ES WURDE HEISSER.


Frank May erhob sich von seiner Matte und tappte hinüber zum Fenster, um hi­nauszuschauen. Braune Putzwände und Ziegel, umbrafarben wie der Lehm aus der Gegend. Quadratische Wohnblocks wie der, in dem er sich befand, die Dachterrassen besetzt von Bewohnern, die nachts hinaufgestiegen waren, weil es drinnen zu heiß zum Schlafen war. Mehrere von ihnen standen hinter den brusthohen Mauern und spähten nach Osten. Der Himmel war braun wie die Häuser, vermischt mit dem Weiß des nahenden Sonnenaufgangs. Frank atmete tief ein. Die Luft erinnerte ihn an eine Sauna. Es war die kühlste Zeit des Tages. In seinem ganzen Leben hatte er keine fünf Minuten in einer Sauna zugebracht, er empfand das als unangenehm. Heißes Wasser ging vielleicht noch, aber heiße, feuchte Luft auf keinen Fall. Es war ihm ein Rätsel, wie jemand an so einem beklemmenden, stickigen Gefühl Gefallen finden konnte.
Hier konnte man ihm nicht entrinnen. Wenn er es sich vorher richtig überlegt hätte, wäre er bestimmt nicht hergekommen. Es war die Partnerstadt seines Heimatorts, doch es gab auch noch andere Partnerstädte, andere Hilfsorganisationen. Er hätte zum Beispiel in Alaska arbeiten können. Stattdessen tropfte ihm jetzt brennender Schweiß in die Augen. Er war nass, obwohl er nur Shorts trug, die ebenfalls nass waren; auf seiner Matte, auf der er schlaflos gelegen hatte, zeichneten sich feuchte Flecken ab. Er hatte Durst, und die Kanne neben seinem Bett war leer. Wie ein Schwarm von Riesenmücken surrten überall in der Stadt angestrengt die Klimageräte in den Fenstern.

Und dann durchbrach die Sonne den östlichen Horizont. Sie blitzte auf wie eine Atombombe – sie war ja auch eine. Die Felder und Häuser unter diesem gleißenden Lichtsplitter wurden dunkel und dunkler, als der Splitter sich zu einer lodernden Linie verbreiterte und dann zu einer Sichel anschwoll, die er nicht ansehen konnte. Die heranbrandende Hitze war spürbar wie eine Ohrfeige. Die Sonnenstrahlung erwärmte sein Gesicht und ließ ihn blinzeln. Seine Augen tränten so stark, dass er nicht viel erkennen konnte. Alles war lohfarben, beige und unerträglich grell. Eine ganz normale Stadt in Uttar Pradesh um sechs Uhr früh. Er warf einen Blick auf sein Telefon: achtunddreißig Grad. Luftfeuchtigkeit ungefähr sechzig Prozent. Die Kombination war das Entscheidende. Vor einigen Jahren wäre das noch eine der höchsten je gemessenen Feuchtkugeltemperaturen gewesen. Jetzt war man ihr schon an einem gewöhnlichen Mittwochmorgen ausgesetzt. […]

Frank atmete schwer, als er angespannt und beunruhigt zum See marschierte. überall vor den Häusern Leute, zusammengedrängt in Eingängen. Einige beäugten ihn, doch die meisten waren zu sehr mit eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Die Augen groß vor Leid und Angst, rot von der Hitze und den Abgasen, dem Staub. Metalloberflächen backten in der Sonne, er sah Hitzewellen aufsteigen wie über einem Grill. Seine Muskeln wurden zu Brei, nur ein Draht aus Angst hielt sein Rückgrat noch aufrecht. Am liebsten wäre er gerannt, doch das war ausgeschlossen. So weit wie möglich hielt er sich im Schatten, den die eine Straßenseite jetzt am frühen Morgen noch bot. In der Sonne war es, als würde man in ein Lagerfeuer geschoben. Angetrieben von der Glut, torkelte man auf den nächsten Schattenfleck zu.

Kurz darauf stellte er ohne große Verwunderung fest, dass bereits Leute bis zum Hals im See standen, die braunen Gesichter rot vor Hitze. Dick wie Talkum hing das Licht über dem Wasser. Er trat auf die geschwungene Betonstraße, die den See an dieser Seite begrenzte, und steckte den Arm bis zum Ellbogen hinein. Es war tatsächlich so warm wie ein Bad, fast zumindest. Er ließ den Arm drin, um herauszufinden, ob das Wasser kühler oder heißer als sein Körper war. Schwer zu sagen in der brütenden Luft. Nach einer Weile kam er zu dem Schluss, dass das Wasser an der Oberfläche ungefähr die gleiche Temperatur hatte wie sein Blut. Das hieß, es war deutlich kühler als die Luft. Und wenn es doch ein wenig wärmer war als der Körper ... nun, dann war es immer noch kühler als die Luft. Seltsam, es war einfach schwer zu erkennen. Er sah nach den Leuten im See. Nur ein schmaler Streifen Wasser lag noch im Morgenschatten der Häuser und Bäume, und auch dieser Streifen würde bald verschwinden. Danach war der ganze See der Sonne ausgesetzt, bis der späte Nachmittag auf der anderen Seite wieder Schatten brachte. Das war nicht gut. Aber Regenschirme – alle hatten doch einen Regenschirm. Allerdings blieb dann noch immer die Frage, wie viele Menschen im See Platz hatten. Sicher nicht genug. Angeblich hatte die Stadt zweihunderttausend Einwohner. Umgeben von Feldern und Hügeln, die nächsten Orte in allen Richtungen mehrere Kilometer entfernt. Seit Urzeiten.

Er ging zurück zur Niederlassung mit der Beratungsstelle im Erdgeschoss. Ächzend mühte er sich in sein Zimmer im ersten Stock. Sicher war es am einfachsten, sich hier hinzulegen und zu warten, bis es vorbei war. Er tippte die Kombination seines Safes ein und nahm das Satellitentelefon heraus. Schaltete es ein. Akku voll  geladen. […]

In dieser Nacht starben vier weitere Menschen. Wie ein flammender Hochofen ging am Morgen die Sonne auf und knallte auf das Dach und seine traurige Fracht eingehüllter Toter. Ein Blick über die Häuser zeigte, dass sich sämtliche Dächer und Gehsteige in eine Leichenhalle verwandelt hatten. Die ganze Stadt war ein einziges Mausoleum, und es war so heiß wie zuvor, vielleicht sogar noch heißer. Die Temperatur lag bei zweiundvierzig Grad, die Luftfeuchtigkeit bei sechzig Prozent. Dumpf starrte Frank auf den Bildschirm. Er hatte vielleicht drei Stunden geschlafen, war immer wieder hochgeschreckt. Der Generator grummelte in seinem unregelmäßigen Takt, und das Klimagerät wälzte ruckelnd Luft. Noch immer rauschten andere Generatoren und Kühlgeräte vor sich hin. Doch nichts davon half. […]

Der Tag zog sich in die Länge. Das Jammern hatte sich zu vereinzeltem Stöhnen abgeschwächt. Erschöpft von Hitze und Durst regten sich die Leute nicht einmal mehr auf, wenn ihre Kinder starben. Rote Augen in braunen Gesichtern, die Frank anstarrten, wenn er zwischen ihnen herumstolperte und mithalf, Tote hoch aufs Dach zu bringen, wo sie voll der Sonne ausgesetzt waren. Natürlich war zu befürchten, dass sie dort oben verwesten, aber vielleicht würden sie auch einfach ausglühen und vertrocknen, weil es so heiß war. In dieser Glut konnten sich keine Gerüche halten außer dem der sengend feuchten Luft. Oder doch: Auf einmal stank es nach fauligem Fleisch. Niemand hielt sich mehr hier oben auf. Frank registrierte vierzehn eingewickelte Tote, Erwachsene und Kinder. Ein kurzer Blick über die Stadt zeigte ihm, dass andere Menschen mit ähnlichen Verrichtungen beschäftigt waren: schweigsam, in sich gekehrt, hastig, mit gesenktem Kopf. Niemand von ihnen schenkte der Umgebung Beachtung. […]
 

»Metalloberflächen backten in der Sonne, er sah Hitzewellen aufsteigen wie über einem Grill. Seine Muskeln wurden zu Brei, nur ein Draht aus Angst hielt sein Rückgrat noch aufrecht.«

Im Nachmittagsschatten machten sie sich auf den Weg zum See. Heißer denn je. Kein Mensch auf den Straßen und Gehsteigen. Kein Klagegeschrei in den Häusern. Immer noch dröhnten einige Generatoren, surrten einige Klimageräte. Die bleierne Luft schien alle Geräusche zu verschlucken.
Am See bot sich ihnen ein verzweifelter Anblick. Es waren viele, viele Leute im Wasser, Kopf an Kopf um die Ufer herum, und auch weiter draußen, wo es wahrscheinlich tiefer war, lagen Menschen halb untergetaucht auf behelfsmäßigen Flößen. Doch nicht alle lebten noch. Von der Wasseroberfläche stieg ein giftiger Todeshauch auf, und der Gestank nach Verwesung stahl sich langsam in die versengten Nasenlöcher.

Sie einigten sich darauf, dass es vielleicht das Beste war, sich zuerst auf den niedrigen Uferweg zu hocken und die Beine ins Wasser zu hängen. So stapften sie zum Ende des Wegs, wo noch Platz war, und setzten sich einer neben dem anderen als geschlossene Gruppe hin. Der Beton unter ihnen strahlte noch immer die Hitze des Tages ab. Alle schwitzten, bis auf einige, die röter waren als die anderen und förmlich im Schatten des Spätnachmittags glühten. Als die Dämmerung hereinbrach, brachten sie diese Menschen in eine halb aufrechte Lage und halfen ihnen beim Sterben. Der See war heiß wie Badewasser, wärmer als die Körpertemperatur. Eindeutig wärmer als gestern, fand Frank. Und das lag ja auch nahe. Er hatte einmal gelesen, dass die Temperaturen steigen würden, bis die Meere kochten, wenn die Erde die gesamte auf sie einwirkende Sonnenenergie aufnehmen würde, statt genug davon zurückzuwerfen. Er konnte sich das Ganze lebhaft vorstellen. Der See fühlte sich an, als fehlten nur noch wenige Grad bis zum Siedepunkt.


Trotzdem wateten sie nach dem Sonnenuntergang und der kurzen Abenddämmerung alle in den See. Es fühlte sich einfach besser an. Ihr Körper forderte sie dazu auf. Sie konnten sich an einer besonders seichten Stelle niederlassen, den Kopf knapp über Wasser, und versuchen durchzuhalten. […]


Nach und nach stieg ihm die Hitze zu Kopf. In seinem Körper wühlte das Verlangen, dieses zu heiße Bad hinter sich zu lassen. Er wollte endlich in den eiskalten See springen, der eigentlich zu jeder Sauna gehörte, und den glückseligen Kälteschock spüren, der einem den Atem verschlug, wie damals in Finnland. Die Menschen dort sprachen vom maximalen Temperaturunterschied, von einer blitzschnellen Änderung um hundert Grad, die sie unbedingt erleben wollten.


Doch dieser Gedankengang war wie das Kratzen an einer juckenden Stelle und machte alles nur noch schlimmer. Er kostete das heiße Wasser und konnte schmecken, wie faulig es war. Ihn schauderte bei der Vorstellung, was da alles im See herumschwappte. Trotzdem empfand er einen Durst, den er nicht stillen konnte. Heißes Wasser im Magen hätte bedeutet, dass es keine Zuflucht mehr gab und dass die Wärme innen und außen weit über der Temperatur lag, die für den Körper eines Menschen gesund war. Sie wurden hier gedünstet. Heimlich schraubte er seine Kanne auf und trank. Das Wasser darin war inzwischen lauwarm, aber nicht heiß, und es war sauber. Sein Körper lechzte danach, und er hörte nicht auf zu trinken, bis die Kanne leer war.


Die Leute starben immer schneller. Es gab keine Kühlung mehr. Alle Kinder waren tot, alle Alten waren tot. Statt Wehgeschrei brachten die, die noch lebten, nur ein Murmeln heraus. Wer noch konnte, zog Leichen aus dem See oder schob sie hinaus in die Mitte, wo sie wie Holz trieben oder untergingen.
Frank schloss die Augen und versuchte, die Stimmen um ihn herum zu ignorieren. Er lag, von seichtem Wasser bedeckt, da und konnte den Kopf auf den Betonrand des Wegs und den Schlamm darunter lehnen. Langsam sank er tiefer, bis er im Morast steckte und nur noch sein Gesicht in die sengende Luft ragte.


So verstrichen die Stunden. Oben waren lediglich die hellsten Sterne als verschwommene Flecken zu erkennen. Eine mondlose Nacht. Satelliten zogen vorüber, von Osten nach Westen, von Westen nach Osten, einmal sogar von Norden nach Süden. Die Menschen beobachteten sie, obwohl sie wussten, was mit ihnen hier unten geschah. Sie wussten es, aber sie taten nichts. Sie konnten nicht. Es war sinnlos, jedes Wort war sinnlos. Für Frank vergingen in dieser Nacht viele Jahre. Als sich der Himmel zu einem ersten Grau erhellte, das nach Wolken aussah und sich dann als klarer, leerer Himmel entpuppte, regte er sich schließlich. Seine Fingerspitzen waren ganz schrumpelig. Er war langsam gegart worden und war jetzt durch. Es fiel ihm schwer, den Kopf auch nur einen Zentimeter zu heben. Womöglich würde er hier ertrinken. Dieser Gedanke ließ ihn zusammenzucken. Er bohrte die Ellbogen in den Grund und stemmte sich hoch. Seine Extremitäten fühlten sich an wie gekochte Spaghetti, doch die Knochen bewegten sich wie von selbst. Er setzte sich auf. Die Luft war noch immer heißer als das Wasser. Er sah zu, wie der erste Sonnenschein die Wipfel der Bäume auf der anderen Seite des Sees berührte. Es schien, als würden sie in Flammen aufgehen. Den Kopf vorsichtig auf der Wirbelsäule balancierend, ließ er den Blick über die Szenerie wandern.


Alle waren tot. […]

ARTIKEL 14 DES ÜBEREINKOMMENS von Paris der Vereinten Nationen über Klimaänderungen verpflichtete die Unterzeichnerstaaten zu einer regelmäßigen Bestandsaufnahme ihrer C0²-Emissionen und damit des gesamten globalen Kohlenstoffausstoßes in einem bestimmten Jahr. Die nächste Überprüfung war für 2023 angesetzt, danach sollten alle fünf Jahre weitere folgen.


Die erste »weltweite Bestandsaufnahme« lief nicht gut. Die Berichte waren uneinheitlich und unvollständig, und es war unverkennbar, dass die Emissionen trotz des Rückgangs von 2020 weit höher lagen als von den Vertragsparteien zugesichert. Die wenigsten Nationen hatten die selbst gesetzten Ziele erreicht, auch wenn diese nicht besonders ehrgeizig waren. Schon vor der Bestandsaufnahme 2023 hatten 108 Länder dieses Defizit erkannt und eine Verstärkung ihrer Anstrengungen versprochen. Allerdings handelte es sich um kleinere Nationen, die zusammen nur fünfzehn Prozent der globalen Emissionen verursachten.


Daher verwiesen einige Delegationen bei der Vertragsstaatenkonferenz im nächsten Jahr auf Artikel 16, Absatz 4, wo es hieß: Die VSK »fasst im Rahmen ihres Auftrags die notwendigen Beschlüsse, um seine wirksame Durchführung zu fördern. Sie …  setzt die zur Durchführung dieses Übereinkommens für notwendig erachteten Nebenorgane ein.« Außerdem brachten sie Artikel 18, Absatz 1 ins Spiel, der es der VSK gestattete, neue Nebenorgane für die Durchführung des Übereinkommens zu schaffen. Unter diesen Nebenorganen hatte man bisher Ausschüsse verstanden, die sich nur bei den jährlichen VSK-Tagungen trafen, doch nun argumentierten einige Delegierte, dass angesichts der bisherigen Misserfolge ein neues Nebenorgan mit permanenten Aufgaben benötigt wurde, um den Prozess voranzutreiben.


So kam es, dass die Vertragsparteien bei der VSK 29 in Bogota, Kolumbien, ein neues Nebenorgan zur Durchführung des Übereinkommens ins Leben riefen. Finanziert werden sollte dieses unter Berufung auf Artikel 8, in dem sich alle Vertragsparteien zur Anwendung des Internationalen Mechanismus von Warschau für klimabedingte Verluste und Schäden verpflichteten. In der Ankündigung hieß es: »Hiermit beschließt die neunundzwanzigste Vertragsstaatenkonferenz, die als Tagung der Vertragsparteien des Klimaübereinkommens von Paris dient, die Bildung eines Nebenorgans, das in Zusammenarbeit mit der Zwischenstaatlichen Sachverständigengruppe für Klimaveränderungen und allen Organisationen der Vereinten Nationen sowie den Unterzeichnerstaaten des Übereinkommens von Paris für die zukünftigen Generationen der Welt eintreten wird, um deren in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte genannten Rechte durchzusetzen. Weiterhin erhält dieses neue Nebenorgan den Auftrag, sich für eine Verbesserung des gesetzlichen Status und den Schutz aller gegenwärtig und zukünftig existierenden Lebewesen einzusetzen, die nicht für sich sprechen können.«


Ein Journalist bezeichnete diese neue Behörde als Zukunftsministerium, und dieser Name setzte sich rasch durch. Sie wurde im Januar 2025 in Zürich gegründet. Kurz darauf wurde Indien von der großen Hitzewelle heimgesucht.


Mit freundlicher Genehmigung des  © Wilhelm Heyne Verlags (2021), München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH; Übersetzung: Paul Bär

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