle Ghanas, vom Gutdünken privater Finanzinstitute und des Internationalen Währungsfonds ab. Der Bevölkerung vieler hoch verschuldeter Länder im globalen Süden droht damit der immer wiederkehrende Fluch der Austeritätspolitik und weitere Prekarisierung (Fix 2023Jaspert 2023Höfgen 2023) . In diesem Kontext bedarf es der Streichung von Staatsschulden, wie sie etwa die Bewegung Debt for Climate fordert, um die ohnehin schon gebeutelte Bevölkerung und die lokalen Ökonomien zu entlasten, lokale Souveränität und die Finanzierung einer grünen Energieherstellung zu ermöglichen (Jaspert et al. 2023).

In Deutschland, Europa und den USA müssen, parallel zur Senkung des Leitzins Umverteilungsmaßnahmen erstritten werden. Wenn es sich bei den momentanen Preissteigerungen um eine Profit-Preis-Spirale handelt, dann bedarf es neben einer Übergewinnsteuer auch Preisobergrenzen sowie Lohnsteigerungen. Der Erhalt der Reallöhne muss dabei die absolute Minimalforderung darstellen. Zentrales Instrument zur Erreichung dieser Ziele sind offensiv geführte Arbeitskämpfe (siehe Boewe 2023). 

Wenngleich kurzfristig sinnvoll, sind genannte Maßnahmen doch bloß kleine Pflaster auf einem gebrochenen Bein. Zur mittel- bis langfristigen Bekämpfung der Strukturen, die die derzeitige Multikrise erst möglich gemacht haben, bedarf es der Vergesellschaftung der Ressource, auf der unsere Wirtschaft und unser gesellschaftliches Leben fußt: Energie. Kampagnen wie „RWE & Co Enteignen“ zeigen eine Stoßrichtung an, die sich zu verfolgen lohnt (RWE & Co Enteignen 2023). Die Vergesellschaftung im Sinne einer Konversion „von unten“ zu treiben und mit einer ökologischen Transformation zu koppeln, scheint ein besonders vielversprechender Ansatz (Kaiser 2023). 

Die politische Unabhängigkeit technokratischer Zentralbanken und die wirtschaftliche Einflusssphäre privatwirtschaftlicher Banken, dessen Geldschöpfungsprivileg zwar reglementiert, aber weder sozial noch ökologisch ist, werden von neoliberalen Ökonom*innen als höchstes Gut der Freiheit verehrt. Beide fußen auf der Mobilisierung von Ressourcen und Arbeit im Sinne der besitzenden Klassen – sie werden naturalisiert und entpolitisiert. Die Mobilisierung von Ressourcen und Arbeit ist jedoch immer und ganz explizit politisch. Die gegenwärtige ‚Inflation‘ ist ein Verteilungskonflikt. Die neoklassische Ideologie mobilisiert Zentralbanken und die Erhöhung der Leitzinsen als Instrument der Umverteilung von unten nach oben. Langfristiges Ziel bleibt die Demokratisierung von Wirtschaft, Kreditvergabe und Geldpolitik – damit die Produktion im Sinne Aller und nicht der Wenigen gestaltet und eingesetzt werden kann.

[1] Vielen Dank an Ludi Pesarini für das sehr wertvolle Feedback zum Text.

[2] Wenn nicht explizit anders benannt, stammen die Zahlen und Daten aus diesem Artikel aus der Datenbank Refinitiv: Eikon und wurden am 10. & 27. März 2023 erhoben. CPI & PPI- Daten stammen aus der Datenbank Bloomberg Terminal und wurden am 05.04.2023 erhoben. 

[3] R² ist eine statistische Kennzahl zwischen 0 und 1, die den Grad der Korrelation zwischen zwei Faktoren angibt. Je dichter der Wert an 1 ist, desto höher die Korrelation. 

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