Im Sommer vergangenen Jahres hätte ich keinen roten Heller auf das parlamentarische Überleben der Partei Die Linke gesetzt. Auch nach dem Austritt von Sarah Wagenknecht und Gefolgschaft ging der Zerfall von Die Linke offenbar weiter. Bekanntlich ist es trotz dieser Absetzbewegungen anders gekommen. Die Linke hat mit deutlich über acht Prozent der Stimmen ein – man kann ohne Übertreibung sagen – fast schon sensationelles Wahlergebnis erzielt. Zugleich ist die Mitgliederzahl aufgrund einer Eintrittswelle auf über 120.000 gestiegen; vor allem junge Leute wollen in der Partei aktiv werden. Was sind die Gründe für diesen Erfolg? Meine These lautet, dass Die Linke sich – auch von den Ereignissen getrieben – auf den neuen politischen Kampfzyklus eingestellt hat. Die Partei ist zur Adressatin einer Bewegung gegen den Rechtsruck im politischen System und der Gesellschaft geworden. Während sich andere demokratische Parteien von der radikalen Rechten treiben lassen, steht Die Linke für eine klare Opposition gegen die AfD, für eine eindeutige Absage an den Ausverkauf von Humanität, wie er derzeit das demokratische politische Spektrum prägt.
Der neue Kampfzyklus
Der wahlpolitische Erfolg ist das eine, ihn in eine Erneuerung linker, sozialistischer Politik zu übersetzen, ist eine Zukunftsaufgabe, die noch der Bearbeitung harrt. Links-grün gehört die Zukunft, hatte ich zum Ende des Jahres 2024 in einem Interview mit der taz argumentiert und gemutmaßt, dass sich möglicherweise eine neue Parteiformation herausbilden werde (Krüger/Beucker 2024). Im parteiunabhängigen Jugendverband »Zeit für was Neues« (neuerdings: Junge Linke), sah ich einen der potenziellen Akteure für ein derartiges Unterfangen. Eine solche Neugründung ist nun erst einmal vom Tisch. Die Linkspartei hat das Mandat, die antifaschistische Opposition in wichtigen Teilen zu repräsentieren und sie im vor uns liegenden Kampfzyklus handlungsfähig zu machen.
Neueinstellung auf einen politischen Kampfzyklus bedeutet zunächst, sich analytische Klarheit über das zu verschaffen, was künftig die politischen Agenden bestimmen wird. Schien es noch vor Kurzem so, als stehe ein grüner Stakeholder-Kapitalismus vor dem Durchbruch, ist von dieser kapitalfreundlichen Modernisierungsvision wenig geblieben. An den normativen Vorgaben eines solchen gemessen, zeichnet sich in vielen frühindustrialisierten Staaten eine Rückwärtsbewegung ab (vgl. auch Candeias 2024b). »Klima. Handel. Diversität: Das große Rollback«, überschrieb die Handelsblatt-Redaktion ihr Resümee des Weltwirtschaftsforums 2025. Weiter heißt es:
»Davos war immer das Gipfeltreffen der Globalisierungsapologeten. Wer hierher fuhr, hatte den größten Teil seiner Karriere in einer Welt verbracht, die immer enger zusammenwuchs, in der weltumspannende Konzerne immer grenzenlosen Handel treiben konnten. Doch diese Welt gibt es nicht mehr. Vieles, was die Kosmopoliten in den vergangenen Jahren in den Schweizer Alpen beschworen, wickelt Donald Trump gerade ab – mit einer Willenskraft, einer Entschlossenheit und einer Geschwindigkeit, die selbst seine Anhänger überraschen dürfte: Deals statt multilateraler Diplomatie, Recht des Stärkeren statt Stärke des Rechts, ›Drill, Baby, drill‹ statt grüner Energie« (Matthes 2025).
Was hier als Beginn eines »Post-Globalisierungs-Zeitalters« angekündigt wird, führt möglicherweise zur Signatur der vor uns liegenden Epoche. Ein zentrales Problem vieler Visionen eines grünen, nachhaltigen Stakeholder-Kapitalismus war, dass sie die Widersprüchlichkeit und Konfliktträchtigkeit des Wandels unterschätzten. Gesellschaftliche Transformationen von einer Reichweite, die sich mit den Auswirkungen der ersten industriellen Revolution vergleichen lassen, sind darauf angewiesen, dass ihre Protagonisten neue soziale Regeln kreieren und zivilgesellschaftlich verankern. Dies ist den politischen Kräften, die sich während der zurückliegenden Jahre für unterschiedliche Varianten eines Green Deal stark machten, nicht gelungen. Weil sie es nicht vermochten, ökologische Nachhaltigkeit glaubwürdig mit sozialer Gerechtigkeit zu verbinden, haben sie ihre Mehrheitsfähigkeit eingebüßt und den Raum für politische Allianzen geöffnet, die unter völlig anderen historischen Bedingungen praktizieren, was der Staatstheoretiker Hermann Heller (1933, 650) am Ende der Weimarer Republik für die Essenz eines autoritären Liberalismus hielt:
»Die Bezeichnung dieser politischen Willensrichtung als Liberalismus rechtfertigt sich in erster Linie durch ihre Stellungnahme zum Kardinalproblem der Gegenwart, zur Frage der Wirtschaftsordnung. Sobald nämlich von Wirtschaft die Rede ist, verzichtet der ›autoritäre‹ Staat restlos auf seine Autorität und seine angeblich ›konservativen‹ Wortführer kennen nur noch die eine Parole: Freiheit der Wirtschaft vom Staate!«
In der Gegenwart erleben wir die Wiederkehr eines autoritären Liberalismus in neuem Gewand, der auf die konfliktreiche sozial-ökologische und digitale Transformation reagiert, indem er die nationale Wirtschaft von bürokratischen Fesseln befreien und den Klimaschutz, so er überhaupt noch als relevantes Ziel angestrebt wird, in erster Linie den Marktkräften und dem technischen Fortschritt überlassen will. In dieser Konstellation müssen wir mit einem anti-ökologischen und zugleich antisozialen backlash rechnen, dessen Protagonisten digitale Technik nutzen, um die Herrschaft eines oligarchischen Kapitalismus mit entkernter Demokratie durchzusetzen und für lange Zeit zu befestigen. Das ist die politische Konstellation, vor deren Hintergrund linke, emanzipatorische Politik neu begründet werden muss.
Der Shooting-Star
Heidi Reichinnek, mittlerweile laut Demoskopie eine der populärsten Politikerinnen der Bundesrepublik, verkörpert eine eindrucksvolle Mobilisierung gegen den politischen Rechtsruck. Diese Gegenbewegung hat der Linkspartei zu einer zweiten Chance verholfen. Ob und wie diese Chance genutzt wird, müssen vor allem diejenigen entscheiden, die sich zu Tausenden neu organisieren. Statt nach »Schulung, Schulung, Schulung!« zu rufen, ist, so meine ich, erst einmal »Zuhören, Zuhören, Zuhören!« angesagt.
Das trifft auch für mich selbst zu. Nachfolgende Überlegungen zur Zukunft der Linkspartei sind deshalb als Beitrag zu einer tastenden Suchbewegung zu verstehen. Die gesellschaftliche Linke insgesamt und auch die Linkspartei müssen sich, so die These, neu erfinden. Sie haben sich auf einen Kampfzyklus einzustellen, der vom Kampf um eine neue Weltordnung, Kriegen, Aufrüstung, einer radikalen Rechten auf dem Vormarsch sowie einem Rollback bei ökologischen und sozialen Nachhaltigkeitszielen geprägt sein dürfte. Wir werden aber auch mit dem anhaltenden Niedergang einer kapitalistischen Formation konfrontiert sein, welcher selbst Teile der kapitalistischen Eliten noch vor wenigen Jahren die Zukunftsfähigkeit abgesprochen hatten (Schwab/Malleret 2020). Wie lässt sich unter solchen Bedingungen erfolgreich linke, emanzipatorische Politik betreiben?
Netzkommunikation
Beginnen wir den Antwortversuch mit dem jüngsten Strukturwandel der Öffentlichkeit und seiner Bedeutung für emanzipatorische Politik. Dass eine Linkspolitikerin soziale Medien, die bis vor kurzem als Domäne von AfD oder FDP galten, erfolgreich nutzt, ist ein gutes Zeichen. Heidi Reichinnek erreicht offenbar eine Generation von digital natives, für die Printmedien und Nachrichtensendungen in Funk und Fernsehen zu einer längst vergangenen Welt gehören. Doch wie stark können Bindungen sein, die auf Mobilisierungen in den sozialen Netzwerken beruhen? Eine Kommunikation, die um Wahrnehmung in den Aufmerksamkeitsmärkten konkurriert, kann allein keine dauerhafte politische Loyalität und Bindekraft erzeugen. Die digital zunächst sehr erfolgreichen Freidemokraten, aber auch Sarah Wagenknecht und das BSW liefern den Beweis. Als Medienstar und mit Dauerpräsenz in Talkshows wie im Netz, hatte Sarah Wagenknecht ihrer Partei zu einer fiktiven Stärke verholfen, die sich rasch verflüchtigte, als das BSW in Landesregierungen einzog, die wenig zum Besseren verändern werden. Mediale Aufmerksamkeit erreichen seither vor allem parteiinterne Konflikte und Intrigen.
Kann es der Partei Die Linke ähnlich ergehen? Ausgeschlossen ist das keineswegs, denn das Prinzip Hoffnung reagiert empfindlich auf Enttäuschungen. Deshalb ist es wichtig, zunächst zu ergründen, was junge Leute antreibt, die entgegen aller Prognosen in Scharen Linkspartei gewählt und zu Tausenden eine Mitgliedschaft beantragt haben. Um die Motive zu verstehen, ist ein Blick von außen wichtig, über den Sarah-Lee Heinrich, ehemals Bundessprecherin der Grünen Jugend, verfügt. Im Interview beschreibt sie die Stimmungslage unter den Jüngeren wie folgt:
»Was wir erlebt haben, ist ein krasser Frust unter jungen Leuten, der auch zu sehr starken Wanderungen führt, was die Menschen mal politisch gut fanden und wo sie jetzt stehen. Sie sind so dermaßen enttäuscht von der etablierten Politik, dass sie das Gefühl haben, sie finden darin nicht nur keine Vertretung, sondern vor allem wird ihr Leben zunehmend schlechter. Und das ist nicht nur ein Gefühl, sondern eine Realität. Deshalb ist unser erster Ansatz auch nicht der Versuch, andere von linker Politik oder abstrakten linken Idealen zu begeistern, sondern wir wollen sie dafür begeistern, sich gemeinsam für ihre Interessen einzusetzen, um in eine Selbstaktivität überzugehen und dadurch falsche Erzählungen von rechts entkräften, indem gezeigt wird, dass es auch andere Wege geben kann, dass das Leben besser werden kann, ohne Ausländer rausschmeißen zu müssen.« (Heinrich/Borchardt 2025)
Mit diesen Worten bringt, die ehemalige Grünen-Politikerin, die ihre Partei verlassen und die Junge Linke mitgegründet hat, auf den Punkt, was nicht nur junge Leute umtreibt. Das Vertrauen in die gesamte politische Klasse tendiert gegen null. Reform wird mit Verschlechterung gleichgesetzt. Man ist diplomatische Floskeln leid, wünscht sich eine klare Sprache und verlangt von politischen Parteien allgemein und besonders von Die Linke, dass sie ihre Nützlichkeit beim alltäglichen Kampf um ein besseres Leben praktisch unter Beweis stellen.
Um es klar zu sagen: Wenn engagierte Neumitglieder auf Strukturen treffen, die sich in bloßem parlamentarischem Mittun oder in ausgeprägten Sektenkämpfen der Zentralkomitees für ewige Wahrheiten erschöpfen, wird es mit dem Aufschwung der Linkspartei alsbald wieder vorbei sein. Deshalb sollte die Neuerfindung von Die Linke mit Fragen statt mit fertigen Antworten beginnen. Was erwarten die neuen Mitglieder von ihrer Partei? Welche Themen brennen ihnen auf den Nägeln? Wie stellen sie sich sinnvolles politisches Engagement vor? Die neue, noch im Entstehen befindliche Linkspartei wird sich für authentische Antworten interessieren müssen, denn davon hängt ab, ob es künftig gelingt, ihren Gebrauchswert, ihre gesellschaftliche Nützlichkeit zu beweisen.
Wen repräsentiert Die Linke?
Von strategischer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang Antworten auf die Frage, welche gesellschaftlichen Großgruppen Die Linke politisch repräsentiert. Meine Antwort dürfte überraschen: Die Linke ist eine Partei von – potentiellen – Lohnabhängigen, aber keine der Konventionellen Arbeiterklasse. Zu diesem Befund gelangt man, wenn man mit der Vorstellung bricht, es gebe noch immer die eine Arbeiterklasse, die, der ewigen Dialektik von Einheit und Spaltung folgend, in alltäglichen Klassenkämpfen zu sich selbst findet, um letztendlich als Subjekt emanzipatorischer Politik zu agieren. Lohnarbeitsklassen müssen im 21. Jahrhundert im Plural buchstabiert werden. Sie unterscheiden sich nicht allein durch ihre Stellung in Arbeits- und (Re-)Produktionsprozessen, sondern wesentlich durch Struktur und Volumen des jeweils verfügbaren Sozialeigentums.[1]
