„Gleicht euch nicht dieser Welt an!“ (Römerbrief 12,2)

Interessant sind hingegen die vielen engagierten Menschen an der kirchlichen Basis, die als Akteure innerhalb der sozialen Bewegungen in Erscheinung treten und sie auch wesentlich mitprägen. Man denke etwa an die Antirüstungsexportkampage, die wesentlich von der katholischen Basisorganisation Pax Christi initiiert und getragen wurde; oder daran, dass sich einer der erfolgreichsten Zusammenschlüsse der letzten Jahrzehnte, das globalisierungkritische Netzwerk Attac, unter anderem einer Initiative aus dem christlichen Raum, der Kairos-Bewegung, verdankt. Hier lohnt es sich, näher hinzusehen. Christinnen und Christen haben ihr Selbstverständnis, sich aktiv in die Politik einzumischen, seit 1983 vor allem im „konziliaren Prozess“ für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung artikuliert. Auch wenn die Konziliare Versammlung 2012 in Frankfurt am Main den Beginn einer neuen Sammlungsbewegung basiskirchlicher und links-christlicher Initiativen markiert, so muss man doch feststellen: Innerkirchlich haben die unterschiedlichen Initiativen engagierter Christinnen und Christen durchaus auf verschiedenen Ebenen, bis hin zum Ökumenischen Rat der Kirchen, politische Positionierungen durchsetzen können, ihre Verankerung in den Ortsgemeinden, also unter dem Großteil der Kirchenmitglieder, ist aber eher schwach. In den Achtzigerjahren bot der konziliare Prozess die große Chance, auch die Ortsgemeinden mit diesen Themen zu erreichen. Diese Dynamik ist inzwischen abgeflaut. Für die katholische Kirche gilt überdies, dass der innerkirchliche Reformbedarf zu viele Kräfte bindet. Für die Anschlussfähigkeit an die säkularen Diskurse und die Bündnisfähigkeit mit säkularen gesellschaftlichen Kräften ist entscheidend: Linke Christinnen und Christen begründen die Inhalte ihres Engagements keineswegs im Kurzschlussverfahren mit ihrem christlichen Glauben. Es gibt für sie keine ‚christliche Politik’ im Sinne eines inhaltlichen Propriums. Politische Zielsetzungen leiten sich nicht aus einer religiösen Sondertradition her – auf diese Weise gerieten sie unter das Verdikt des Ideologieverdachts. Sie müssen intersubjektiv vermittelbar sein für alle, die eine humanistische ethische Grundposition im Sinne des unteilbaren Lebensrechts aller Menschen einnehmen. Die Rationalität politischen Handelns in diesem Sinne bedarf keiner Rechtfertigung ‚von außen’, sie rechtfertigt sich durch sich selbst. Der christliche Glaube kommt auf einer ganz anderen Ebene ins Spiel: auf der Ebene der Letztmotivation des eigenen Handelns. Unabhängig von der sozialen Analyse und der daraus sich ergebenden Formulierung politischer Positionen hat jede gesellschaftliche Praxis ihre unaufhebbare Existenzialität. Die richtige Analyse allein führt noch nicht zum gesellschaftlichen Engagement (vgl. Kern 2013, 21-36). Christinnen und Christen dieser Basisorganisationen sind sich bewusst, dass eine soziale Analyse niemals neutral sein kann. Das liegt in der Natur der Sache: Wenn es um eine Analyse der Gesellschaft geht, ist das analysierende Subjekt immer schon Teil des zu untersuchenden Gegenstands. Der eigene Standpunkt, der eigene soziale Ort, entscheidet darüber, welche Phänomene und Daten überhaupt als relevant wahrgenommen werden.  Ein unverstellter Blick auf das gesellschaftliche Ganze ist lediglich dann möglich, wenn der Standpunkt der Analyse bewusst bei denen gewählt wird, die vom gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang ausgeschlossen sind, bei denen, die keine ‚Systemrelevanz’ besitzen. Erst eine solche Parteilichkeit garantiert – paradoxerweise – Universalität. Christinnen und Christen haben diese Parteilichkeit im Anschluss an die lateinamerikanische Befreiungstheologie als „vorrangige Option für die Armen“ (ebd., 36-43) bezeichnet. Sie lässt sich auch säkular übersetzen, etwa durch den Marx’schen kategorischen Imperativ, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein geknechtetes, ein erniedrigtes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (MEW1, 385).

Die Transformation, um die es geht

Um die Rolle von Christinnen und Christen im gesellschaftlichen Transformationsprozess einschätzen zu können, stellt sich zunächst die Frage, um welche Transformation es eigentlich geht. Das alles andere bestimmende Vorzeichen ist das weltweite Wegbrechen der natürlichen Lebensgrundlagen, die sich abzeichnenden Grenzen der Tragfähigkeit der Erde und die zunehmende Verknappung natürlicher Ressourcen. Nimmt man etwa die Prognose des Münchener Fraunhoferinstituts zur Kenntnis, das in Bezug auf den Klimawandel bei business as usual von 900 Millionen bis 1,8 Milliarden zusätzlichen, nicht verteilungsbedingten Hungertoten ausgeht, dann kann das Fazit nur lauten: Die dringlichste soziale Frage überhaupt ist, global gesehen, die ökologische! Von daher verbietet sich jede nationale Verkürzung der sozialen Frage, die – in tarifpartnerschaftlicher Komplizenschaft – darauf zielt, die Früchte der Ausplünderung der natürlichen Ressourcen des Planeten im eigenen Land anders zu verteilen. Der linksliberale Mainstream suggeriert, dass ein Umsteuern mit rein technischen Mitteln möglich sei, ohne dass damit das kapitalistische Wirtschaftssystem mit seinem inhärenten Wachstumszwang in Frage zu stellen wäre. Prominentesten Ausdruck findet diese Position im Green New Deal, der eine Entkoppelung des – für die Stabilität des Systems notwendigen – BIP-Wachstums vom Energie- und Ressourcendurchsatz voraussetzt. Bei näherer Betrachtung zeigt sich allerdings, dass dies Wunschdenken ist. Der Energie- und Ressourceneinsatz müsste, um ein nachhaltiges Niveau zu erreichen, in den OECD-Ländern, bezogen auf das Ausgangsjahr 1990, bis zum Jahr 2050 um 90 % reduziert werden. Effizienzpotenziale sind in den hoch entwickelten Industrieländern weitgehend ausgeschöpft. Sie unterliegen ja grundsätzlich dem Gesetz des abnehmenden Ertrags. Erneuerbare Energien sind nicht unerschöpflich, haben ein beschränktes Potenzial und bedürfen selbst eines erheblichen Energieinputs. In Bezug auf erneuerbare Energien wird darüber hinaus die Debatte meist auf die Elektrizität verkürzt, die lediglich ein Fünftel unseres Endenergiebedarfs ausmacht. Von den anderen 80 %, also davon, wie wir unsere Mobilität, unseren Transport organisieren, unsere Hochöfen befeuern etc., ist hierbei noch gar nicht die Rede. Wer jenseits der Ideologie des Green New Deal den nüchternen Blick auf die Realität wagt, kommt um den Befund nicht herum, dass wir in naher Zukunft unter dem Strich wesentlich weniger Energie zur Verfügung haben. Damit steht aber nicht nur das auf Wachstum basierende kapitalistische System, sondern auch unser Typ von Industriegesellschaft in Frage![1] Ein solcher ‚Primat der Ökologie’ bedeutet keineswegs, dass der dringende Reformbedarf auf anderen Ebenen als weniger relevant eingeschätzt wird, im Gegenteil: Gerade angesichts des notwendigen industriellen Abrüstungsprozesses erhält etwa die Forderung nach sozialer Umverteilung hierzulande neue Brisanz. Die Mehrheit der Bevölkerung wird eine ökologische Transformation nur mittragen können, wenn es dabei einigermaßen gerecht zugeht und niemand um seine materielle Existenz fürchten muss. Und da soziale Konflikte angesichts des Endes des Wachstums nicht mehr durch mehr Wirtschafswachstum beschwichtigt werden können, stellen sich soziale Verteilungsfragen verschärft.[2]

Subjekte der Veränderung

Gesellschaftliche Akteure sind unter der Maßgabe zu beurteilen, ob sie dieser Herausforderung auf Augenhöhe begegnen. Unter den im konziliaren Prozess engagierten Christinnen und Christen lassen sich weitgehend konsensfähige Positionen erkennen, die in ihrem radikalen Anspruch der Situation durchaus gerecht werden. Jüngstes Beispiel ist etwa die Ökumenische Versammlung in Mainz, im Mai 2014. In der Schlussbotschaft wird nicht nur die Abkehr vom Wachstumsdogma gefordert, sondern es wird „die kapitalistische Anhäufungs- und Wachstumslogik“ (Ökumenische Versammlung 2014) klar als Kern des Problems identifiziert. Vor allem aber lieferte die Schlussbotschaft ein äußerst brisantes Stichwort: Angesichts der erforderlichen Reduktionsziele wurde ein Prozess „industrieller Abrüstung“ (ebd.) eingeklagt. Der sich abzeichnende Systemzusammenbruch mit allen sozialen Verwerfungen, die er nach sich ziehen würde, wird nicht als naturwüchsiges Ereignis in Kauf genommen, sondern es wird der Anspruch erhoben, die Situation im Sinne von Solidarität und gesellschaftlichem Zusammenhalt politisch zu gestalten: geordneter, geplanter Ausstieg als Alternative zum Zusammenbruch. Welche Entsprechung finden diese Einsichten bei anderen gesellschaftlichen Akteuren? Die derzeit im deutschen Bundestag vertretenen Parteien beziehen sich entweder geschlossen affirmativ auf ein weiteres BIP-Wachstum oder tun sich mit der Entwicklung von Alternativen zu diesem Modell sichtlich schwer. Die Gewerkschaften sind im Ringen um die ökologische Umgestaltung der Gesellschaft keine allzu verlässlichen Partner. Dies ist insofern nicht verwunderlich, als die kurzfristigen Interessen ihrer Klientel noch in weiten Teilen mit dem Paradigma einer ressourcenintensiven, industriellen Produktion verknüpft sind, und die Beschäftigten hierzulande noch überwiegend vom „Exportmodell Deutschland“ profitieren. Das macht die Situation schwierig. Erst jüngst bekannte sich der DGB-Kongress zur Notwendigkeit, Handelswege und den Zugang zu Rohstoffen militärisch zu sichern. Angesichts der EEG-Reform erlebte man den Schulterschluss mit den Industrieverbänden. Die Dienstleistungsgesellschaft ver.di spricht sich für den Braunkohletagebau aus und die Brandenburger LINKE kann die negative Positionierung der Bundespartei in dieser Frage politischen nicht durchhalten. Selbst geringfügige Korrekturen, wie etwa die Flugverkehrsabgabe, stoßen auf den Widerstand der Gewerkschaften. Dass die IG Metall heute Arbeitsplätze in der Rüstungsindustrie verteidigt, ohne Alternativkonzepte ins Spiel zu bringen, ist ein bedauerlicher Rückschritt. Umso wertvoller sind angesichts dieser Situation die zarten Pflänzchen oppositioneller Gruppen innerhalb der Gewerkschaften. Zu hoffen bleibt – ähnlich wie bei den Kirchen ‒, dass man mittelfristig wieder an die Situation der Achtzigerjahre anknüpfen kann, als die Notwendigkeit des ökologischen Umbaus selbst im Vorstand der IG Metall erkannt wurde, als Konversionskonzepte erarbeitet und Gespräche mit Friedens- und Umweltverbänden geführt wurden, als es in so mächtigen Konzernen wie Daimler oder Bayer einflussreiche oppositionelle Listen gab und als Austauschprogramme auf Betriebsratsebene der großen Metall- und Chemiekonzerne die internationale Solidarität innerhalb der Gewerkschaften beförderten. Genuin gewerkschaftliche Forderungen wie etwa der Kampf um Arbeitszeitverkürzung könnten hier durchaus Anknüpfungspunkte bieten. Das globalisierungskritische Netzwerk Attac ist mehrheitlich von altbackenen keynesianistischen ökonomischen Vorstellungen dominiert, die angesichts der Grenzen des Wachstums gar nicht mehr greifen können. Die Hilflosigkeit, mit der man hier etwa auf die weltweite Finanzkrise, die Eurokrise etc. reagiert, ist auf die Weigerung zurückzuführen, die Positionen im eigenen Kernbereich unter dem Vorzeichen des Endes des Wachstums neu zu durchdenken. Mit keynesianistischen Rezepten aus den Dreißigerjahren, die sich leicht als Sackgasse entlarven lassen, hat man der dominierenden Austeritätspolitik wenig entgegenzusetzen. Umweltverbände und Ökoinstitute verbreiten heute mehrheitlich – die erfreuliche Ausnahme bildet immerhin der BUND – die Ideologie des Green New Deal. Der bevorstehende Transformationsprozess wird m.E. entscheidend befördert von Bottom-up-Ansätzen, von gelebten Alternativen und eingeübten neuen Solidarstrukturen, wie sie sich heute etwa in den vielfältigen Formen Solidarischer Ökonomie, in der Transitiontown-Bewegung etc. artikulieren. Diese Graswurzel-Ansätze sind in mehrfacher Hinsicht bedeutsam: Sie machen den bevorstehenden Wandel konkret erlebbar, bauen Ängste vor Veränderungen ab und lassen neue solidarische Formen des Zusammenlebens einüben; vor allem aber können sie Keimzellen einer neuen gesellschaftlichen Organisationsweise sein, die, dezentral, mit einem hohen Maß von lokaler Autarkie und partizipativ entwickelt werden muss. Offen ist häufig noch die Frage, wie sich solche experimentellen Praxen so verallgemeinern lassen, dass sie über ein Nischen-Dasein hinauswachsen und wirkliche Transformation der Institutionen anstoßen können. Darauf geben die Graswurzel-Alternativen noch keine Antwort. Ich möchte hier meine Ratlosigkeit durchaus nicht verhehlen und habe als einzige Hoffnung anzubieten, dass sich mit zunehmend spürbar werdendem Problemdruck eine tendenziell systemüberwindende Logik gesellschaftlich leichter durchsetzen lässt – zunächst vermutlich in Teilbereichen, die unmittelbar die Daseinsvorsorge betreffen. Die radikaleren Kräfte in Gewerkschaften und politischen Parteien, die sich jetzt noch in einer Minderheitenposition befinden, könnten dann entscheidend werden – ebenso wie die radikaleren Protestbewegungen, die heute noch – wie etwa Klimacamp – recht schwache Pflänzchen sind. Im Übrigen hilft hier die Besinnung auf den weisen Hölderlin-Satz: „Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“

Ein spezifischer Beitrag der christlichen Tradition

Der Transformationsprozess wird nur dann gelingen, wenn er von einer Bevölkerungsmehrheit getragen wird. Im Gegensatz zum subjektlos funktionierenden Kapitalismus ist eine solidarische Gesellschaft auf die Köpfe und Herzen der Menschen angewiesen. Gerade deshalb ist es so gefährlich, weiterhin die Illusion zu nähren, der auch für breitere Bevölkerungsschichten so selbstverständlich gewordene materielle Wohlstand und die damit verbundenen eingeschliffenen Verhaltensweisen könnten bruchlos fortgesetzt werden. Wenn die Seifenblase dieses materiellen Wohlstands endgültig platzt und dies auch bei uns – wie anderswo in der Welt schon längst – spürbar wird, ist durchaus mit zunehmenden Rechts-Tendenzen im Inneren zu rechnen. Aber auch damit, dass kommende Rohstoffkriege von einer Bevölkerungsmehrheit mitgetragen werden, weil man das bisher so selbstverständlich Vorhandene als sein Recht empfindet. Christinnen und Christen könnte in diesem Kampf um die Köpfe und Herzen der Menschen eine nicht unwichtige Rolle spielen. Sie sind einerseits – anders als Interessensverbände – keinen Sonderinteressen bestimmter Gesellschaftsgruppen verpflichtet und verfügen zum anderen über Sinnressourcen, die durchaus auch für nicht religiöse Menschen inspirierend und ermutigend sein können. Dass unsere Jagd nach materiellen Superlativen mit der Verdrängung unserer Endlichkeit eng zusammenhängt, scheint auf der Hand zu liegen. Dass die verbissene Ausnutzung auch noch des letzten Quäntchens an Effizienzpotenzialen, das Setzen auf die Ingenieurskunst,  ‚gnadenlos’ im ganz eigentlichen Sinne des Wortes ist, ebenso. Und dass eine Kultur des Genug gerade angesichts des eschatologischen Versprechens eines „Lebens in Fülle“ (Johannesevangelium)  kein düsterer Asketismus ist, sondern ganz neue Möglichkeiten des Menschseins freisetzt – dies ist ein spiritueller Reichtum der christlichen Tradition, der, in den großen Strom des humanistischen Menschheitserbes insgesamt eingespeist, den dringend nötigen Paradigmenwechsel machtvoll befördern könnte.

Literatur

Heinberg, Richard 2011: The End of Growth, Gabriola Island/Kanada Kern, Bruno 2013: Theologie der Befreiung, Tübingen Marx, Karl ##: Deutsche Ideologie, MEW 1, Berlin

Ökumenische Versammlung 2014: Mainzer Botschaft, http://www.oev2014.de/botschaft/index.html


[1] Zur näheren Begründung vgl. Kern, Bruno: Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar, www.oekosozialismus.net
[2] Richard Heinberg macht in The End of Growth (2011) auf den Zusammenhang zwischen einem immer noch drohenden Finanzcrash und dem Ende des Wachstums aufmerksam, da die durch Privatkredite geschöpften Geldmengen nicht mehr durch reales Wirtschaftswachstum „unterfüttert“ werden können. Er fordert angesichts dieser gefährlichen Situation einen „general cut“, eine Reduzierung von Schulden und Vermögen gleichzeitig auf ein Zehntel.