Das Jahr 2015 markierte einen neuen Höhepunkt vielfacher Krisen. Die weitgehend unerwarteten und anhaltenden Migrationsbewegungen seit dem vergangenen Sommer brachten das europäische Grenzregime – und damit das Schengen-System – ins Wanken. Bisher ist nicht davon auszugehen, dass sich diese Dynamik kurzfristig beruhigen wird. Auch innerhalb Deutschlands hat sie bis in die Kommunen hinein zu einschneidenden Veränderungen geführt und die bis vor Kurzem omnipräsente Euro-Krise aus dem Bewusstsein verdrängt. Doch bevor Griechenland als der Ort, an dem Hunderttausende Flüchtlinge ankommen, in den Fokus rückte, stand das Land in der ersten Jahreshälfte aus ganz anderen Gründen im Zentrum der Aufmerksamkeit: Es war Schauplatz einer Art Show-down der politischen Auseinandersetzungen um die Zukunft der Europäischen Union.
Zunächst scheinen die beiden Krisen nicht viel gemein zu haben: Ist die Euro-Krise das Ergebnis einer wachsenden Finanzialisierung der globalen Wirtschaft, so spielen für die ›Flüchtlingskrise‹ vor allem die Entwicklungen des Bürgerkriegs in Syrien und dessen Nachbarstaaten eine Rolle. Mit Blick auf die politischen Formen der Krisenbewältigung offenbaren sich jedoch strukturelle Parallelen, die auf eine grundlegende Transformation des Regierens in Europa verweisen.
Wie die Migration als soziale Bewegung das Grenzregime herausfordert
Im Rückblick auf das Jahr 2015 fällt auf, dass die Institutionen des europäischen Grenzregimes weitgehend unvorbereitet auf den Sommer der Migration reagierten. Zwar befanden sich Migrations- und Grenzpolitik bereits ganz oben auf der politischen Agenda der EU, die konkreten Vorhaben waren jedoch auf andere Regionen und Konstellationen gerichtet. Die neue Europäische Kommission unter Jean-Claude Juncker hatte im Herbst 2014 ihre Arbeit aufgenommen und Migrations- und Grenzpolitik als eine ihrer Prioritäten definiert. So wurde unter anderem der neue Posten eines Kommissars für Migration geschaffen und mit dem ehemaligen griechischen Verteidigungsminister Dimitris Avramopoulos besetzt.
Diese Schwerpunktsetzung bedeutete jedoch keinesfalls einen Aufbruch in der Frage der Migrations- und Grenzpolitik. Eher handelte es sich um ein träges Reagieren auf die migrationspolitischen Dynamiken der vergangenen Jahre. Diese waren durch eine doppelte Krisendynamik geprägt: einerseits vom Aufbruch des Arabischen Frühlings und andererseits von der Verrechtlichung der Außengrenze der EU durch das sogenannte Hirsi-Urteil von Januar 2012 des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR).
Nach den Bootsunglücken vor Lampedusa im Oktober 2013, bei denen an die 500 Menschen ums Leben gekommen waren, hatte die damalige EU-Kommission noch unter Leitung von José Manuel Barroso eine Neuorientierung der europäischen Grenzpolitik versprochen. Bis dato war diese von einer versicherheitlichten Logik dominiert gewesen. Die italienische Marine-Operation Mare Nostrum steht für diese Wende hin zu einer Politik des Humanitarismus. Die Rettung von Menschenleben sollte über dem Grenzschutz stehen. Mare Nostrum blieb jedoch ein kurzer nationaler Alleingang Italiens. Sowohl von den übrigen EU-Staaten also auch der nächsten Kommission wurde sie kritisch beäugt und entsprechend nach einem Jahr durch die von Frontex geführte Operation Triton abgelöst. Letztere setzte Grenzschutz und damit die Abwehr von MigrantInnen wieder zurück an erste Stelle. Die Rettung von Menschenleben auf hoher See betreibt sie nur widerwillig.
Da es nach wie vor keine legalen Einreismöglichkeiten gibt, bleibt die klandestine Überquerung des Mittelmeers, samt des allgegenwärtigen Sterbens, nach wie vor eine Konstante des europäischen Grenzregimes. Lediglich die Kooperation Italiens mit der Diktatur Muammar Gaddafis in Libyen rund um das Jahr 2009 unterbrach sie für kurze Zeit. Der Preis war jedoch hoch: der offene Bruch mit der Genfer Flüchtlingskonvention. Italien schob damals auf hoher See Menschen auf Flüchtlingsbooten ohne jede Prüfung nach Libyen zurück. Es war diese Push-back-Praxis, die im Hirsi-Urteil vom EGMR für illegal erklärt wurde und die auch die kurze Hochzeit von Mare Nostrum ermöglichte.
Doch zu dem Zeitpunkt war die Kooperation zwischen Italien und Libyen längst Geschichte, denn die politische Konstellation in Nordafrika hatte sich mit den sozialen und politischen Aufständen des Arabischen Frühlings so grundlegend geändert, dass es zunächst keine weitere Grundlage für eine Zusammenarbeit bei der Vorverlagerung der Außengrenze der EU gab (vgl. Oshana in diesem Heft). Die anhaltenden Bürgerkriege in Syrien und Libyen wie auch die Rückkehr einer nur oberflächlich kaschierten Militärdiktatur in Ägypten sind die aktuellen Folgen des Arabischen Frühlings. Die neuen Migrationsbewegungen sind also auch in diesem Zusammenhang zu sehen.
Sie sind mit kollektiven Forderungen nach gesellschaftlicher Teilhabe verbunden. Schon 2011, unmittelbar nach der Revolution in Tunesien und nach dem Kollaps des mediterranen Grenzregimes, setzten viele Menschen die neu gewonnene Freiheit in Projekte der Migration nach Europa um. Hier liegt eine Verbindung zu den ›Bewegungen der Plätze‹ in Griechenland und Spanien, die ja durch die Rebellionen in Nordafrika inspiriert waren. Die Forderungen nach sozialer Teilhabe und »echter Demokratie« decken sich – trotz grundlegend verschiedener Gesamtkonstellationen – teils frappierend. Die Platzbewegungen sind mittlerweile überwiegend parteiförmig kanalisiert und haben das Potenzial eines linken Projekts in und für Europa geschaffen.
Die gegenwärtigen Migrationsbewegungen sollten in diesem Kontext weltweiter sozialer und politischen Bewegungen der letzten Jahre analysiert werden. Sie sind selbst zu einer Art sozialer Bewegung geworden. Auch wenn es sich in den meisten Fällen um Geflüchtete aus den vom syrischen Bürgerkrieg betroffenen Gebieten handelt, so sind die Entscheidungen dieser Menschen, sich Richtung Europa aufzumachen, keinesfalls auf die Rettung des bloßen Lebens zu reduzieren. Mit Aufbruch und Flucht geht immer auch die Hoffnung auf ein besseres Leben einher.
Aus seiner Beschäftigung mit der Bewegung der sans-papiers im Frankreich der 1990er Jahre schlussfolgerte Étienne Balibar (1999), dass es eines Projekts der »Demokratisierung der Grenze« bedürfe, um die sozialen und demokratischen Ausschlüsse, auf welche die sans-papiers hingewiesen hatten, zu beenden. Damit bezog er sich weniger auf die eigentlichen (Landes-)Grenzen, sondern verwies vielmehr auf die zahlreichen internen Grenzziehungen – Mechanismen einer differenziellen Inklusion –, die es den sans-papiers zwar erlaubten, sich als Arbeitskräfte in Frankreich aufzuhalten, ihnen aber weitergehende politische und demokratische Rechte vorenthielten. Diese gilt es, so Balibar, einer demokratischen Entscheidungsfindung zu unterwerfen, welche MigrantInnen als mit Rechten ausgestattete politische Subjekte einbezieht.
Im Hirsi-Urteil lässt sich ein entferntes Echo dieser Forderung nach einer »Demokratisierung der Grenzen« vernehmen. Jenseits der politischen und sozialen Rechte, die derzeit immer noch ausschließlich der nationale Wohlfahrtsstaat garantieren kann, stellte der EGMR fest, dass auch MigrantInnen im Niemandsland der Grenze oder in den exterritorialen Räumen auf hoher See nicht rechtlos sind, sondern die einschlägigen internationalen Normen des Völkerrechts Gültigkeit haben. In seiner Konsequenz stellt insofern auch dieses Urteil nach über einem Jahrzehnt der beharrlichen und qualvollen Bemühungen von Menschen, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen, eine weitere Herausforderung für das europäische Grenzregime dar.
Von der verborgenen Route zum offenen Korridor
Schon im Frühjahr 2015 hatte sich im Verborgenen eine neue Fluchtroute nach und durch Europa etabliert. Ausgehend von der westtürkischen Küste setzten immer mehr Menschen vor allem aus Syrien auf die griechischen Ägäisinseln über, gelangten von dort aus auf das griechische Festland und machten sich dann auf zur griechisch-mazedonischen Grenze. Anfangs zu Fuß und ab Juni nach der Einführung eines de facto Transitvisums durch den mazedonischen Staat auch mit dem Zug. So setzten sie ihren Weg entlang der sogenannten Balkanroute durch Serbien hindurch nach Ungarn fort.
Die Regierung Ungarns sah sich auf einmal mit der Tatsache konfrontiert, dass das Land gemäß der Dublin-Verordnung für die Durchführung von Asylverfahren für diese Menschen zuständig war, denn Griechenland war aufgrund der Abschiebestopps aus menschenrechtlichen Gründen seit 2011 faktisch aus dem Dublin-System ausgeschieden. Statt dieser Aufgabe gerecht zu werden, reagierte die ungarische Regierung jedoch vor allem damit, dass sie die Flüchtlinge inhaftieren ließ. Es mehrten sich Berichte über Misshandlungen durch Polizeikräfte (vgl. bordermonitoring.eu 2013). Da im Laufe des Frühsommers immer mehr Menschen kamen, konnte diese Politik der Masseninhaftierung nicht aufrechterhalten werden. Stattdessen begann die ungarische Regierung mit dem Bau eines 175 Kilometer langen Zauns an der Grenze zu Serbien, der die Migrationsroute um Ungarn herumlenken sollte. Solange der Zaun nicht fertig war, sah sich jedoch auch die ungarische Regierung gezwungen, dem Willen der Flüchtlinge insofern nachzugeben, als sie diese nicht daran hinderte, ihren Weg Richtung Deutschland und Skandinavien fortzusetzen. Vor allem der Ostbahnhof (Keleti) in Budapest verwandelte sich in eine inoffizielle Drehscheibe, wo die Weiterreise organisiert wurde.
Als Ende August 71 Flüchtlinge in einem Kühltransporter erstickten und in Österreich aufgefunden wurden, änderte sich diese Praxis fundamental. In den kommenden Tagen begann die österreichische Polizei mit zahlreichen Kontrollen sowohl im Inland als auch an der österreichisch-ungarischen Grenze. Die Schlepper und Schleuser des Budapester Ostbahnhofs stellten ihre Tätigkeiten daraufhin ein, und viele Tausend Flüchtlinge strandeten rund um Keleti, weil es keine Möglichkeit der Weiterreise mehr gab. Die Situation an dem Bahnhof spitzte sich rasch dramatisch zu. Ohne auch nur eine minimale Versorgung durch den ungarischen Staat gerieten immer mehr Flüchtlinge in eine verzweifelte Situation. Die Bilder der sich anbahnenden humanitären Katastrophe gingen um die Welt. Sie markieren den Beginn einer Konstellation, die mittlerweile als europäische Flüchtlingskrise bezeichnet wird. Mit dem »March of Hope«, der sich schließlich Anfang September von Budapest nach Österreich in Bewegung setzte, erkämpften die Flüchtenden die Öffnung der Grenzen, zu der sich Österreich und Deutschland am 4. September 2015 gezwungen sahen. Die bis dahin ›verborgene‹ Route der Migration verwandelte sich in einen offenen Korridor, der sich von der griechisch-mazedonischen Grenze bis nach Deutschland und teilweise nach Skandinavien erstreckte.
Regieren in der Krise
Die Existenz eines solchen offenen Korridors der Migration war für die Europäische Union ein absolutes Novum. Doch schon im Herbst und Winter reagierten verschiedene Staaten damit, ein improvisiertes und oftmals instabiles Kontrollsystem entlang dieses Korridors zu etablieren. Sie schufen Transiträume: Man stellte Sonderzüge und -busse für den Weitertransport zur Verfügung und richtete Transitlager für einen Kurzzeitaufenthalt von maximal 24 Stunden ein. Beides diente dazu, die Weiterreise der Flüchtlinge so schnell und so reibungslos wie möglich zu organisieren, denn alle involvierten Länder legten Wert darauf, Transitländer zu bleiben und keinesfalls zu Aufnahmeländern zu werden. Mit Entstehen des Korridors wurden alle Bestimmungen des europäischen Migrations- und Grenzregimes zumindest vorübergehend außer Kraft gesetzt. Der Korridor stellte eine Art exterritoriales Gebiet dar, ein humanitär-militärisch regierter Tunnel, von dem lediglich die beiden Enden (griechisch-mazedonischer Grenzübergang und deutsch-österreichische Grenze) sichtbar und offen zugänglich waren. Der Rechtsstatus der in diesem Korridor Reisenden blieb ungeklärt. Der Korridor bildet einen ›Raum der Ausnahme‹, der jedoch weniger durch Willkür charakterisiert war, wie etwa Giorgio Agamben (2003 und in diesem Heft) behaupten würde, sondern durch neue und sich überlappende Ordnungs- und Regelsysteme, auf die sich selektiv berufen werden konnte. Dabei handelte es sich gleichsam um einen doppelten Ausnahmezustand. Nicht nur die MigrantInnen, die diesen Korridor für ihre Reise quer durch Europa nutzten, waren einem exzeptionellen Transitregime unterworfen. Auch die Länder, durch die sich der Korridor erstreckte, waren Teil eines bis dahin inexistenten migrationspolitischen Raums.
Die entlang des Korridor liegenden Staaten sind teilweise Mitgliedsstaaten der EU, andere haben Anwärterstatus, wieder andere haben derzeit keine Beitrittsperspektive. Einige gehören zum Schengen-Raum, andere wiederum nicht. Der Raum, der von diesem Korridor geschaffen wurde, war daher von extremer politischer, aber auch sozialer Heterogenität gekennzeichnet. Die ›Regierung‹ dieses Raums der Migration bestand aus einem informellen Netzwerk von Regierungsvertretern der beteiligten Länder, der EU-Kommission sowie diversen internationalen Organisationen wie etwa dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR). Etabliert wurde diese ›Korridor-Regierung‹ durch einen Ad-hoc-Gipfel Ende Oktober in Brüssel, bei dem ein 17-Punkte-Plan verabschiedet wurde. Damit sollten sich schon zum damaligen Zeitpunkt abzeichnende nationale Alleingänge, wie etwa Grenzschließungen und die Errichtung von Zäunen an Staatsgrenzen, verhindert und eine gewisse Koordination und Abstimmung der Staaten gewährleistet werden.
Diese Ad-hoc-Etablierung von temporärer ›Regierung‹, die sich zu neuen Institutionen verfestigen oder aber auch wieder verschwinden kann, scheint dabei den neuen Modus des Regierens in Europa zu kennzeichnen. Der Versuch der österreichischen Regierung, mit dem zweiten Balkangipfel in Wien Ende Februar sich an die Spitze diese neuen Governance-Systems zur Regulierung der Migrationsbewegungen zu setzen, unterstreicht diese Entwicklung. Was diese Formen des neuen Regierens vereint, ist, dass sie mit einem von staatlichen Instanzen deklarierten Ausnahmezustand und einer Krisensituation begründet werden, aber über keinerlei demokratische Legitimität verfügen. Sie kommen pragmatisch daher und geben vor, dringliche politische Probleme technokratisch lösen oder managen zu können.
Exemplarisch für diese Form der Governance steht das Agieren der sogenannten Troika aus Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfond in den besonders von der Euro-Krise betroffenen Staaten wie Griechenland, Portugal oder Irland. Sie greift de facto weitreichend in die jeweilige Sozial-, Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik dieser Länder ein, lässt sich entsprechende ›Reformen‹ aber de jure immer von den nationalen Parlamenten absegnen. Begleitet wurde dieses Regieren in der Euro-Krise von einem enormen Bedeutungszuwachs der schwach formalisierten Euro-Gruppe, die über Nacht zur zentralen politischen Aushandlungsarena aufgestiegen ist, sowie vom Auftauchen neuer Institutionen wie etwa der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) oder dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM).
Troika goes Migration
Jenseits des Korridors und seiner ›Regierung‹ schicken sich die europäischen Institutionen, allen voran die EU-Kommission, nun an, auch angesichts der ›Flüchtlingskrise‹ Durchgriffsrechte in Brüssel zu zentralisieren. Der vielfach diskutierte Vorschlag, sogenannte Hotspots an den EU-Außengrenzen zu errichten, über welche die Registrierung und Umverteilung von Flüchtlingen und MigrantInnen erfolgen soll, beinhaltet im Kern die Intervention europäischer Institutionen wie etwa Frontex, dem Europäischen Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO), Europol oder Eurojust (der Einheit für justizielle Zusammenarbeit der Europäischen Union). Vermittelt über den Ausbau von Frontex zu einer europäischen Grenzschutzagentur, die nicht mehr nur beraten und koordinieren, sondern tatsächlich an den EU-Außengrenzen zum Einsatz kommen soll, wird nun auch die Aufgabe des Schutzes dieser Grenzen in sogenannte »geteilte Verantwortung« überführt (vgl. Oshana in diesem Heft).
Die Krisenrhethorik ist dabei nur Mittel, um eine schnelle Durchsetzung solch folgenreicher politischer Maßnahmen zu legitimieren. Das eigentliche Instrument zur Durchsetzung ist indessen die Ausschlussdrohung. Nachdem insbesondere Griechenland in den vergangenen Jahren beständig mit der Drohung konfrontiert war, aus dem Euro-Raum ausgeschlossen zu werden, und damit zu einer neoliberalen Krisenbewältigungspolitik gezwungen wurde, kursiert seit November 2015 die Drohung eines neuen Grexit: nämlich der Ausschluss aus dem Schengen-Raum für den Fall, dass es der griechischen Regierung nicht gelingt, die Grenze mit der Türkei ausreichend zu sichern.
Diese Parallelen zwischen den politischen Verfahren zur Bewältigung der Euro- und der ›Flüchtlingskrise‹ erlauben Rückschlüsse auf die Interessen der Bundesregierung, und insbesondere auf die Politik von Angela Merkel. Die Kanzlerin wurde weltweit für ihre Politik der Flüchtlingsaufnahme gelobt, und sie fährt fort, diese Politik entgegen wachsender Kritik auch aus der eigenen Partei zu verteidigen. Gleichzeitig wurden gerade in Deutschland eine Reihe einschneidender Reformen des Asylrechts verabschiedet, die in ihrer Wirkung mit der Grundgesetzänderung von 1993 zu vergleichen sind. Dies ist jedoch nur scheinbar ein Paradox. Denn im Grunde geht es Angela Merkel weniger um eine flüchtlingsfreundliche Politik als um den Erhalt des europäischen Projekts. Vergleichbar mit Mario Draghi, der im Juni 2012 erklärt hatte, die Europäische Zentralbank sei entschlossen, den Euro zu retten, »koste es, was es wolle«, und damit eine Obergrenze für einen fiskalpolitischen Eingriff ablehnte, ist auch Angela Merkel bereit, so lange Flüchtlinge in Deutschland aufzunehmen, bis es zu einer europäischen Lösung und zu einer erneuten Stabilisierung des europäischen Grenzregimes kommt.
Die gegenwärtigen Ansätze für eine solche europäische Lösung der Krise, das heißt eine Zentralisierung von Eingriffsrechten in Brüssel und eine Legitimierung von Politiken über eine Rhetorik und Praxis des Ausnahmezustandes, sind höchst antidemokratisch. Sie verhindern notwendige gesellschaftliche Debatten über den politischen Gehalt der Fragen, mit denen Europa derzeit konfrontiert ist. Das Mantra vom Schutz der Außengrenze hat den Europäern suggeriert, es könne eine technische Lösung für die gesellschaftliche Frage der Migration geben. Auf diese Weise hat es Europa jahrzehntelang vermieden, die notwendigen Diskussionen über das Verhältnis der europäischen Gesellschaften zur Migration zu führen. Gleichsam hat die europäische Politik in der Euro-Krise die neoliberale Austeritätspolitik als alternativlos dargestellt und damit eine umfassende Auseinandersetzung über die Frage, was soziale, wirtschaftliche und demokratische Teilhabe jenseits der Gestaltungsspielräume des Nationalstaats bedeuten könnte, vermieden. Die sozialen Bewegungen der Plätze und der Migration haben diese Fragen erneut aufgeworfen. Mithin stellt sich nicht nur die Forderung der Demokratisierung der Grenze, sondern des europäischen Projekts als Ganzem.