Sie weisen damit auf die Gefahr hin, dass das kapitalistische System in der derzeit vorherrschenden neoliberalen Form nicht nur das globale Ökosystem dramatisch schädigt, sondern auch durch fehlende staatliche Aufwendungen in Bildung, Gesundheit und Pflege die Grundlagen der sozialen Reproduktion zerstört. Dieser These schließe ich mich an, halte die Analyse der Reproduktionskrise aber für verkürzt. Ein wichtiger ökonomischer und sozialer Bestandteil gesellschaftlicher Arbeit bleibt ausgeblendet – die Reproduktionsarbeit, die sich ebenfalls in der Krise befindet. Unter Reproduktionsarbeit verstehe ich die nichtwarenförmige, am Gebrauchswert orientierte Arbeit, mit der primär in familiären Bereichen die eigene oder die Arbeitskraft anderer wiederhergestellt wird. Im Folgenden stelle ich Bedeutung und Wandel in der Reproduktionsarbeit, mit einem Schwerpunkt auf der Sorgearbeit dar. Vor dem Hintergrund der Krise der Reproduktionsarbeit entwickele ich das Konzept einer Care Revolution, die ausgehend von feministischen Erkenntnissen eine sozialistische Transformation erweitern und unterstützen kann. Dabei greife ich den von Georg Fülberth (2009) kreierten Begriff »Pink-Grey-Red-Revolution« auf. Er fordert dazu auf, sich neben notwendiger Lohnsteigerung (red) auch für die Ausweitung des Vor- und Grundschulbereichs (pink) sowie die Aufwertung der Pflege (grey) einzusetzen. Hier fehlt allerdings die Farbe purple oder violet und damit ein Verweis auf die primär von Frauen ausgeführte Reproduktionsarbeit und damit ein politisches Konzept für deren Gestaltung.
KRISE DER REPRODUKTIONSARBEIT
Das alte Familienernährermodell, wie es in der BRD in den 1960er und Anfang der 1970er Jahre gängig war, hat ausgedient. Damals übernahmen fast ausschließlich Ehefrauen alle Reproduktionsarbeiten und waren im Gegenzug über den Familienlohn und die Kranken-, Berufsunfähigkeits-, Renten- und Arbeitslosenversicherung des Familienernährers sozial abgesichert. Mit dieser Regulierung wurde allerdings die patriarchale Abhängigkeit aufrechterhalten, gegen die sich die Frauenbewegung seit den späten 1960er Jahren gewehrt hat. Mit den Wirtschaftskrisen ab Mitte der 1970er Jahre wurde das Ernährermodell zusehends instabil. Reallohnsenkungen führten dazu, dass es bis weit in den Mittelstand hinein nicht mehr möglich war, mit einem Lohn alleine eine Familie zu ernähren. Gleichzeitig stieg die Frauenerwerbstätigkeit kontinuierlich an. Heute ist das neoliberale Konzept der Eigenverantwortung vorherrschend, wonach alle aufgerufen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen und für die eigene Existenzabsicherung selbsttätig zu sorgen. Verantwortlich für die Reproduktionsarbeiten wie Kindererziehung und Pflege unterstützungsbedürftiger Familienangehöriger bleiben allerdings weiterhin primär Frauen, da es kaum Veränderungen in den traditionellen familiären Geschlechterarrangements in Bezug auf Haus- und Sorgearbeit gibt.
Die Konsequenz: Viele Frauen finden sich heute in einer Art Reproduktionsfalle wieder. Zwar sind sie – wie durchaus auch von ihnen gewünscht – erwerbstätig, werden dabei aber mit zunehmenden Flexibilitätsansprüchen der Unternehmen, kontinuierlich steigendem Leistungsdruck, verlängerten Arbeitszeiten sowie sinkenden Reallöhnen konfrontiert. Gleichzeitig steigen die Anforderungen an die eigene Gesundheit und Bildung ebenso wie die Anforderungen an die Kindererziehung und die Betreuung von unterstützungsbedürftigen Erwachsenen. In einer Art Spagat setzen sie alles daran, die beruflichen Anforderungen mit den größer werdenden Aufgaben der Selbstorganisation und den gestiegenen Leistungsansprüchen in der Reproduktionsarbeit zu vereinbaren. Dies führt zu Überbeanspruchung und Überlastung.
Nur wenige können es sich leisten, diese Doppelbelastung dadurch zu vermindern, dass sie eine Hilfskraft, oft eine schlecht bezahlte Migrantin, für Hausarbeit, Kinderbetreuung und Pflegetätigkeiten beschäftigen. Viele Frauen reduzieren ihre Erwerbsarbeitszeit, was die beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten verschlechtert und im Falle einer Trennung vom Ehepartner oder der Ehepartnerin dazu führt, dass sie ihre soziale Absicherung verlieren (zumal mit der neuen Unterhaltsreform). Da es für viele Menschen mit hohen Sorgeverpflichtungen keine zufriedenstellenden Auswege aus dem geschilderten Dilemma gibt, spreche ich von einer Krise der Reproduktionsarbeit (vgl. Winker 2007).
Im Gegensatz zur Lohnarbeit spielt die Reproduktionsarbeit im politischen Handeln bislang keine Rolle. Die derzeitige politische Regulierung ist beinahe ausschließlich darauf ausgerichtet, mit Wachstum welcher Art auch immer – oft mit vagen Erfolgsaussichten – die Profitmaschine wieder flott zu machen. Die grundlegenden Bedürfnisse und Interessen vieler Bürger und Bürgerinnen werden dagegen nicht ernst genommen. So reduziert die derzeitige Bundesregierung weiter die soziale Absicherung, um durch die eingesparten Kosten verbesserte Rahmenbedingungen für eine hohe Profitabilität des Kapitals zu schaffen. Nachdem die vorletzte rot-grüne Regierung mit Hartz IV das Fundament der Arbeitslosenversicherung zerschlagen hat und die letzte schwarz-rote Regierung mit dem Ausbau des Niedriglohnbereichs und einer Rente ab 67 die Rentenversicherung durchlöchert hat, macht sich die derzeitige schwarz-gelbe Regierung daran, die Krankenversicherung auf Kosten der Versicherten zu sanieren mit dem Ergebnis, dass der schleichende Leistungsabbau beschleunigt wird.
Damit verbundene neue Problematiken wie Armut, fehlende soziale Absicherung, ungenügende Versorgung bei gesundheitlicher Beeinträchtigung fallen als neue Anforderungen auf die in privater Verantwortung tätigen Reproduktionsarbeitenden zurück. Durch die schrittweise Abkehr von einer grundlegenden gesellschaftlichen Absicherung bei Krankheit, Erwerbslosigkeit und im Alter wird auch die Reproduktionsarbeit zusehends prekarisiert. Unterstützungsbedürftige müssen nicht nur umsorgt, sondern mit den wenigen ihnen zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln ernährt und gepflegt werden. Die Kranken erhalten keine ausreichenden Versorgungsleistungen aus dem Gesundheitssystem, vielmehr sollen die Lücken von pflegenden Familienmitgliedern ausgefüllt werden. Ähnlich dramatisch sind die Verhältnisse im Bildungsbereich: Lernprozesse von Kindern sind in überfüllten Klassen mit überforderten Lehrpersonen nicht mehr zu realisieren und Familien werden zu Nachhilfebetrieben. Sorgearbeitende benötigen ein ausgeklügeltes System des Zeitmanagements, um die vielfältigen Aufgaben überhaupt realisieren zu können, nicht selten bricht ein solch prekäres System zusammen.
SORGEARBEIT INS ZENTRUM LINKER POLITIKEN RÜCKEN
Es ist die in erster Linie von Frauen ausgeführte Reproduktionsarbeit, die für den einzelnen umsorgten Menschen von Bedeutung und damit grundlegender Bestandteil einer menschenwürdigen Gesellschaft ist. In Deutschland überschreiten all die genannten Reproduktionsarbeiten in ihrem Umfang die Erwerbsarbeit um mindestens ein Drittel (vgl. BMFSFJ 2003 und auch Madörin 2007). Dennoch gibt es im Gegensatz zur Debatte um die Lohnarbeit keinen politischen Diskurs dazu, wie und unter welchen Bedingungen Reproduktionsarbeit sinnvoll und Menschen angemessen ausgeführt werden kann. Im Gegenteil, diese Arbeit ist »unsichtbarer denn je« (Barbara Duden, 2009).
Mit einem Aufruf zur Care Revolution fordere ich dazu auf, das strategische Schweigen der Politik zu durchbrechen und die stereotyp mit Frauen verbundene und abgewertete Sorgearbeit in ihrer Bedeutung und Gestaltung gesellschaftlich neu zu bewerten. Betreuungs- und Pflegetätigkeiten können nicht weiter einzelnen, zumeist weiblichen Individuen auferlegt werden. Darüber hinaus ist es nicht sinnvoll, Reproduktionstätigkeiten wie Kindererziehung oder Pflege dem Profitstreben zu unterwerfen wie jede andere Ware. Care Revolution bedeutet vielmehr, die Reproduktionssphäre mit den für alle Menschen enorm wichtigen Aufgaben in Bildung und Erziehung, Gesundheit und Pflege in das Zentrum von politischem Handeln zu stellen. Ziel soll es sein, allen Menschen Muße für sich und Zeit für Sorgearbeit zu ermöglichen bei gleichzeitiger sozialer Absicherung, anstatt sie weiterhin einer Doppelbelastung und fehlender sozialer Absicherung auszusetzen. Dabei geht es um nicht weniger als die Forderung, dass nicht Profitmaximierung, sondern die Erfüllung menschlicher Lebensbedürfnisse das Ziel gesellschaftlicher Transformationen sein sollte.
Um dieses Ziel zu erreichen, halte ich folgende vier politische Handlungsschritte für wichtig:
1 | Um sich überhaupt für familiäre, nachbarschaftliche oder ehrenamtliche Reproduktionsarbeit entscheiden zu können, ist eine radikale Erwerbsarbeitszeitverkürzung mit Lohn- und Personalausgleich notwendig.
2 | Der Ausbau dezentraler öffentlicher Bereiche ist zur Unterstützung familiärer Reproduktionsarbeit unerlässlich. Wichtig ist dabei ein Netz außerfamilialer, staatlicher oder genossenschaftlich angebotener Dienstleistungen in Bildung, Gesundheit, Sozialen Diensten und Pflege bei gleichzeitiger Demokratisierung dieser Bereiche. Viele Tätigkeiten, die derzeit im Bereich der individuellen Sorgearbeit oder im Bereich des Ehrenamtes ausgeführt werden, können gemeinschaftlich wesentlich sinnvoller und mit höherer Qualität organisiert werden. Diese Dienstleistungen gilt es von professio nell ausgebildetem Personal steuerfinanziert ohne Gebühren anzubieten.
3 | Dazu muss der Ausbau personennaher Dienstleistungen mit einer finanziellen und normativen Aufwertung dieser Erwerbstä- tigkeiten einhergehen. Es ist völlig unangemessen, dass Arbeit mit und an Maschinen deutlich besser bezahlt wird als die Pflege von Menschen. Mit der Aufwertung von bezahlter Care Work in Verbindung mit humanen Aufenthaltsgesetzen ließen sich auch die finanziellen und rechtlichen Arbeitsbedingungen von Haushaltsangestellten mit Migrationshintergrund in der Betreuungs- und Pflegearbeit verbessern. Diese werden weitgehend als »Dienstmädchen« gesehen, illegalisiert und schlecht bezahlt.
4 | Eine grundlegende soziale Absicherung für Kinder und Erwachsene ohne Erwerbstätigkeit ist notwendig, die auf qualitativ hohem Niveau die menschlichen Bedürfnisse im Bereich Nahrung, Wohnung, Bildung und Gesundheit abdeckt. Hier bietet sich das Konzept des Bedingungslosen Grundeinkommens an, das ohne Bedarfsprüfung an jedes Individuum gezahlt wird und in der Höhe so ausgestattet ist, dass es die Existenz sichert und gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht; »bedingungslos« muss dabei bedeuten, ohne Zwang zur Erwerbsarbeit oder zur Reproduktionsarbeit für Dritte.
Im Rahmen von Realpolitik geht es darum, einen Ausbau von personennahen Dienstleistungen zu realisieren, die zeitliche Reduktion von Erwerbsarbeit durchzusetzen und damit Arbeit im ganz umfassenden Sinne umzuverteilen, und das bei gleichzeitiger sozialer Absicherung. Mit diesen Politik ansätzen, die professionelle Dienstleistungen in staatlichen Institutionen und gut entlohnte Haushaltsarbeiterinnen verbinden mit familiären Reproduktionstätigkeiten, die mit Zeit und existenzieller Absicherung der AkteurInnen erfolgen, eröffnen sich für viele Personen neue Handlungsmöglichkeiten. Eine solche Politik würde es auch Personen mit hohen Sorgeverpflichtungen ermöglichen, Muße neu zu erleben und oft schon gar nicht mehr wahrgenommene Wünsche zu realisieren. Die dargestellten Maßnahmen, die für eine ökonomisch hoch entwickelte demokratische Gesellschaft als Selbstverständlichkeit gelten müssten, lassen sich nicht leicht durchsetzen, da sie kostenintensiv sind und Profitraten beeinträchtigen – denn der kapitalistische Akkumulationsprozess ist auf unbezahlte Reproduktionsarbeit angewiesen, sie senkt die Kosten der Ware Arbeitskraft und erhöht insofern den kapitalistischen Profit.
Insofern kann ein konsequentes politisches Argumentieren im Sinne der Care Revolution zur Verbreiterung der Erkenntnis beitragen, dass menschliche Grundbedürfnisse nicht auf dem Wege profitorientierter Kapitalakkumulation, sondern nur durch gemeinschaftliches Handeln und demokratisch organisierte Institutionen zu verwirklichen sind. Dafür ist es wichtig, einen umfassenden Arbeitsbegriff inklusive der Reproduktionsarbeit ins politische Zentrum zu rücken sowie eine konsequente Umverteilungspolitik zur Absicherung der Lebensperspektiven für jede und jeden voranzutreiben – wie von Feministinnen seit Jahrzehnten gefordert. In diesem Sinne einer Care Revolution kann ein an Reproduktionsarbeit orientiertes feministisches Denken und Handeln eine neu gewendete Debatte um sozialistische Visionen eröffnen. Das wäre wünschenswert!
LITERATUR
Brie, Michael, 2008: Auswege aus der Krise des Neoliberalismus, http://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/ MBrie_Auswege.pdf
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ)/Statistisches Bundesamt (Hg.), 2003: Wo bleibt die Zeit? Die Zeitverwendung der Bevölkerung in Deutschland 2001/02, Berlin
Candeias, Mario, 2009: Die Krise und der Neoliberalismus, in: Mario Candeias, Rainer Rilling (Hg.): Krise. Neues vom Finanzkapitalismus und seinem Staat, Berlin, 10–36
Duden, Barbara, 2009: Arbeit aus Liebe, Liebe als Arbeit. Ein Rückblick, in: Olympe. Feministische Arbeitshefte zur Politik, Heft 30, 16–26
Fülberth, Georg, 2009: Wieder einmal Krise? in: Luxemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Politik, Nr. 1, 52–57
Madörin, Mascha, 2007: Neoliberalismus und die Reorganisation der Care-Ökonomie. Eine Forschungsskizze, in: Jahrbuch Denknetz 2007, 141–62
Winker, Gabriele, 2007: Traditionelle Geschlechterordnung unter neoliberalem Druck. Veränderte Verwertungs- und Reproduktionsbedingungen der Arbeitskraft, in: Melanie Groß; Gabriele Winker (Hg.): Queer-|Feministische Kritiken neoliberaler Verhältnisse, Münster, 15–49