Die Debatte um die derzeitige ‚Inflation‘ ist in vollem Gange. Strittig sind nicht nur Ursachen, sondern vor allem die zur Bekämpfung eingesetzten Instrumente.[1] Die Erzählung einer nachfragebasierten Inflation, an die sich vor allem neoliberale und neoklassische Ökonom*innen klammern, scheint im Licht aktueller Studien und Erkenntnisse nicht mehr lange haltbar. Allmählich setzt sich selbst in den Führungsetagen der Europäischen Zentralbank (EZB) und Federal Reserve (FED) die Ansicht durch, dass die aktuelle Geldentwertung nicht durch eine zu hohe Geldmenge, sondern durch angebotsseitige Schocks ausgelöst wird (Panetta 2023; Schneider 2023). Im Klartext: Die Preiserhöhungen im Energie-sektor sind für die gegenwärtige Geldentwertung verantwortlich – nicht die lockere Geldpolitik der Zentralbanken. Daraus ergibt sich notwendig, dass Geldpolitik nicht der Schlüssel zur Bekämpfung der Preissteigerungen sein kann und es anderer Instrumente zum Bremsen der Geldentwertung bedarf. Diskussionen um die Ursachen von Inflation sind keine Entwicklung des 21. Jahrhunderts, sondern stehen seit Beginn der modernen Wirtschaftswissenschaften im Zentrum ihrer Debatten. Dabei gibt es zwei Erklärungsansätze: jenen der angebotsseitigen und jenen der nachfragebasierten Inflation (Ingham 2020, 48ff.).
Die Anhänger*innen der nachfragebasierten Inflationstheorien sehen die Gründe für Inflation in einem Missverhältnis von Kaufkraft zu Warenmenge. Dadurch, dass Arbeiter*innen oder Staat aufgrund hoher Löhne oder Staatsverschuldung über zu viel Geld im Verhältnis zur real existierenden Warenmenge verfügen, sind Unternehmen gezwungen, die Preise zu erhöhen. Arbeiter*innen reagieren auf die Preissteigerungen mit der Forderung nach höheren Löhnen. So setzt sich die oft vorgebrachte Lohn-Preis-Spirale in Gang. In ihrer Folge steigen Preise quasi automatisch und Geld entwertet sich. Aus dieser Ansicht ergeben sich drei politische Handlungsoptionen: restriktive Geldpolitik, Sparkurs der Regierung sowie Verhinderung von Lohnerhöhungen. Konservative und Liberale Ökonom*innen berufen sich zumeist auf diese nachfragebasierte Inflationstheorie, um politischen Forderungen nach restriktiver Geldpolitik, Streik- und Lohnverzicht wie auch Sparkurs in der öffentlichen Daseinsvorsorge zu legitimieren.
Auf der Gegenseite steht das Modell der angebotsseitigen Inflation. Dieser Ansatz vermutet die Ursachen für steigende Preise zuerst bei denjenigen, die die Preise für Waren setzen. In einer mehrheitlich profitorientiert und privat organisierten Wirtschaft sind das zuallererst Unternehmen. Der neoliberale Flügel der angebotsbasierten Erklärungsversuche beharrt darauf, dass die Kräfte des freien Marktes und das Gesetz von Angebot und Nachfrage den perfekten Preis für ein Gut setzen. Unternehmen tragen in dieser Logik keine Verantwortung für steigende Preise. Aus kritischer Perspektive ist diese Position zu verwerfen. Unternehmen im Kapitalismus agieren nicht in einem unsichtbaren Netz oder gar im Sinne der Gesellschaft, sondern profitorientiert sowie in enger Interaktion mit ihren Zuliefer*innen und Abnehmer*innen. Die Preise, die Unternehmen setzen, hängen also nicht von abstraktem Gesamtangebot oder Nachfrage eines Gutes ab, sondern von ihrer Machtposition gegenüber anderen Wirtschaftsakteur*innen und der erwarteten Profitrate (White/Godart 2007). Anhänger*innen dieser Theorien, unter ihnen viele Keynesianer*innen, vermuten hohe Marktmacht, Abhängigkeitsbeziehungen und Profitdruck als zentrale Treiber der Geldentwertung. Auf dieser Basis sind Unternehmen in der Lage, Absatzpreise in die Höhe zu treiben und damit je nach Sektor auch das gesamtwirtschaftliche Preisniveau. In diesem Sinne bietet es sich an, von einer Profit-Preis-Spirale zu sprechen. Während Geldpolitik ein vernachlässigtes Feld kritischer Diskussionen ist, findet sich meist ein schneller Konsens darüber, dass weder Reallohnkürzungen noch grundsätzlicher Sparkurs des Staates gesellschaftlich erstrebenswert sind.
Zwar gibt es durchaus Fälle nachfragebasierter Inflation, jedoch lassen Studien über die aktuelle Kaufkraftminderung keinen Zweifel an ihrer Ursache: Sie wird primär durch Profite von Großkonzernen, sowie durch hohe Energiepreise getrieben. Relevant sind weiterhin die Auswirkungen der Covid-Pandemie und des Ukraine-Kriegs auf globale Lieferketten (Ferguson/Storm 2023; Weber/Wasner 2023). Weitgehende Einigkeit herrscht auch darüber, dass die negativen Folgen der ‚Inflation‘ primär die unteren Klassen treffen – während Besitzer*innen von Unternehmen und Finanztiteln unbeirrt dicke Renditen einstreichen (Canepa 2023; Durand 2022, 46; Sonti / Jason 2022 ). Bisher wenig beleuchtet sind die konkrete Marktmacht, Abhängigkeitsbeziehungen und der Profitdruck, die hinter den aktuellen Teuerungen stehen und sie vorantreiben. Mit diesem Text versuchen wir auf Basis eigener empirischer Untersuchungen[2] sowie aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse und Diskurse einen Teil dieser Lücke zu schließen und aus kritischer Perspektive zu einer produktiven Diskussion um Ursachen und sich daraus ergebenden Handlungsfeldern beizutragen.
Fossile ›Inflation‹?
Die Ursachen der steigenden Preise lassen sich zunächst auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine und die damit vermeintlich entstandenen Brüche in fossilen Abhängigkeitsbeziehungen zurückführen. Zu Beginn des Krieges ließen diese die bereits durch die Covid-19-Pandemie gestiegenen Preise für Futures und Forwards für Öl und Flüssiggas (LNG) weiter in die Höhe schießen. Der Import fossiler Energieträger aus Russland in die EU wird zwar stetig reduziert, ist jedoch nach wie vor nicht vollständig eingestellt (The Economist 2023).
Rohöl-Produzenten*innen waren ungeachtet des Herkunftslands von Anfang an zentrale Profiteure des Krieges. Doch auch Strom-Hersteller*innen bekamen einen überproportional großen Teil des Kuchens ab. In Deutschland etwa orientiert sich der allgemeine Energiepreis auf Basis des Merit-Order-Prinzips am höchsten Erzeugungspreis im Markt. Wenn Preise für die Energieproduktion mit Öl und Gas steigen, treibt dieser Mechanismus den allgemeinen Preis für Energie massiv in die Höhe. Besonders seit Beginn der Pandemie und auch während des aktuellen Kriegsgeschehens sind die Profite der Energiekonzerne massiv durch die Decke gegangen (Wilson / Brower 2023). Trotz all der Diskussion um Deutschlands besonders prekäre Abhängigkeit von fossilen Energieträgern, sind deutsche Unternehmen hier keine Ausnahme. RWE etwa konnte seinen Börsenwert seit 2018 bis heute von 13,3 auf 32,1 Milliarden US-Dollar steigern, der jährliche Profit hat sich im selben Zeitraum mehr als verdreifacht. Auch der Börsenwert von E.ON ist im selben Zeitraum von 21,4 auf 33,8 Milliarden US-Dollar gestiegen, bei einer zeitgleichen Netto-Profitsteigerung von jährlich 1,4 auf 1,9 Milliarden US-Dollar.
Die Ursachen für den Preisschock liegen also in Abhängigkeiten von fossilen Brennstoffen. Diese Entwicklung ist in einem längeren historischen Kontext zu betrachten. Große fossile Rohstoffunternehmen agieren in der globalen Wirtschaft als Market-Maker und nutzen ihre Machtposition und die allgemeine Abhängigkeit von schnell verfügbarer und günstiger Energie für sich aus – nicht erst seit kurzem. Wie Timothy Mitchell in seinem Buch ‘Carbon Democracy’ aufzeigt, war künstliche Verknappung des neu erschlossenen Rohstoffs schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Instrument, das Öl-Unternehmen zur Monopolbildung nutzten. Die aus dieser Konstellation entstehende Macht war und ist weiterhin ein Instrument zahlreicher Regierungen, um Kontrolle über die Bevölkerung auszuüben. In ähnlicher Weise konnten im Kontext des Ölpreisschocks 1973 und in Folge der Verstaatlichung des Öls im Nahen Osten Unternehmen und Regierungen der in der Organisation Erdölexportierender Länder (OPEC) organisierten Staaten Kontrolle über den Markt ausüben. Ölfirmen haben von Beginn der fossilen Energiegewinnung an durch ihre Kontrolle über die Wertschöpfungskette Politik in ihrem Sinne gestaltet (Mitchell 2013). Dieser Mechanismus hat bis zum heutigen Tage Kontinuität. So wurde etwa während des ersten Lockdowns im Zuge der Covid-19-Pandemie die Ölfördermenge durch die OPEC-Staaten stark reduziert, um so die gesunkene Nachfrage abzufedern und eine Schmälerung der Profitraten zu verhindern. Anfang April dieses Jahres einigten sich die OPEC+-Staaten (Bestehend aus den OPEC-Staaten sowie 10 Kooperationspartner*innen) auf eine Reduzierung der Fördermenge im Rahmen eines Preiskampfs mit den USA.