Der Sieg der Befürworter*innen des Rechazo – der Ablehnung des neuen Verfassungsentwurfes – ist vernichtend. Umfragen hatten diesen zwar prognostiziert, das endgültige Ergebnis fiel jedoch noch eindeutiger aus als erwartet.


Ich gehe davon aus, dass viele progressive Akteure in Chile und weltweit in ihrer Analyse nun folgende Punkte stark machen werden: Vermutlich wird man argumentieren, dass die Zusammensetzung des Verfassungskonvents, der von linken und unabhängigen Kanditat*innen dominiert war und in dem die Rechten über keine Sperrminorität verfügten, den konservativen Kräften keine Anreize geboten hat, zu den strittigen Punkten eine Einigung zu erzielen. Man wird den Schluss ziehen, dass der Textentwurf am Ende doch zu fortschrittlich war, um die chilenische Gesellschaft als Ganzes zu repräsentieren. Und man wird zu der Auffassung gelangen, dass der Entwurf deshalb gescheitert ist, weil er letztlich nur die Linke repräsentierte, während im Gros der chilenischen Gesellschaft doch sehr konservative Vorstellungen über Gesundheit, Bildung oder Renten vorherrschen. Einige werden einräumen wollen, dass die chilenische Gesellschaft durch den jahrzehntelangen Neoliberalismus Angst vor dem Öffentlichen und eine ehrfürchtige Bewunderung für das Private entwickelt habe. Und sicherlich wird auch zu hören sein, dass die Plurinationalität, die umfassende Anerkennung indigener Ansprüche, die Achillesferse des Prozesses gewesen sei, da sie den latenten anti-indigenen Nationalismus verstärkt habe. Womöglich könnte sogar argumentiert werden, dass der feministische Charakter des Entwurfs zu viel war für Chile und, dass auch Themen wie Tierrechte die chilenische Landbevölkerung von dem Entwurf entfremdet hätten.


Wenn sich diese Analyse durchsetzt, steht fest, dass der verfassungsgebende Prozess, sollte er wieder aufgenommen werden können, einen Text produzieren muss, der zumindest für einen Teil des rechten Spektrums akzeptabel ist. Mit diesem gelte es daher ab sofort in Dialog zu treten und Abmachungen zu treffen.


Diese hier knapp skizzierten Sichtweisen entsprechen den gängigen Auffassungen zur politischen Geschichte Chiles, welche das Projekt von Präsident Allende und der Unidad Popular in dem Moment als gescheitert betrachten, als es nicht gelang, die Christdemokratie für ein historisches Bündnis zu gewinnen. Der italienische Eurokommunist Enrico Berlinguer wird dieses Bündnis später als unvermeidlichen Kompromiss bezeichnen. In diesem Zusammenhang wird davon ausgegangen, dass die wichtigste Lehre aus der Transition, dem Wandel des politischen Systems nach der Militärdiktatur ab 1988 sowie aus den Erfahrungen der Concertación, dem breiten Bündnis von Mitte-links-Parteien, das von 1988 bis 2013 bestand, immer noch ihre Gültigkeit hat. Worin besteht diese Lehre? Im Grunde genommen darin, dass es in Chile nicht möglich ist, ohne die Zustimmung eines Teils des rechten Spektrums zu regieren.


Kein Aspekt dieser Analyse ist dumm. Im Gegenteil, sie verweist auf viele wichtige Schlüsselmomente der vergangenen sowie der aktuellen politischen Realität des Landes. Meines Erachtens würde diese Betrachtungsweise jedoch zu einem absurden Defätismus führen, wenn nicht auch die zentrale Bedeutung berücksichtigt wird, die den Wirkmechanismen der Ideologie als Hauptschauplatz des politischen Kampfes von jeher (und erst recht in diesem Prozess) zukommt. Denn eines ist klar: Ideologie und ihre Strukturen sind niemals einfach Konsens, sie sind vielmehr das vorläufige und häufig widersprüchliche Ergebnis blutiger Kämpfe zwischen neuen und etablierten Narrativen.


Was meine ich damit? Nun, interessant an dem Prozess, der jetzt mit der Niederlage der Befürworter*innen des Verfassungsentwurfs endete, ist, dass die wichtigsten ideologischen Akteure auf Seiten des Rechazo zurückgekehrt sind und ein Spiel gewonnen haben, das sie vor Monaten verloren hatten. Der Grund für die Meinungsänderung der chilenischen Mehrheit in diesen Monaten liegt jedoch keineswegs in der konkreten Ausgestaltung des Verfassungsentwurfs (der für die konservative chilenische Gesellschaft angeblich zu fortschrittlich ist), sondern im beharrlichen Wirken der wichtigsten ideologischen Akteure: der mächtigen Medien. Die chilenische Gesellschaft ist nicht notwendigerweise konservativ; sie war weder konservativ beim estallido social, der Revolte von 2019, noch als sie Gabriel Boric zum Präsidenten machte und die Linke, die er vertritt, zur führenden Kraft. Verschiedene Werte koexistieren und kämpfen in Gesellschaften – der politische und ideologische Kampf besteht im Wesentlichen darin, die einen oder die anderen zu aktivieren. 


Wenn ich von der Wirkung der Medien spreche, beziehe ich mich nicht nur auf Fake News und ihre bemerkenswerte Effektivität. Es geht auch um die Fähigkeit des chilenischen Mediensystems, die konservativen Werte anzusprechen, die in der Tat von einem großen Teil der Gesellschaft geteilt werden. Diese Werte koexistieren jedoch, wie gesagt, mit anderen progressiven und fortschrittlichen Werten, die die Linke allerdings vor allem wegen ihrer erheblichen Medienschwäche nicht anzusprechen vermochte. Wenn der ideologische Kampf über einen längeren Zeitraum andauert und nicht im Rahmen einer gesellschaftlichen Mobilisierung stattfindet (bei der ein Überraschungsangriff möglich ist), ist es fast unmöglich, diese Werte angesichts der Macht des Gegners zu aktivieren.


Es gibt wahrscheinlich kaum etwas, das ideologisch aufgeladener wäre als eine Verfassungsdebatte – eine Debatte über die Werte, die den Gesellschaftsvertrag eines Landes definieren. Wenn es sich dabei zudem um eine Debatte handelt, die über einen längeren Zeitraum hinweg geführt wird und deren zentrales Spielfeld die mediale Auseinandersetzung ist, liegt darin bereits der Schlüssel zum Verständnis des in den letzten Monaten durchlaufenen Prozesses. Ich habe dieses Terrain der Auseinandersetzung aufmerksam verfolgt, und zwei Dinge scheinen mir offenkundig: Zum einen die überwältigende Dominanz reaktionärer Kräfte im chilenischen Mediengefüge. Und zum anderen die Tatsache, dass die medial wahrnehmbaren Befürworter*innen des Apruebo – der Annahme des neuen Verfassungsentwurfes – ebenso wie die Regierungssprecher*innen, ständig mit den Themensetzungen ihrer medialen Gegner befasst waren – seien es die vermeintlichen »Privilegien« der Indigenen, oder der «enteignende» Charakter des Textes usw. Sie kamen kaum nach, ein permanentes Trommelfeuer von Fake News und Falschmeldungen zu widerlegen. 


Der Tag nach dem Referendum kennzeichnet in Chile den Beginn einer neuen Phase voller Hindernisse und Herausforderungen, die wir im Ausland auch deshalb mit großem Interesse weiterverfolgen werden, wie sie Auswirkungen auf Lateinamerika und linke Projekte in der ganzen Welt haben werden. Es bleibt zu hoffen, dass die Linke begreift, wie wichtig es ist, die Kräfteverhältnisse im Feld der Medien neu zu justieren und in ein anderes Gleichgewicht zu bringen. Dies ist eine notwendige Bedingung, um in den ideologischen Auseinandersetzungen Fortschritte zu erzielen und diese sind es, die letztlich das Wesen von Politik und sozialer Transformation ausmachen.


Aus dem Spanischen übersetzt von Camilla Elle