Im Sommer vergangenen Jahres hätte ich keinen roten Heller auf das parlamentarische Überleben der Partei Die Linke gesetzt. Auch nach dem Austritt von Sarah Wagenknecht und Gefolgschaft ging der Zerfall von Die Linke offenbar weiter. Bekanntlich ist es trotz dieser Absetzbewegungen anders gekommen. Die Linke hat mit deutlich über acht Prozent der Stimmen ein – man kann ohne Übertreibung sagen – fast schon sensationelles Wahlergebnis erzielt. Zugleich ist die Mitgliederzahl aufgrund einer Eintrittswelle auf über 120.000 gestiegen; vor allem junge Leute wollen in der Partei aktiv werden. Was sind die Gründe für diesen Erfolg? Meine These lautet, dass Die Linke sich – auch von den Ereignissen getrieben – auf den neuen politischen Kampfzyklus eingestellt hat. Die Partei ist zur Adressatin einer Bewegung gegen den Rechtsruck im politischen System und der Gesellschaft geworden. Während sich andere demokratische Parteien von der radikalen Rechten treiben lassen, steht Die Linke für eine klare Opposition gegen die AfD, für eine eindeutige Absage an den Ausverkauf von Humanität, wie er derzeit das demokratische politische Spektrum prägt.

Der neue Kampfzyklus

Der wahlpolitische Erfolg ist das eine, ihn in eine Erneuerung linker, sozialistischer Politik zu übersetzen, ist eine Zukunftsaufgabe, die noch der Bearbeitung harrt. Links-grün gehört die Zukunft, hatte ich zum Ende des Jahres 2024 in einem Interview mit der taz argumentiert und gemutmaßt, dass sich möglicherweise eine neue Parteiformation herausbilden werde (Krüger/Beucker 2024). Im parteiunabhängigen Jugendverband »Zeit für was Neues« (neuerdings: Junge Linke), sah ich einen der potenziellen Akteure für ein derartiges Unterfangen. Eine solche Neugründung ist nun erst einmal vom Tisch. Die Linkspartei hat das Mandat, die antifaschistische Opposition in wichtigen Teilen zu repräsentieren und sie im vor uns liegenden Kampfzyklus handlungsfähig zu machen.

Neueinstellung auf einen politischen Kampfzyklus bedeutet zunächst, sich analytische Klarheit über das zu verschaffen, was künftig die politischen Agenden bestimmen wird. Schien es noch vor Kurzem so, als stehe ein grüner Stakeholder-Kapitalismus vor dem Durchbruch, ist von dieser kapitalfreundlichen Modernisierungsvision wenig geblieben. An den normativen Vorgaben eines solchen gemessen, zeichnet sich in vielen frühindustrialisierten Staaten eine Rückwärtsbewegung ab (vgl. auch Candeias 2024b). »Klima. Handel. Diversität: Das große Rollback«, überschrieb die Handelsblatt-Redaktion ihr Resümee des Weltwirtschaftsforums 2025. Weiter heißt es: 

»Davos war immer das Gipfeltreffen der Globalisierungsapologeten. Wer hierher fuhr, hatte den größten Teil seiner Karriere in einer Welt verbracht, die immer enger zusammenwuchs, in der weltumspannende Konzerne immer grenzenlosen Handel treiben konnten. Doch diese Welt gibt es nicht mehr. Vieles, was die Kosmopoliten in den vergangenen Jahren in den Schweizer Alpen beschworen, wickelt Donald Trump gerade ab – mit einer Willenskraft, einer Entschlossenheit und einer Geschwindigkeit, die selbst seine Anhänger überraschen dürfte: Deals statt multilateraler Diplomatie, Recht des Stärkeren statt Stärke des Rechts, ›Drill, Baby, drill‹ statt grüner Energie« (Matthes 2025).

Was hier als Beginn eines »Post-Globalisierungs-Zeitalters« angekündigt wird, führt möglicherweise zur Signatur der vor uns liegenden Epoche. Ein zentrales Problem vieler Visionen eines grünen, nachhaltigen Stakeholder-Kapitalismus war, dass sie die Widersprüchlichkeit und Konfliktträchtigkeit des Wandels unterschätzten. Gesellschaftliche Transformationen von einer Reichweite, die sich mit den Auswirkungen der ersten industriellen Revolution vergleichen lassen, sind darauf angewiesen, dass ihre Protagonisten neue soziale Regeln kreieren und zivilgesellschaftlich verankern. Dies ist den politischen Kräften, die sich während der zurückliegenden Jahre für unterschiedliche Varianten eines Green Deal stark machten, nicht gelungen. Weil sie es nicht vermochten, ökologische Nachhaltigkeit glaubwürdig mit sozialer Gerechtigkeit zu verbinden, haben sie ihre Mehrheitsfähigkeit eingebüßt und den Raum für politische Allianzen geöffnet, die unter völlig anderen historischen Bedingungen praktizieren, was der Staatstheoretiker Hermann Heller (1933, 650) am Ende der Weimarer Republik für die Essenz eines autoritären Liberalismus hielt:

»Die Bezeichnung dieser politischen Willensrichtung als Liberalismus rechtfertigt sich in erster Linie durch ihre Stellungnahme zum Kardinalproblem der Gegenwart, zur Frage der Wirtschaftsordnung. Sobald nämlich von Wirtschaft die Rede ist, verzichtet der ›autoritäre‹ Staat restlos auf seine Autorität und seine angeblich ›konservativen‹ Wortführer kennen nur noch die eine Parole: Freiheit der Wirtschaft vom Staate!«

In der Gegenwart erleben wir die Wiederkehr eines autoritären Liberalismus in neuem Gewand, der auf die konfliktreiche sozial-ökologische und digitale Transformation reagiert, indem er die nationale Wirtschaft von bürokratischen Fesseln befreien und den Klimaschutz, so er überhaupt noch als relevantes Ziel angestrebt wird, in erster Linie den Marktkräften und dem technischen Fortschritt überlassen will. In dieser Konstellation müssen wir mit einem anti-ökologischen und zugleich antisozialen backlash rechnen, dessen Protagonisten digitale Technik nutzen, um die Herrschaft eines oligarchischen Kapitalismus mit entkernter Demokratie durchzusetzen und für lange Zeit zu befestigen. Das ist die politische Konstellation, vor deren Hintergrund linke, emanzipatorische Politik neu begründet werden muss. 

Der Shooting-Star

Heidi Reichinnek, mittlerweile laut Demoskopie eine der populärsten Politikerinnen der Bundesrepublik, verkörpert eine eindrucksvolle Mobilisierung gegen den politischen Rechtsruck. Diese Gegenbewegung hat der Linkspartei zu einer zweiten Chance verholfen. Ob und wie diese Chance genutzt wird, müssen vor allem diejenigen entscheiden, die sich zu Tausenden neu organisieren. Statt nach »Schulung, Schulung, Schulung!« zu rufen, ist, so meine ich, erst einmal »Zuhören, Zuhören, Zuhören!« angesagt. 

Das trifft auch für mich selbst zu. Nachfolgende Überlegungen zur Zukunft der Linkspartei sind deshalb als Beitrag zu einer tastenden Suchbewegung zu verstehen. Die gesellschaftliche Linke insgesamt und auch die Linkspartei müssen sich, so die These, neu erfinden. Sie haben sich auf einen Kampfzyklus einzustellen, der vom Kampf um eine neue Weltordnung, Kriegen, Aufrüstung, einer radikalen Rechten auf dem Vormarsch sowie einem Rollback bei ökologischen und sozialen Nachhaltigkeitszielen geprägt sein dürfte. Wir werden aber auch mit dem anhaltenden Niedergang einer kapitalistischen Formation konfrontiert sein, welcher selbst Teile der kapitalistischen Eliten noch vor wenigen Jahren die Zukunftsfähigkeit abgesprochen hatten (Schwab/Malleret 2020). Wie lässt sich unter solchen Bedingungen erfolgreich linke, emanzipatorische Politik betreiben?

Netzkommunikation

Beginnen wir den Antwortversuch mit dem jüngsten Strukturwandel der Öffentlichkeit und seiner Bedeutung für emanzipatorische Politik. Dass eine Linkspolitikerin soziale Medien, die bis vor kurzem als Domäne von AfD oder FDP galten, erfolgreich nutzt, ist ein gutes Zeichen. Heidi Reichinnek erreicht offenbar eine Generation von digital natives, für die Printmedien und Nachrichtensendungen in Funk und Fernsehen zu einer längst vergangenen Welt gehören. Doch wie stark können Bindungen sein, die auf Mobilisierungen in den sozialen Netzwerken beruhen? Eine Kommunikation, die um Wahrnehmung in den Aufmerksamkeitsmärkten konkurriert, kann allein keine dauerhafte politische Loyalität und Bindekraft erzeugen. Die digital zunächst sehr erfolgreichen Freidemokraten, aber auch Sarah Wagenknecht und das BSW liefern den Beweis. Als Medienstar und mit Dauerpräsenz in Talkshows wie im Netz, hatte Sarah Wagenknecht ihrer Partei zu einer fiktiven Stärke verholfen, die sich rasch verflüchtigte, als das BSW in Landesregierungen einzog, die wenig zum Besseren verändern werden. Mediale Aufmerksamkeit erreichen seither vor allem parteiinterne Konflikte und Intrigen.

Kann es der Partei Die Linke ähnlich ergehen? Ausgeschlossen ist das keineswegs, denn das Prinzip Hoffnung reagiert empfindlich auf Enttäuschungen. Deshalb ist es wichtig, zunächst zu ergründen, was junge Leute antreibt, die entgegen aller Prognosen in Scharen Linkspartei gewählt und zu Tausenden eine Mitgliedschaft beantragt haben. Um die Motive zu verstehen, ist ein Blick von außen wichtig, über den Sarah-Lee Heinrich, ehemals Bundessprecherin der Grünen Jugend, verfügt. Im Interview beschreibt sie die Stimmungslage unter den Jüngeren wie folgt: 

»Was wir erlebt haben, ist ein krasser Frust unter jungen Leuten, der auch zu sehr starken Wanderungen führt, was die Menschen mal politisch gut fanden und wo sie jetzt stehen. Sie sind so dermaßen enttäuscht von der etablierten Politik, dass sie das Gefühl haben, sie finden darin nicht nur keine Vertretung, sondern vor allem wird ihr Leben zunehmend schlechter. Und das ist nicht nur ein Gefühl, sondern eine Realität. Deshalb ist unser erster Ansatz auch nicht der Versuch, andere von linker Politik oder abstrakten linken Idealen zu begeistern, sondern wir wollen sie dafür begeistern, sich gemeinsam für ihre Interessen einzusetzen, um in eine Selbstaktivität überzugehen und dadurch falsche Erzählungen von rechts entkräften, indem gezeigt wird, dass es auch andere Wege geben kann, dass das Leben besser werden kann, ohne Ausländer rausschmeißen zu müssen.« (Heinrich/Borchardt 2025)

Mit diesen Worten bringt, die ehemalige Grünen-Politikerin, die ihre Partei verlassen und die Junge Linke mitgegründet hat, auf den Punkt, was nicht nur junge Leute umtreibt. Das Vertrauen in die gesamte politische Klasse tendiert gegen null. Reform wird mit Verschlechterung gleichgesetzt. Man ist diplomatische Floskeln leid, wünscht sich eine klare Sprache und verlangt von politischen Parteien allgemein und besonders von Die Linke, dass sie ihre Nützlichkeit beim alltäglichen Kampf um ein besseres Leben praktisch unter Beweis stellen. 

Um es klar zu sagen: Wenn engagierte Neumitglieder auf Strukturen treffen, die sich in bloßem parlamentarischem Mittun oder in ausgeprägten Sektenkämpfen der Zentralkomitees für ewige Wahrheiten erschöpfen, wird es mit dem Aufschwung der Linkspartei alsbald wieder vorbei sein. Deshalb sollte die Neuerfindung von Die Linke mit Fragen statt mit fertigen Antworten beginnen. Was erwarten die neuen Mitglieder von ihrer Partei? Welche Themen brennen ihnen auf den Nägeln? Wie stellen sie sich sinnvolles politisches Engagement vor? Die neue, noch im Entstehen befindliche Linkspartei wird sich für authentische Antworten interessieren müssen, denn davon hängt ab, ob es künftig gelingt, ihren Gebrauchswert, ihre gesellschaftliche Nützlichkeit zu beweisen.

Wen repräsentiert Die Linke?

Von strategischer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang Antworten auf die Frage, welche gesellschaftlichen Großgruppen Die Linke politisch repräsentiert. Meine Antwort dürfte überraschen: Die Linke ist eine Partei von – potentiellen – Lohnabhängigen, aber keine der Konventionellen Arbeiterklasse. Zu diesem Befund gelangt man, wenn man mit der Vorstellung bricht, es gebe noch immer die eine Arbeiterklasse, die, der ewigen Dialektik von Einheit und Spaltung folgend, in alltäglichen Klassenkämpfen zu sich selbst findet, um letztendlich als Subjekt emanzipatorischer Politik zu agieren. Lohnarbeitsklassen müssen im 21. Jahrhundert im Plural buchstabiert werden. Sie unterscheiden sich nicht allein durch ihre Stellung in Arbeits- und (Re-)Produktionsprozessen, sondern wesentlich durch Struktur und Volumen des jeweils verfügbaren Sozialeigentums.[1]

»Die Linke ist eine Partei mit überdurchschnittlich großer Verankerung in einer Neuen Lohnarbeitsklasse mit akademischer oder vergleichbarer Bildung«

Sozialeigentum bezeichnet ein soziales Verhältnis, in welchem sich Individuen oder soziale Gruppen zu elementaren gesellschaftlichen Sicherheitsleistungen, sozialen und Partizipationsrechten in Beziehung setzen. Es verleiht den Klassenpositionen von Lohnarbeitenden einen kollektiven sozialen Status und macht aus proletarischen Existenzen Sozialbüger*innen. Soziales Eigentum kann als »Produktion äquivalenter sozialer Sicherungsleistungen« bezeichnet werden, »wie sie zuvor allein das (kapitalistische, d. A.) Privateigentum lieferte« (Castel 2005, 42f). Die Verbindung von Klasse und Status schließt eine Lücke, die David Lockwood bereits vor Jahrzehnten als zentrale Schwachstelle der marxschen Klassentheorie identifiziert hatte (Lockwood 2010, 73). Klassenhandeln bedeutet für jene, die zur Konventionellen Arbeiterklasse zählen, gegenwärtig vor allem Kampf gegen Statusverlust, bestenfalls aber für Statusverbesserungen. Dabei findet ein ständiges, rational wie emotional motiviertes Abwägen von Zielen und Mitteln statt. Solche Kalküle können dazu führen, dass die Verteidigung des Sozialbürgerstatus etwa bei Stammbelegschaften im Braunkohlebergbau, dem Öffentlichen Dienst, der Energiewirtschaft oder der Auto- und Zulieferindustrie gelegentlich ausgesprochen konservierende Züge annimmt. 

Was sich nach akademischen Spitzfindigkeiten anhören mag, besitzt (klassen-)politische Bedeutung. Die Linke ist eine Partei mit überdurchschnittlich großer Verankerung in einer Neuen Lohnarbeitsklasse mit akademischer oder vergleichbarer Bildung, Überblick über ganze Produktions-, Güter- und Sorgeketten, aber ohne Verfügung über Produktionsmittel und auch ohne Kontrollmacht über Personen. Diese soziale Großgruppe, zu der nach dem Jenaer Klassenmodell (vgl. Abb. 1) 13,7 Prozent der Erwerbsbevölkerung gehören, ist an ihrer Haltung zu sozialer Ungleichheit und ökologischer Nachhaltigkeit gemessen, die durchschnittlich progressivste Klasse (Butting u.a. 2025). In ihren gesellschafts- und kapitalismuskritischen Teilen tendiert diese Klasse zu einer Grundhaltung, wie sie in der marxistischen Literatur des 20. Jahrhunderts teilweise der »Massenschicht Intelligenz« zugeschrieben wurde. Kopfarbeiterinnen und -arbeiter zeichneten sich, so bereits der marxistische Sozialdemokrat Karl Kautsky, durch ihren weiten geistigen Horizont aus. Sie kämen am leichtesten dahin, sich über Augenblicks- und Sonderinteressen »erhaben zu fühlen« und »die dauernden Bedürfnisse der gesamten Gesellschaft ins Auge zu fassen und zu vertreten« (Kautsky 1899, 133). Allerdings tendierten sie auch dazu, diese »dauerhaften Bedürfnisse« aus einer Perspektive zu betrachten, die sich oberhalb der Klassengrenzen verorte (ebd.).

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Abbildung 1: Jenaer Klassenmodell (n=19.381). Erwerbsbevölkerung ab 15 bis 64 Jahre

 

Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage von BIBB/BAuA 2018, Statistisches Bundesamt 2023, BAG W 2019, Statista 2022, Bundesagentur für Arbeit 2024, Der Paritätische Wohlfahrtsverband – Gesamtverband 2019.

Wir nutzen eine repräsentative telefonische Erwerbstätigenbefragung, die vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) und der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) im sechsjährigen Rhythmus durchgeführt wird. 2018 wurden etwa 20.000 Personen ab dem 16. Lebensjahr befragt, die einem Erwerb mit einer regelmäßigen Arbeitszeit von mindestens 10 Wochenstunden nachgehen. Themen sind u.a. die Beschäftigungssituation, Einschätzungen zum Arbeitsplatz, die berufliche Qualifikation und die Gesundheit (BIBB 2018). Um die Untere Klasse modellieren und die Erwerbstätigen möglichst vollständig erfassen zu können, haben wir dem ursprünglichen Datensatz die »armen Arbeitslosen« und die ausschließlich geringfügig Beschäftigten mit weniger als zehn Wochenarbeitsstunden hinzugefügt. Da der Datensatz ursprünglich nicht auf unser Klassenmodell zugeschnitten war, mussten wir bei den Zuordnungskriterien auf Berufe zugreifen.

Exakt dies ist in der Gegenwart bei großen Teilen der Neuen Lohnarbeiterklasse der Fall.[2] Anders als den Zwischenschichten des frühen 20. Jahrhunderts steht akademisch gebildeten Lohnabhängigen heute aber kein klassenbewusstes Proletariat gegenüber, das den Kopfarbeitenden mangelnde Kampfbereitschaft vorhalten könnte. Wenn gut die Hälfte eines Jahrgangs die Hochschulreife erwirbt, ist der Zugang zu akademischer Bildung kein Mittelklassenprivileg. Damit entfallen wichtige Kriterien, die Kautsky und nach ihm viele andere dazu animierten, eine höhere Bildung als Charakteristikum einer neuen Mittelklasse auszumachen, die, wie für Zwischenschichten üblich, beständig zwischen den Kollektivinteressen der gesellschaftlichen Hauptklassen schwankt. In der Gegenwart bilden die akademisch oder vergleichbar qualifizierten Loharbeitenden die Klasse mit der größten Veränderungsbereitschaft und der geringsten Furcht vor Verwerfungen, wie sie der sozial-ökologische Umbau mit sich bringt.

Verankerung in der Neuen Arbeiterklasse – eine Stärke 

Ein wichtiger Grund sind Struktur und Volumen des angeeigneten Sozialeigentums. Überdurchschnittliche berufliche Fähigkeiten machen die Klassenmitglieder, zumal unter den Bedingungen von Fachkräfteengpässen, relativ unverwundbar. Deshalb ist die Verbindung von moralischem Ungerechtigkeits- und ökologisch ambitioniertem Klimabewusstsein in dieser Klasse vergleichsweise stabil. Durchschnittswerte bei Einstellungsmustern dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Neue Arbeiterklasse wie alle anderen Klassen auch, politisch nicht nur heterogen, sondern intern geradezu gespalten ist. Am linken Pol überwiegen weibliche Klassenmitglieder, die in Berufen mit interpersoneller Arbeitslogik tätig sind und auf einen radikalen Umbau des Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells drängen (vgl. Candeias 2024a). Für Befragte wie Antonia, Vertrauensfrau bei Opel Eisenach, ist charakteristisch, dass sie sich in Betriebsrat und Gewerkschaft für einen Labour-Climate-Turn[3] einsetzen. Dabei sparen sie nicht mit Kritik an der Produktpalette des eigenen Werks:

»Das ist jetzt eigentlich voll lustig, weil, ich arbeite im Automobilunternehmen, und ich sage wirklich, ganz ehrlich, […] für mich gibt es zu viele Autos. […] Ich finde dann so Sprüche scheiße mit: ›Ja, die Schüler haben alle keinen Bock auf Schule, wenn sie zu Fridays for Future gehen.‹ Ich so: ›Leute, das sind junge Menschen, die engagiert sind für eine wahre Sache, die einfach passiert. Ihr merkt das auch, dass das passiert. Ihr wollt es nur nicht euch eingestehen.‹ Also ich bin da schon dafür, dass da unbedingt sich was wandelt, dass sich da was ändert, unbedingt. Ich weiß nicht, ob E-Mobilität wirklich der Heilige Gral ist, bin ich auch kritisch zum Teil« (Vertrauensfrau, Neue Arbeiterklasse, Opel Eisenach).[4] 

Den progressiven Teilen der Neuen Arbeiterklasse stehen am entgegengesetzten Pol allerdings Gruppen gegenüber, deren konservierende Grundhaltung mit beruflichen Tätigkeiten in vorwiegend technischen Arbeitslogiken korrespondiert. Je nach Branche und Betrieb können sie, wie unsere Forschungen in der Stahl- und Zulieferindustrie belegen, ganze Belegschaften dominieren.

Dass Die Linke in den progressiven Teilen der Neuen Arbeiterklasse stark präsent ist, muss indes als eine große Stärke betrachtet werden, der sich viele Parteimitglieder noch gar nicht bewusst sind. Die Handlungsfähigkeit früherer sozialistischer Arbeiterbewegungen beruhte darauf, dass ihre Organisationen sich als Repräsentationen allgemeiner Klasseninteressen verstanden haben. Das jedoch »nicht in dem dümmlichen Sinn, sich zur Vertreterin von allen oder – noch schlimmer – einer ›Mehrheit‹ zu erklären, sondern in dem Sinne, dass von den Beziehungen, die bei der Organisation der existenznotwendigen Produktion zwischen Menschen entstehen, ihre Freiheit abhängt« (Ingrao/Rossanda 1996, 110). In der Gegenwart kann man nicht mehr davon ausgehen, dass die Interessen einer Industriearbeiterschaft, die um ihren sozialen Status kämpft, »gleichzeitig auch die Verteidigung des entscheidenden politisch­sozialen Subjekts« bedeutet, das »ein tiefes eigenes Interesse an einer Gesellschaft freier Bürger« hat, »in der Männer und Frauen endlich von der Fremdbestimmung durch den Herrscher, die Kirche oder das Eigentum entbunden sind« (ebd.). Deshalb birgt die starke Verankerung von Die Linke in der progressivsten Lohnarbeitsklasse eine doppelte Chance. Zum einen kann die Partei sich daran beteiligen, dieser Klasse zu einem hegemoniefähigen, emanzipatorischen Selbstbewusstsein zu verhelfen, zum anderen trägt sie schon jetzt dazu bei, dass die Mitglieder dieser hochqualifizierten Neuen Arbeiterklasse den Blick nach unten, hin zur Konventionellen Arbeiterklasse, zur Unteren Klasse und auf die gesellschaftlichen Exklusionsbereiche richten. Was dies bedeutet, kann anhand einiger Erfolgsfaktoren beschrieben werden, die maßgeblich zum wahlpolitischen Erfolg der Linkspartei beigetragen haben.

Lernfähigkeit – das Beispiel KPÖ plus

Wichtig ist, dass Die Linke aus ihren Fehlern und Wahlniederlagen gelernt hat. In der Linken gab es schon länger Kontakte zur österreichischen KPÖ plus und Debatten zu ihren Methoden. Deshalb wäre ein knapper Exkurs zu diesem Fallbeispiel sinnvoll, das wir in Graz und Salzburg empirisch untersucht haben.[5] Ein Artikel zu dieser Untersuchung ist erst jüngst in der Zeitschrift LuXemburg erschienen, weshalb ich an dieser Stelle nur darauf verweisen kann (Borchardt u.a. 2025). Das Salzburger Beispiel der KPÖ plus und ihres Spitzenpersonals, das ursprünglich aus der Grünen Jugend stammt, bietet Fingerzeige, wie linke Politik von unten erfolgreich organisiert werden kann. Stichworte sind: klare Fokussierung auf ein Thema, direkte Hilfen zur Selbsthilfe für Betroffene, das Gemeinsame nach vorne und das Trennende hinten an zu stellen, glaubwürdige Mandatsträger*innen statt Berufspolitiker*innen, Durchschnittgehälter statt Karrierismus, klare Gegnerorientierung gegen die konservative ÖVP. Sicher verbieten sich vorschnelle Übertragungen auf deutsche Verhältnisse. 

Einigkeit und klares Profil 

Dennoch macht gerade der Salzburger Fall deutlich, woran es der Linkspartei lange fehlte. Unter dem Druck von Krisen und rechtsradikalen Anfeindungen kommt es auf Basales, auf solidarische Umgangsformen und authentische, fachkompetente Persönlichkeiten an. Ohne Beachtung dieser elementar wichtigen Erkenntnis – das bewusste Schaffen organisatorischer Strukturen, die solidarisches Handeln stützen, wird die Neuerfindung der Linken nicht gelingen. Zumindest im Bundestagswahlkampf hat Die Linke das beherzigt. Ob das Beispiel der KPÖ plus dabei von Bedeutung war, sei dahingestellt. Immerhin ist die Praxis der KPÖ plus zumindest der Co-Parteivorsitzenden Ines Schwerdtner gut bekannt. Bedeutsam ist, darin der KPÖ plus vergleichbar, dass die Partei geschlossen auftrat, das Trennende zurückstellte und sich ein klar erkennbares politisches Profil zulegte. Die Linke steht nun wieder für die soziale (Klassen-)Frage. Mit dem Mieten-Thema und der Forderung nach Umverteilung von oben nach unten (»Tax the Rich!«) hat sie einen Ansatz gewählt, der es ihr ermöglicht, soziale Gerechtigkeit jenseits von Lohn- und Gehaltsfragen politisch glaubwürdig einzuklagen. Nicht Betriebe und Unternehmen, sondern Städte und urbane Ballungsräume sind zum Katalysator für Bewegungen geworden, die sich gegen etwas wenden, was Marx als sekundäre Ausbeutung bezeichnet hat – Mietwucher, steigende Heizkosten und Nahrungsmittelpreise oder Einschränkung des Rechts auf barrierefreie Mobilität.

Wichtig ist zudem, dass die Linke sich klar zu einer politischen Frage positionieren konnte, die selbst aus der Perspektive politischer Eliten dringend der Klärung harrt. Gemeint ist die Schuldenbremse und die mit ihr verbundene Fiskalpolitik. Dass dieses Austeritäts-Regime angesichts bröckelnder Infrastrukturen nicht würde aufrecht zu erhalten sein, ist eine Position, die selbst aus der Perspektive eines ideellen Gesamtkapitalisten mehr als vernünftig klingt. In dieser Frage, so kann man sagen, weiß die Linkspartei Bevölkerungsmehrheiten hinter sich. Dass die künftigen Regierungsparteien in einer Art Coup noch mit der alten Bundestagsmehrheit, wenngleich inkonsequent und im Rahmen eines gigantischen Aufrüstungsprogramms, de facto von der Schuldenbremse Abschied genommen haben, unterstützt diese These.

Haustürwahlkampf und Bewegungspartei

Ein weiterer Erfolgsfaktor ist, dass Die Linke vom Political Organizing gelernt und es in vielen Versuchen erprobt hat. In Leipzig hatte ein Haustürwahlkampf, der auch auf solchen Erfahrungen beruhte, zum Gewinn eines Direktmandats für Nam Duy Nguyen geführt und der Partei das Überleben im sächsischen Landtag gesichert (Borchardt/Nguyen 2024). Der Haustürwahlkampf, wie ihn Teile der Partei in Leipzig, Berlin und anderen Orten auch während der Bundestagwahl betrieben haben, ist weit mehr als eine Wahlkampfstrategie. Es geht darum, angemessene Antworten auf die Krise des Politischen zu finden und die Kommunikation zwischen politischer Organisation und der Zivilgesellschaft jenseits des Kernstaates überhaupt erst wieder zu ermöglichen. Diese Art emanzipatorische Politik von unten zu machen, ist m. E. innovativ und ein Schlüssel zum Erfolg. Sie bietet neuen Mitgliedern die Möglichkeit, sich aktiv zu beteiligen. Und sie ist ein Weg, (nicht nur) die konventionelle Arbeiterklasse in ihren Lebensräumen zu erreichen. 

Opponieren und/oder Regieren?

Deshalb ist die Kritik, ein solcher Ansatz verzerre die Wahlchancen von Direktkandidatinnen und -kandidaten, wie er auch innerhalb der Linkspartei teilw. laut wird, unbegründet. Es handelt sich um ein ausgesprochen interessantes Konzept für eine Bewegungspartei, die anders sein will als andere Parteien. An Grenzen stößt diese Konzeption, weil sich nicht jederzeit, überall und dauerhaft genügend Aktive finden werden, die sich durch ständige Mobilisierbarkeit auszeichnen, an immer neuen Face-to-Face-Kontakten interessiert sind und sich in Bottom-up-Initiativen engagieren. An Grenzen stößt sie auch, wenn es darum geht, Forderungen etwa nach bezahlbaren Mieten und Heizkosten politisch durchzusetzen. Manches geht aus der Opposition heraus, doch Parteien, auch linke Parteien, benötigen eine Macht- und das heißt in parlamentarischen Demokratien gegebenenfalls eine Regierungsoption. Deshalb wäre es fatal, wenn Die Linke das Nicht-Regieren zu einem Dogma erheben würde. Eine reine Oppositionshaltung ist schon deshalb schwer möglich, weil die Partei – etwa in Thüringen oder Sachsen – punktuell mitregiert ohne direkt an den Landesregierungen beteiligt zu sein. 

Fahrlässig ist jedoch, wenn eine Regierungsbeteiligung um jeden Preis zu politischer Profillosigkeit führt. In Mecklenburg-Vorpommern und Bremen gibt es augenscheinlich solche Tendenzen. Es liegt mir fern, mich an internen Strömungskämpfen der Linkspartei zu beteiligen. Wenn Landesverbände von Die Linke ohne Not in einem demokratiepolitisch bedenklichen Verfahren und an der neuen Bundestagsmehrheit vorbei milliardenschweren Paketen nicht nur für Infrastruktur, sondern eben auch für Aufrüstung zustimmen, nimmt die Glaubwürdigkeit der Partei Schaden. Mag sein, dass die Zustimmung Resultat einer Erpressung seitens der stärkeren Koalitionspartner war, doch das Abstimmungsverhalten wirkt wie ein Schlag ins Gesicht der neuen Parteiführung und könnte sich schon bei künftigen Landtagswahlen rächen. Die Schlussfolgerungen aus solchem Verhalten kann nur lauten, dass eine Regierungsbeteiligung an klare inhaltliche Kriterien gebunden sein muss, deren Verletzung dann gegebenenfalls auch zur Aufkündigung des Mitregierens führt. 

Starkes Zentrum

So zu verfahren, setzt eine strategische Beweglichkeit voraus, die der alten Linkspartei abhandengekommen war. Entweder agierte man, wie z.B. in Thüringen, nur noch als Regierungspartei, oder man verlegte sich, wie in den meisten westlichen Bundesländern, aufs bloße Opponieren. Die neue Parteiführung wirkt strategisch wie taktisch beweglicher. Konflikte, die daraus resultieren, dass interne Strömungen ihre Profilierungsbedarfe über den Erfolg der Gesamtpartei stellen, hat sie bisher gut wegmoderiert. Wenn das auch in Zukunft gelingen soll, benötigt Die Linke allerdings ein politisches Zentrum mit Ausstrahlung, das in der Lage ist, die Stärken der unterschiedlichen Politikansätze, die in der Partei auch nach dem Abgang des Wagenknecht-Flügels noch immer vertreten sind, auf produktive Weise zu nutzen (vgl. Candeias 2022). Nicht nur Heidi Reichinnek, auch die Co-Vorsitzenden Jan van Aken und Ines Schwerdtner haben, so scheint es, das Zeug dazu. Erfolgreich agieren können sie, wie viele andere, die in der Partei Verantwortung übernehmen, aber nur, sofern ein strömungsübergreifendes Bewusstsein gestärkt wird, dem klar ist, dass es unterschiedliche Strategien sozialistischer Handlungsfähigkeit gibt, die nur gemeinsam erfolgreich sein können. Es bleibt keine Zeit, alte linke Sektenkämpfe erneut auszutragen und Strömungsinteressen den Perspektiven der Gesamtpartei überzuordnen. Die politischen Gegner sind zu mächtig als dass sich die Partei Die Linke wie auch die gesellschaftliche und politische Linke insgesamt derartiges noch einmal leisten könnten.

Die weißen Elefanten im Raum

Dies vor Augen, stellt sich sofort die Frage, wie mit den Elefanten im Raum umzugehen ist, für die linke Politik gegenwärtig keine Lösungen anzubieten hat. Spaltende Themen gibt es genug: Der Krieg in der Ukraine und deutsche Waffenlieferungen, linker Antisemitismus, der Hamas-Terror und die Verbrechen der israelischen Armee in Gaza, das Migrationsregime und vieles andere mehr. Die Linke wird nicht umhinkommen, zu allem eigene Positionen zu entwickeln. Das ist konstruktiv nur zu machen, sofern als Prämisse formuliert wird, was der politischen Realität entspricht: Gleich welche Position man beispielsweise im Ukraine-Krieg bezieht – man gerät unweigerlich in ein Dilemma. Was heißt es genau, wenn man mit der angegriffenen Ukraine solidarisch sein möchte, aber Waffenlieferungen, also auch den Export von Luftabwehrsystemen, prinzipiell ablehnt? 

»Die Linke hat, wohl erstmals in ihrer Geschichte, die Chance, zu einer wichtigen Adresse für die linke und linksliberale Intelligenz zu werden.«

Wie kann sich die Ukraine gegen täglichen Drohnenbeschuss auf zivile Ziele und lebensnotwendige Infrastruktur wehren? Soll sie kapitulieren? Wie ist zu bewerten, dass die Putin-Administration selbst nach der Demütigung Selenskyjs durch Donald Trump und der Forderung nach einem Frieden zu russischen Bedingungen den Krieg weiter eskaliert? Was sind die Alternativen zu Aufrüstungsprogrammen, die – mit dem britischen Historiker E. P. Thompson gesprochen – schon deshalb eine neue Form des Exterminismus, der potenziellen Massenvernichtung, darstellen, weil sie dem überfälligen sozial-ökologischen Umbau die so dringend benötigten Ressourcen entziehen? Sprechen wir es in aller Klarheit aus: Um tragfähige Antworten für emanzipatorische sozialistische Politik muss erst noch gerungen werden – und das nicht nur in Sachen Krieg und Frieden, sondern mit Blick auf alle weißen Elefanten, die im Raum stehen. 

Hier ließe sich nutzen, was sich im Wahlkampf bereits andeutete. Die Linke hat, wohl erstmals in ihrer Geschichte, die Chance, zu einer wichtigen Adresse für die linke und linksliberale Intelligenz zu werden. Dazu muss sie überwinden, was alle politischen Parteien auszeichnet, seitens der Linkspartei jedoch in geradezu schmerzhafter Weise praktiziert wurde. Sie sollte tunlichst alle Versuche unterlassen, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für Parteizwecke zu instrumentalisieren. Nichts ist im wissenschaftlichen Feld tödlicher als der Ruf, in Parteiabhängigkeit zu agieren. Und nichts schadet der Wahrheitssuche mehr als eine vordergründige Parteilichkeit. Die Linkspartei sollte deshalb Räume für einen Typ der Wissensproduktion schaffen, der dem Prinzip einer öffentlichen Wissenschaft verpflichtet ist. Es geht um die Programmatik und Praxis einer Wissenschaft, die in kritischer Solidarität mit der gesellschaftlichen und politischen Linken praktiziert, was der jüngst auf tragische Weise ums Leben gekommene Soziologe Michael Burawoy als Grundprinzip eines soziologischen Marxismus definiert hat: 

»Der soziologische Marxismus gibt theoretische Gewissheiten und praktische Imperative auf und versucht stattdessen, eine Balance oder einen Dialog zwischen Theorie und Praxis zu erreichen. Es geht ihm nicht nur darum, die Welt zu verändern, um sie besser zu verstehen. Wir spüren reale Utopien auf, die die kollektive Fantasie in Schwung bringen, aber wir befragen sie auch in Bezug auf ihre mögliche Verallgemeinerbarkeit« (Burawoy 2015, 161). 

Diesen Typus der Wissensproduktion zu fördern, ohne ihn an enge Parteiinteressen zu binden, wäre etwas wirklich Neues und böte zugleich die Möglichkeit, strittige Großthemen in konstruktiver Kontroverse zu bearbeiten.

Realitätssinn und utopischer Überschuss

Thematische Diskursfähigkeit erübrigt nicht, nach einem klaren politischen Profil zu suchen, das geeignet ist, in das politische Handgemenge einzugreifen, um Kräfteverhältnisse zu verändern. Dabei muss eine produktive Balance zwischen utopischem Überschuss und alltäglicher Interessenpolitik zwecks des Nachweises gesellschaftlicher Nützlichkeit geben. Sarah-Lee Heinrich formuliert das so: 

»Wir wollen junge Menschen erreichen, die das Gefühl der Einsamkeit und der ständigen Konkurrenz haben, und fragen, ob wir dem mit konkreten Projekten vor Ort etwas entgegensetzen können. Können wir wieder Begegnungsorte schaffen? Können wir uns gemeinsam für etwas einsetzen? […] Wir glauben, dass es aber auch nicht reicht, keine Konflikte zu führen, sondern am Ende muss das System grundlegend geändert werden – das ist unsere Position als Linke« (Heinrich/Borchardt 2025). 

Ein ökologischer Sozialstaat, der Wohlhabende gemäß ihres ökologischen und Klimafußabdrucks an den Kosten der sozialökologischen Transformation beteiligt, könnte ein Übergangsprojekt sein, das alltägliche Interessenpolitik und Systemkritik verbindet. Grundsätzlich hat demnach für die Verteilungseben zu gelten: Je größer der Klimafußabdruck, desto umfangreicher muss auch der Beitrag sein, der einen ökologischen Sozialstaat finanziert. Nur so lässt sich korrigieren, was Forschungen zum Verhältnis von sozialer Ungleichheit und klimaschädlichen Emissionen belegen – den unverhältnismäßig hohen Emissionsausstoß kapitalistischer Eliten, der vor allem zulasten der ärmeren Bevölkerung geht.

»Ein ökologischer Sozialstaat, der Wohlhabende gemäß ihres ökologischen Fußabdrucks an den Kosten der sozialökologischen Transformation beteiligt, könnte ein Übergangsprojekt sein, das alltägliche Interessenpolitik und Systemkritik verbindet.«

Das genannte Prinzip zur Anwendung gebracht, werden die Themen für linke Politik künftig auf der Straße liegen. So wird der CO2-Preis in den nächsten Jahren deutlich steigen – zu Lasten der kleinen Geldbörsen. Diesel, Benzin, Heizkosten, Mieten, Nahrungsmittel etc. werden dann deutlich teurer. Ein sozialer Ausgleich ist unter der schwarz-roten Koalition eher nicht zu erwarten. Will man die daraus resultierenden Themen nicht der radikalen Rechten überlassen, muss Die Linkspartei, muss die gesamte Linke aktiv werden. Wichtige Forderungen liegen auf der Hand: Abschaffung der Schuldenbremse, jährlich mindestens drei Prozent des BIP an öffentlichen Investitionen für den sozialökologischen Umbau, wie das Agora Energiewende fordert, Aufrüstungsstopp und Investitionen nicht nur in die physische, sondern auch in die soziale Infrastruktur.

All das wird die Linkspartei nicht allein erreichen. Sie kann jedoch zur Architektin neuer zivilgesellschaftlicher Allianzen werden, in denen Gewerkschaften, Klimabewegung, Sozialverbände und viele andere Akteure der demokratischen Zivilgesellschaft mit der politischen Linken zusammenarbeiten (vgl. Dück, Schulz, Urban 2025). Dabei ist zu beachten, »dass wir nur weiterarbeiten können, wenn wir ehrlich und sehr kritisch mit dem Zustand der Linken umgehen und keine rosarote Brille aufsetzen. Ich verstehe den Reflex, das Bedürfnis, in einer schlechten Situation Dinge besser darzustellen als sie sind, um Hoffnung zu schöpfen. Aber ich glaube, es ist wichtig, dass wir Hoffnung schöpfen aus den gesellschaftlichen Bedingungen und den Möglichkeiten, die darin liegen, und nicht wieder vorschnell anfangen, uns zu überschätzen« (ebd.), stellt Sarah-Lee Heinrich klar. 

Vielleicht bringt eine junge Klimaaktivistin den linksoppositionellen Zeitgeist auf den Punkt, wenn sie behauptet: »Aktivismus gegen Merz macht viel mehr Spaß als gegen die Ampel!«[6] Wie lange der Spaß anhält, bleibt ungewiss. Denn zu den Fakten gehört auch, dass die Linkspartei vor allem von Umverteilungen innerhalb des im weitesten Sinne linken Lagers profitiert hat. Eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse zugunsten emanzipatorischer Politik ist bisher nicht gelungen. Um das zu erreichen, wäre erforderlich, was es bisher nicht gibt – eine stärkere Verankerung und Mobilisierung in der Konventionellen Arbeiterklasse, ohne die es gesellschaftliche Mehrheiten nicht gibt. 

[1] Sozialeigentum ist nach Robert Castel eine Eigentumsform, die Lohnabhängigen aufgrund beruflicher Fähigkeiten, sozialer Rechte, tariflicher Normen, Mitbestimmungs- und Partizipationsmöglichkeiten etwas ermöglicht, was zuvor ausschließlich an privaten Besitz gekoppelt war – die Chance zu einer längerfristigen Lebensplanung (Castel, 2005, 41).

[2] Die quantitativen und qualitativen empirischen Daten finden sich, soweit nicht anders angegeben, in Butting u.a. (2025). Zusätzlich zum BIBB/BAuA-Datensatz sind das eine Bevölkerungsbefragung aus dem Frühjahr 2022 sowie ein qualitativer Datensatz zur sozialökologischen Transformation (JeTra) mit über 400 Befragten.

[3] Climate Labour Turn, wie ihn die Klimalinke propagiert, bezeichnet eine strategische Ausrichtung, die auf der einen Seite die Hinwendung der Klimabewegung zur „Arbeiterbewegung, auf der anderen Seite die Aufnahme ökologischer Anliegen in gewerkschaftliche Kämpfe und eine Orientierung seitens der Gewerkschaften […] als Partnerin zur Durchsetzung gemeinsamer Anliegen“ beinhaltet (Heinisch 2025, 324).

[4] Es handelt sich um die queere Vertrauensfrau, die schon im Rahmen meiner Abschiedsvorlesung indirekt zu Wort kam. Das Video findet sich unter:  https://www.youtube.com/watch?v=psLKojTdYa4.

[5] Siehe Klaus Dörre u.a. (Hg.), 2025: Sozialismus von unten, Hamburg (im Erscheinen). Darin vor allem die Beiträge zur KPÖ plus von Marlen Borchard, Aaron Kuch und Julius Halm sowie das Interview mit Sarah-Lee Heinrich und Marlen Borchard. 

[6] So die Klima-Aktivisten Annika Rittmann (Fridays for Future) auf dem Eröffnungs-Podium der 4. Hamburger Aktionskonferenz. Extra-NEWSLETTER – Bericht AktiKo.vier April 2025.

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