Als spezifische Reproduktionskrise hat die AIDS-Krise seit den 1980er Jahren die Anfänge queerer Politikformen beeinflusst und den Queerfeminismus geprägt. Insbesondere in Ländern, in denen eine staatliche Unterstützung der Betroffenen zunächst – oder bis heute – ausblieb und das medizinische System aufgrund homo- und transphober Ressentiments weitgehend versagte, waren AIDS-AktivistInnen gezwungen, eigene Versorgungsstrukturen und kollektive Fürsorgeformen zu schaffen. Öffentlichkeitswirksame Proteste gegen staatliche Gesundheitspolitik und die Macht der Pharmakonzerne sowie Aufklärung und Fundraising waren also nur die eine Seite des AIDS-Aktivismus. Darüber hinaus entstand eine »community of care«. Der Aufbau von Selbsthilfestrukturen half, gegenseitige Unterstützung, die Versorgung von Kranken und Pflegebedürftigen sowie die Betreuung von Trauernden auf der Basis solidarischer Netzwerke zu sichern. Gleichzeitig ging es dabei nicht um eine separatistische Einkapselung. Staat und Gesellschaft sollten nicht von ihrer Verantwortung für die Sicherung der Reproduktion entlastet werden. Die Kollektivierung von Reproduktionsarbeit im AIDS-Aktivismus diente vielmehr als Ausgangspunkt, um die Reproduktion von Individuum und Gesellschaft insgesamt zu politisieren und zu sozialisieren. Vorstellungen von einer rein medizinischen Lösung der AIDS-Krise wurden dabei genauso zurückgewiesen wie eine Individualisierung von Care-Arbeit.
Das Entstehen einer queeren Kritik der Identitätspolitik in den 1980er Jahren war also keine Kopfgeburt des akademischen Diskurses, sondern resultierte maßgeblich aus den Erfahrungen der AIDS-Krise. Spätestens, als ein großer Teil der schwulen Aktivisten der ersten Stunde an den Folgen von AIDS starb, wurde deutlich, dass eine kritische Politik der Reproduktion nicht identitätspolitisch verengt werden konnte. Statt sich etwa schwulenpolitisch auszurichten, musste sie von einem Bündnis unterschiedlicher Personen und Gruppierungen getragen werden. Tatsächlich ist queere Politik mit ihren Wurzeln im AIDS-Aktivismus hier von Anfang an durch ungleiche Allianzen charakterisiert: Homo-, Hetero- und Bisexuelle, Weiße und Schwarze, Frauen, Männer und Transpersonen, Alte und Junge, Gesunde und Kranke, ArbeiterInnen und ProfessorInnen waren gezwungen, miteinander zu kooperieren und eine gemeinsame politische Sprache zu finden. Die Erfahrung, dass dies nicht immer einfach ist, manchmal unmöglich erscheint und dennoch ohne Alternative ist, prägt bis heute queere Politik.
Aktuell erstreckt sich die AIDS-Krise vor allem über den globalen Süden und geht erneut mit einer reproduktiven Krise verheerenden Ausmaßes einher. Betroffene sind mangels staatlicher Unterstützung und medizinischer Versorgung auf sich alleine gestellt. Auch hier bringt die AIDS-Krise neue soziale Kooperationsformen hervor: Pflegearbeit und Kinderbetreuung werden auf lokaler Ebene organisiert und schaffen damit zugleich die materiellen Grundlagen für Widerstand gegen die AIDSPolitik von Staaten und Pharmakonzernen (Bujra 2004). Sofern die Reproduktionskrise des Kapitalismus eine globale Dimension hat, müssen sich auch queerfeministische Politiken der Reproduktion in ihrer Perspektive »globalisieren«, dabei aber lokal verankert bleiben.
In den Ländern des globalen Nordens sind neben sozialen Betroffenengruppen wie Erwerbslosen, Alten und Kranken heute insbesondere queere postfamiliale Lebensformen von der fortschreitenden neoliberalen Entsicherung der Reproduktion betroffen. Sie basieren auf einer Kollektivität, die quer zum auf Verwandtschaft, Paarbindung und Monogamie beruhenden »heterosexuellen Gesellschaftsvertrag« (Wittig 1992) liegt. Die politischen Öffentlichkeiten, solidarischen Strukturen und sozialen Zusammenhänge, die queeres Leben auch unter heteronormativen Bedingungen möglich machen, werden aber durch neoliberale Politiken wie die Kommodifizierung des Öffentlichen, die Kürzung von Geldern für alternative Zentren und Community-basierte Gesundheitseinrichtungen oder die restriktive Politik gegen public sex zunehmend zerschlagen. Davon sind vor allem diejenigen Queers und Transpersonen betroffen, denen die kommerziellen Räume queerer Subkultur aufgrund rassistischer und klassenspezifischer Restriktionen weitgehend verschlossen bleiben. Zivilrechtliche Erfolge in der formalen Gleichstellungspolitik, die heteronormative Standards wie die Ehe auch für nicht-heterosexuelle Beziehungen setzt, gehen so Hand in Hand mit einer Verschärfung sozialpolitischer und polizeilicher Reglementierungen von Sexualitäten. Queeres Leben wird zunehmend nur in dem Maße möglich, wie es sich heterosexualisiert und – nach dem Bilde bürgerlicher Familienpolitik – privatisiert.
Queers in der Krise
Die soziale Reproduktion derjenigen, die dieser Norm nicht folgen wollen oder können, ist nachhaltig gefährdet. Dies zeigt sich insbesondere im Bereich der Gesundheits- und Altensorge. In den USA etwa leben 65 Prozent der Transpersonen in Armut. Auch hinsichtlich Jugendobdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit und unzureichender Gesundheitsversorgung führen LGBTʼs (LesbianGayBisexualTrans) die Statistiken an (DeFilippis 2012). Etwa 20 Prozent der US-amerikanischen LGBTʼs sind nicht krankenversichert, während Zugänge zur staatlichen Gesundheitsfürsorge für Geringverdienende (Medicaid) an heteronormative Familienkonzepte geknüpft sind: Kinderlose Singles sind in den meisten Staaten nicht antragsberechtigt, unterstützt werden Ehegemeinschaften, nicht aber Haushalte (Redman 2010). Angst vor homo- und transphober Diskriminierung halten LGBTʼs zudem weltweit häufig vom Aufsuchen existierender Gesundheitseinrichtungen ab. Diese Einschätzungen werden auch von Transgender Europe bestätigt: Das Gesundheitswesen in den europäischen Ländern diskriminiere nach wie vor TransMenschen und forciere eine Medikalisierung und Pathologisierung geschlechtlicher Identitäten. Die gesellschaftliche Organisation der Altensorge geht ebenfalls an den Lebensrealitäten und Bedürfnissen vieler LGBTʼs vorbei. Wegen verbreiteter Kinderlosigkeit von Queers vor allem der älteren Generationen ist eine Familialisierung der Altenpflege meist keine Option. In den häufig von kirchlichen Trägern betriebenen Altenpflegeeinrichtungen dominiert wiederum ein heterosexueller Normalismus, der zu massiver Vereinzelung und Einsamkeit von LGBTʼs führt.
Die Entsicherung der sozialen Reproduktion von Queers und Transpersonen ist kein Zufall. Gerade in Krisenzeiten bestärkt die postfordistische Ökonomie einen heteronormativen Gesellschaftsvertrag, der Arbeit und Leben am Modell der Reproduktionseinheit des heterosexuellen Paares ausrichtet. Während aktuelle Marketing- und Diversitystrategien inzwischen auch die weiße homosexuelle Mittelklasse für sich entdeckt haben und damit die Einbindung von sozialer Vielfalt suggerieren, reagieren neoliberale Regierungsprogramme zeitgleich auf den Umstand, dass die Reproduktionssphäre sich nicht im selben Maße wie die Produktionsverhältnisse flexibilisieren lässt. Die für den Postfordismus charakteristische Flexibilisierung der Familienverhältnisse und die zeitgleiche Aushöhlung des Sozialstaates erzeugen ein Vakuum in den Reproduktionsverhältnissen. Teile der Bevölkerung profitieren von einer partiellen Inwertsetzung der Reproduktionsarbeit. Im Bereich von Reinigungs- und Care-Arbeiten sind es hier überwiegend Migrantinnen, die die Versorgungslücken schließen. Für alle anderen spitzt sich der mangelnde Ausbau nicht-kapitalisierter Versorgungs- und Sorgestrukturen zu einer neuen Qualität prekarisierter Lebensverhältnisse zu. Die durch Renate Schmidt begonnene und von Ursula von der Leyen fortgesetzte »nachhaltige Familienpolitik« ist ein Beispiel von vielen, wie gegenwärtig Regierungen versuchen, der postfordistischen Reproduktionskrise beizukommen: Die Re-Familialisierung gro- ßer Teile von Reproduktionsarbeit bedeutet im Kern die Stabilisierung heterosexueller Verwandtschaftsarrangements. Aus Gründen knapper familialer Zeitressourcen schließt diese aber auch den Zwang zur Ökonomisierung, also den Rückgriff auf bezahlte Care-Dienstleistungen ein.
Als Gegenmodell zur neoliberalen Doppelstrategie aus Kommodifizierung und RePrivatisierung der Reproduktionsarbeit bedarf es einer Politik kollektiver Reproduktion, die die Absicherung unserer Lebensbedingungen durch solidarische Strukturen und soziale Kooperationen ermöglicht. Queerfeministische Perspektiven sind insofern hilfreich, als sie auf eine universelle Kritik der Reproduktionsverhältnisse zielen. Dass diese Reproduktionsverhältnisse immer auch sexuelle Verhältnisse sind, dient dabei als konkreter Ausgangspunkt von Theorie und Praxis.
Sexualität im Kapitalismus
Aus queerfeministischer Perspektive stellt die Ordnung von Zweigeschlechtlichkeit und Heteronormativität eine gesellschaftlich weitgehend unhinterfragte Struktur der Organisation von Gesellschaft und Leben im Kapitalismus dar – ein robustes Bündel an Beziehungen, durch die dieser sich reproduziert. Ein wesentlicher Anspruch kapitalismuskritischer queerer Theorien ist entsprechend, ein genaueres Verständnis davon zu entwickeln, wie sexuelle Beziehungen, Liebe und Intimität, wie das System der Zweigeschlechtlichkeit und die Naturalisierung heterosexuellen Begehrens als Konstitutionsbedingungen des Kapitalismus und der mit ihm einhergehenden Trennungen von Produktion und Reproduktion, Ökonomie und Lebenswelt ineinandergreifen. Queere Theorie und Politik ist dort stark, wo sie sich in eine feministisch-materialistische Tradition stellt, die uns daran erinnert, dass diese Trennungen durch entsprechend konfigurierte soziale Beziehungen und Bindungen materiell verankert sind.
Der Kapitalismus ist in seiner Reproduktionsweise genau auf diese konkreten Beziehungen angewiesen – das macht ihn prinzipiell angreifbar. Neben Ansätzen eines materialistischen Feminismus, die Reproduktionsverhältnisse zum Ausgangspunkt einer praktischen Kapitalismuskritik machten, war Michel Foucaults Sexualitätsbegriff einflussreich für queere Kritik. Mit Foucault lässt sich Sexualität nicht lediglich als Objekt von Regulierung und Normierung begreifen, sondern zugleich als umkämpftes Beziehungsgefüge. Strukturelle Verhältnisse – etwa die heterogeschlechtliche Arbeitsteilung in Küche, Bett, Fabrik oder Agentur – treffen hier auf die Praktiken von Subjekten und werden so verhandel- und transformierbar.
Sexuelle Verhältnisse des Kapitalismus zum Gegenstand politischer Kämpfe zu erklären, bedeutet also immer beides: Momente seiner Reproduktion und Manifestation genauso aufzusuchen wie Bewegungen der Hinterfragung und des Entzugs. Die Trennungen in Hetero- und Homosexuelle, Männer und Frauen, Cis- und Transsexuelle können hier als Differenzlinien innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft verstanden werden, die von Kapitalfraktionen für ihre Interessen eingebunden werden können. Gleichzeitig sind sie aber nicht vollends unter Kontrolle zu bringen. So produziert, mit Marx gedacht, jede Phase des Kapitalismus soziale Beziehungen, die potenziell über ihn hinausweisen.
Das Potential queerfeministischer Theorie und Praxis besteht darin, aktuelle Kämpfe in den Geschlechter- und Sexualitätsverhältnissen zugleich als Kämpfe um die Art und Weise zu verstehen, wie Arbeit und Leben in einer Gesellschaft organisiert und reproduziert werden. Die Entstehung und Beharrlichkeit geschlechtlicher Arbeitsteilung lässt sich entsprechend nicht losgelöst von der Frage verstehen, wie Subjekte in einer Gesellschaft vergeschlechtlicht und durch sexuelle Normen konstituiert werden. Vor diesem Hintergrund ist auch die queerfeministische Kritik von Identitätspolitiken zu verstehen. Die Dekonstruktion von sexueller und geschlechtlicher Identität ist dabei kein Selbstzweck, sondern ein Schritt in Richtung einer Welt, in der queere Beziehungen – ein Leben jenseits von Heteronormativität und Zweigeschlechtlichkeit – überhaupt vorstellbar werden. Von der klassischen Homosexuellenbewegung, aber auch von Teilen des Feminismus unterscheiden sich queere Perspektiven entsprechend in der Bedeutung, die der »Identitätspolitik« beigemessen wird. Während es der Homosexuellen- und Frauenbewegung häufig darum ging, Anerkennung in einer homophoben und patriarchalen Gesellschaft zu erkämpfen – die Freiheit, die/ der zu sein, die/der man ist –, versteht queere Politik die Identitätsform zwar als Ausgangspunkt und Terrain von Kämpfen, nicht aber als deren Ziel und Zweck. Dieser Unterschied ist einer ums Ganze: Während es im ersten Fall um die Freiheit der Identität geht, wird im anderen Fall am Wunsch nach einer Befreiung von der Identität festgehalten (Negri/ Hardt 2010, 333ff). Diese Kritikbewegung läuft parallel zu Argumenten marxistischer Klassentheorie. Während die Bourgeoisie für ihren eigenen Erhalt kämpft, trachtet das Proletariat nach einer Gesellschaft, in der die eigene Klasse abgeschafft wird. »Damit der revolutionäre Kommunismus zu einem Projekt nicht der Emanzipation, sondern der Befreiung wird – nicht der Emanzipation der Arbeit, sondern der Befreiung von der Arbeit –, muss er einen Prozess der Selbsttransformation über die Arbeiteridentität hinaus in Gang setzen« (ebd.).
Analog besteht das Ziel queerer Politik nicht in einer Emanzipation der Sexualität, sondern der Befreiung von der Sexualität – ein Prozess der Selbsttransformation über die eigene geschlechtliche und sexuelle Identität hinaus. Dadurch wird die Logik der Sexualität im Ganzen unterlaufen, anstatt vorrangig nach Akzeptanz zu fragen und damit den Bereich des Sexuellen lediglich weiter auszudifferenzieren und auszudehnen. Der Queerfeminismus vollzieht damit eine entscheidende Abkehr von den auf Integration in das gesellschaftliche Allgemeine angetriebenen partikularen Identitätspolitiken. Die seit der AIDS-Krise geronnene queerfeministische Skepsis gegenüber dem Staat erweist sich heute angesichts der zunehmenden Prekarisierung unserer Reproduktionsbedingungen als aktuell wie nie. Aktuell ist insofern auch die Notwendigkeit, Alternativen zur Anrufung des Sozialstaates auszuloten, um der globalen Krise der Reproduktion zu begegnen. Diese Alternativen werden von der Gewissheit getragen sein, dass die Bündelung sozialer Kämpfe im Feld der Reproduktion mit der Verteidigung und dem (Wieder-)Aufbau kollektiver Sorge- und Kooperationsformen im Alltag einhergehen müssen – einer Kollektivität, in der Solidarität und Zärtlichkeit jenseits von Warentausch, Nation oder Verwandtschaft zirkulieren können.