Trotz Beteuerungen seitens führender Mitglieder der Konservativen Partei, dass vor dem Virus alle gleich seien, zeichnen Infektions- und Sterblichkeitsraten in Großbritannien ein ganz anderes Bild. Kürzlich veröffentlichten Angaben des National Health Service (NHS) zufolge sind BAME-Gruppen überproportional von COVID-19 betroffen: 35 Prozent der Patient*innen in kritischem Gesundheitszustand zählen sich zu BAME-Gruppen – das sind beinahe drei Mal so viel wie der Anteil ethnischer Minderheiten an der Gesamtbevölkerung. In den Sterberaten sind vor allem Schwarze Menschen übermäßig stark vertreten: So machen sie beispielsweise 6,4 Prozent der ersten 12.600 COVID-19-Toten aus, die in englischen Krankenhäusern gezählt wurden, während sie gleichzeitig nur 3,4 Prozent der Gesamtbevölkerung darstellen. Angehörige ethnischer Minderheiten machen mit 68 Prozent auch einen Großteil der Todesfälle aus, die das NHS-Personal bis dato verzeichnen musste.

Infektionsmuster, Schwere der Infektionen und Sterblichkeitsraten zeigen, dass ethnische Minderheiten in Großbritannien besonders schwer betroffen sind und gleichen somit den Statistiken der USA, wo die Pandemie schwarze Amerikaner*innen überproportional am stärksten trifft. Der Zusammenhang zwischen struktureller und sozialer Ungleichheit (inbesondere entlang von race und class sowie deren Überschneidungen) und einer schlechten Gesundheitslage ist inzwischen hinreichend bestätigt: ein wesentlicher Faktor dabei ist die sozioökonomische Benachteiligung – also Armut, Ernährungsunsicherheit, Arbeitslosigkeit und miserable, oft überfüllte Wohnverhältnisse – sowie mangelnder Zugang zu gesundheitlicher Versorgung. Auch das höhere Vorkommen chronischer Erkrankungen wie Herzleiden oder Diabetes bei Angehörigen von BAME-Gruppen in Großbritannien (die mit einer größeren Anfälligkeit für COVID-19 einhergehen) lässt sich so erklären. Die gesundheitliche Ungleichheit wird durch die psychologischen Auswirkungen rassistischer Diskriminierung zusätzlich verschärft. Damit ist klar, dass sich die ungleiche Verteilung von COVID-19 (und die Krankheitsfolgen) nicht ausschließlich auf biomedizinische Aspekte zurückführen lässt, sondern vielmehr mit Fragen der politischen Ökonomie verbunden ist. 

Untersuchungen der ungleichen Belastung, die die Pandemie im globalen Norden für Angehörige ethnischer Minderheiten bedeutet, haben sich bisher vorwiegend auf die USA konzentriert. In Großbritannien sind weitere Studien nötig, um zu ermitteln, wie die Pandemie BAME-Arbeiter*innen gesundheitlich und ökonomisch konkret trifft und was die genauen Hintergründe dafür sind. Fest steht, dass eine solche Untersuchung die Konzentration von BAME-Arbeiter*innen in bestimmten Sektoren der englischen Wirtschaft, etwa in Verwaltungs-, Schul- und Gesundheitswesen, berücksichtigen muss. Der NHS ist ein eindeutiges Beispiel hierfür: BAME-Arbeiter*innen stellen beim NHS landesweit 20 Prozent, bei der Londoner Belegschaft sind es sogar 44 Prozent. Das erklärt zum Teil auch, warum ein so hoher Anteil des an COVID-19 erkrankten NHS-Personals einer ethnischen Minderheit angehört. Nichtsdestotrotz ist die Zahl der beim NHS beschäftigen BAME-Arbeiter*innen, die intensivmedizinisch behandelt werden müssen, sowie die Zahl der tödlichen Verläufe in Hinblick auf den BAME-Anteil an der Gesamtbevölkerung überproportional hoch. Diese Diskrepanz legt noch einmal nahe, dass neben dem Expositionsrisiko zahlreiche weiteren Faktoren in Betracht gezogen werden müssen, um die erhöhte Anfälligkeit diskriminierter Minderheiten für COVID-19 zu erklären. 

Eine umfassende Untersuchung müsste außerdem auf die Tatsache eingehen, dass BAME-Arbeiter*innen bei bestimmten Jobs übermäßig stark vertreten sind, insbesondere in Niedriglohnarbeit, Arbeit auf Honorarbasis und in anderen Formen prekärer Arbeit. Studien des TUC (Trades Union Congress) zufolge, hat einer*e von dreizehn BAME-Arbeiter*innen in Großbritannien einen befristeten oder Null-Stunden-Vertrag[1].

Insbesondere Schwarze Frauen machen einen immer größeren Anteil am Prekariat aus. Das wirkt sich auch auf das Einkommen aus: Arbeiter*innen mit befristeten oder Null-Stunden-Verträgen verdienen im Durchschnitt wesentlich weniger als Arbeiter*innen mit unbefristeter Anstellung. Ethnisierte Existenznot und Benachteiligung, wie sie im Zugang zum Gesundheitswesen sowie bei anderen sozioökonomische Ungleichheiten eine Rolle spielen, blicken in Großbritannien auf eine lange Geschichte zurück. Die Soziologin Gargi Bhattacharya ist allerdings der Meinung, diese Dynamiken hätten sich durch die jüngsten Veränderungen in der Organisation und Wesen von Lohnarbeit zugespitzt, was auch die zunehmenden Prekarisierung zeige. 

Bhattacharyas Buch Rethinking Racial Capitalism (2018) bietet eine eindringliche Analyse derjenigen Arbeitsverhältnisse und politischen und wirtschaftlichen Faktoren, die auch die ungleichen Auswirkungen von COVID-19 zu verantworten haben. So schreibt sie: »Dadurch, dass ethnisierender Kapitalismus Menschen in unterschiedliche Kategorien einteilt – manchmal zu wirtschaftlichen Zwecken, aber stets mit wirtschaftlichen Konsequenzen –, werden die Sichtbarkeit und der Wert bestimmter Arbeitsformen und -orte zur zentralen Frage« (S. 59, Hervorhebung der Autorin). In Zeiten der Pandemie geraten jene Tätigkeiten und Prozesse in den Fokus, die zur Instandhaltung und Reproduktion des täglichen Lebens – also zur sozialen Reproduktion – notwendig sind. Damit stellt sich auch die Frage nach der Sichtbarkeit und dem Wert dieser Arbeit umso dringlicher. Zur sozialen Reproduktionsarbeit – die entlohnt oder unbezahlt, privatisiert oder verstaatlicht sein kann – zählt auch gesundheitliche, soziale und gemeinschaftliche Sorgearbeit: Die essentielle Aufgabe der Betreuung und Versorgung von Kindern, Kranken sowie schwächeren und älteren Bevölkerungsgruppen. Vor kurzem wies Merisa Thompson auf ihrem Blog darauf hin, dass diese Arbeit überproportional häufig von Frauen und ethnischen Minderheiten übernommen wird – ein Muster, das zum Beispiel auch in der hohen Zahl von Frauen (insbesondere BAME und Migrant*innen) zum Ausdruck kommt, die Tätigkeiten mit «hohem Expositionsrisiko» für COVID-19 ausüben. 

Der politische Mainstream bezeichnet diese Beschäftigten seit neuestem als «systemrelevant». Der Ausdruck bezieht sich nicht ausschließlich auf Arbeiter*innen, die essentielle soziale Reproduktionsarbeit leisten (z.B. im Gesundheits- oder Sozialwesen), sondern auch auf ein Reihe anderer Sektoren und Industrien wie Verarbeitung, Handel und Vertrieb. In Großbritannien gehören solche Jobs zu den schlecht bezahltesten und prekärsten Tätigkeiten – insbesondere Reinigungs- und Wartungsarbeit, Transport, Verkauf und Sozialarbeit. Um die Auswirkungen von COVID-19 auf verschiedene Jobs und Arbeitsorte nachvollziehen zu können, müssen wir den Zusammenhang zwischen Klasse, Race und Prekarität verstehen. Anders gesagt: BAME-Arbeiter*innen haben ein erhöhtes gesundheitliches Risiko, aufgrund des erhöhten Expositionsrisikos, dem Mangel an adäquater Schutzausrüstung – auch für Beschäftigte in Pflegeheimen, nicht-medizinischem NHS-Personal und für Arbeiter*innen außerhalb des Gesundheitswesens – sowie der bereits existierenden gesundheitlichen Ungleichheiten; gleichzeitig ist auch das wirtschaftliche Risiko für sie höher, das aus Prekarität, Niedriglöhnen und strukturellem Rassismus resultiert. Das entspricht Bhattacharyas Darstellung vom «racial capitalism» als produktions- und reproduktionsübergreifendem «Aussiebungseffekt». 

Ich schreibe diesen Blogeintrag in Brixton, einem Stadtteil im Südosten von London, und die zentrale Rolle von Race, Klasse und Arbeit in der sich entfaltenden Krise ist gerade hier unmittelbar einleuchtend. Im Londoner Lockdown nimmt der «ethnisierenden Kapitalismus» eklatante Dimensionen an. Unsere Wohnung, die sich im vierten Stock eines Wohnprojekts befindet, hat einen Panoramablick auf die umliegenden Straßen. Einst zentraler Treff- und Organisationspunkt Schwarzer Freiheitsbewegungen sind die Straßen nun mit Luxusbebauungen übersät, eine Zweizimmerwohnung kostet hier mehr als 847.000€. Auf der anderen Straßenseite erhebt sich sinnbildlich für Brixtons rasende Gentrifizierung ein eben erst fertiggestellter Häuserblock. Jeden Morgen beobachte ich, wie sich reihenweise Männer und Frauen – allesamt weiß – im Homeoffice an ihre Küchentische setzen und ihre Laptops aufklappen, bereit zur Arbeit. Währenddessen lädt in den Straßen unter ihnen eine größtenteils Braune und Schwarze Arbeiterschaft Lebensmittellieferungen und Takeaway-Essen aus, sammelt Müll ein, bringt die Post, fährt Busse und macht sich auf den Weg, um in den Supermärkten und an den Marktständen im Zentrum von Brixton zu arbeiten. Ein Stück weit erzählen diese Szenen davon, wie sich im heutigen Großbritannien Race und Klasse gegenseitig bedingen. Sie werfen aber auch ein Schlaglicht auf die Gründe, warum COVID-19 nicht alle Bevölkerungsgruppen gleich treffen wird. 

Krisenmomente, so sagt man, bringen bestehende Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten für einen kurzen Moment ans Licht. Da sich zunehmend abzeichnet, dass die Pandemie unzählige Opfer fordern wird, bleibt zu hoffen, dass die Kraft dieser Offenbarung nicht nur flüchtig ist; dass daraus ein besseres Verständnis eines rassisierenden Kapitalismus entsteht – jener Race- und Gender-Hierarchien, die die globale kapitalistische Wirtschaft untermauern – und dass dies zu einer neuen Auseinandersetzung damit führt, wessen Körper und Arbeit systemrelevant sind. 

Der Artikel erschien zuerst auf Englisch auf dem SPERI blog
Übertragung ins Deutsche von Charlotte Thießen & Tabea Magyar für Gegensatz Translation Collective

[1] Ein Null-Stunden-Vertrag (englisch zero-hours contract) ist ein Arbeitsvertrag, bei dem die Parteien eine Mindestbeschäftigungszeit von null Stunden festlegen. Der Dienstverpflichtete soll nur dann tätig werden, wenn es einen entsprechenden Bedarf an der Dienstleistung gibt.

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