Ja, die LINKE braucht es, als Partei, in Parlamenten, als organisierender Akteur in der Zivilgesellschaft und als lebendiger Ort des Zusammentreffens und der Solidarität. Es braucht sie als einzige linke Opposition jenseits der Ampel. Es braucht sie als Partei, die praktisch und konkret für sozial-ökologische Verbesserung im hier und jetzt arbeitet – für Verbesserungen, die so angelegt sind, dass sie eine – sozialistische – Alternative zu Kapitalismus, Klimakrise und Krieg offenhalten. Aber diese Rollen kann sie nur ausfüllen, wenn sie ihre inneren Probleme löst. Der Parteitag in Erfurt hat dafür einige Schritte eingeleitet. Es wurden wichtige politische Weichen bei Sozialökologie, Außenpolitik und dem Umgang mit sexueller Belästigung gestellt und es wurde ein neues Führungsteams gewählt. Dennoch steht ein beschwerlicher Weg bevor. Der Aufstieg auf einen Gipfel kann mühsam sein, er kann aber auch frohgemut angegangen werden, etwa wenn ein Rückfall in die zersetzende Streitkultur vermieden wird, oder wenn jenen, die die neu gewählte Partei(führung) gleich wieder schlecht reden, statt den politischen Gegner zu fokussieren, zumindest weniger Beachtung geschenkt wird. 

Drei in eins – konkurrierende Parteiprojekte

Nach dem Parteitag ist gewissermaßen vor dem Parteitag. Die Führungsgremien wurden in demokratischen Wahlen neu bestimmt aber Teile der Partei fühlen sich unterrepräsentiert. Tatsächlich existieren in der LINKEN mindestens drei mehr oder weniger stark konturierte Teilprojekte, sozusagen drei Parteien innerhalb der Partei. Jedes Projekt für sich genommen ist zu schwach, verfügt nicht über die Kraft und Ausstrahlungsfähigkeit, um bundesweit mehr als 5 Prozent zu erreichen, was aber in der Regel unzureichend reflektiert wird.[1] Jedes der drei Teilprojekte trägt in sich wiederum zwei oder drei Strömungen. Es handelt sich grob um folgende Lager: 

a) ein linkssozialdemokratisches Projekt (v.a. im Westen), mit einem auf die soziale Frage fokussierten linkspopulistische Flügel sowie eine pragmatische linksgewerkschaftliche Strömung um die alte WASG. Letztere stellt ein wichtiges Bindeglied zu einem Teil der älteren Generationen im Westen dar, die rein quantitativ von Bedeutung sind; 

b) die Bewegungslinke, als attraktiver Bezugspunkt für den jüngeren und aktivistischeren Teil der Partei, der einen großen Teil der Parteineueintritte anzieht. Sie hat einen radikal-oppositionellen sowie einen pragmatisch linksradikalen Flügel, der sich neben verbindender Klassenpolitik auch für ein rebellisches Regieren einsetzt; 

c) das sogenannte Reformerlager (v.a. im Osten), mit drei Flügeln, einem sozial-konservativen Flügel (v.a. in der Fraktion), einem offen sozialliberalen Flügel sowie eine pragmatische Regierungslinke. 

Sie alle haben etwas in eine neu ausgerichtete LINKE einzubringen, stehen bisher aber zu unverbunden neben- und teilweise gegeneinander. In allen drei Teilprojekten lässt sich aber ein pragmatischer Flügel identifizieren. Dieser könnten für den Prozess der Stabilisierung und Neuaufstellung der Partei in einer Art neuen „Konfliktpartnerschaft“ (Thomas Goes) einen wesentlichen Beitrag liefern. Das bedeutet allerdings auch, alte teilweise blockierende Bündniskonstellationen zu überwinden. Es gibt Anzeichen, dass sich das Zweckbündnis zwischen dem linkspopulistischen Flügel um Sarah Wagenknecht und dem sozial-konservativen Teil der Reformer um Dietmar Bartsch lockert. 

Neu aufstellen bedeutet, ein strategisches Zentrum von Partei- und Fraktionsführung aufzubauen, das verbindlich für einen Umgang mit den genannten Widersprüchen steht, und einen Korridor definiert, in dem unterschiedliche Positionen ausgetauscht und Konflikte ausgetragen werden können. Was wir brauchen ist weder stramme Parteidisziplin ohne Debatte noch eine Kakophonie dissonanter Positionen. Nach der Neuaufstellung der Partei sollte deshalb auch die Neuaufstellung der Funktionsträger*innen in der Fraktion erfolgen, damit es nicht einfach so weitergeht wie bisher. Mit dem neuen Bundesgeschäftsführer Tobias Bank ist eine Brücke zwischen Fraktions- und Parteiführung wieder denkbarer geworden. Wenn es nicht gelingt, die drei unterschiedlichen Teile der Partei um ein neues strategisches Zentrum zu organisieren, hat die LINKE keine Zukunft mehr.

Gesellschaftliche Konfliktlinien – quer durch die LINKE 

Was sich als Strömungskämpfe in der LINKEN niederschlägt, sind Konfliktlinien in der Gesellschaft – und diese sind vielfältig: Neben der sozial-ökonomischen Linie Markt vs. Sozialstaat/Umverteilung, ist der sogenannte Kulturkampf virulent, in dem um die Frage gesellschaftlicher Modernisierung entlang einer progressiv-liberalen vs. konservativ-autoritären Linie gerungen wird. In der Partei hat sich diese Konfliktlinie zuletzt in der Debatte um #metoo und sexistische Grenzüberschreitungen niedergeschlagen. Doch ein gesellschaftlicher Konflikt sticht hervor: die Auseinandersetzung um ein ökologisches Modernisierungsprojekt vs. eine (teilweise aggressive) Verteidigung einer fossilistischen Produktions- und Lebensweise. Quer dazu drängt sich nun mit neuer Qualität und Brisanz die Auseinandersetzung um die zukünftige Ausrichtung der Außen- und Sicherheitspolitik hinein. Hier besteht der Konflikt zwischen einem Projekt der Aufrüstung und neuen globalen Blockkonfrontation mit Russland und China vs. einer neuen globalen, wie europäischen Sicherheitsarchitektur auf Basis einer postfossilen und gerechteren Weltwirtschaft. 

Die politischen Kräfte und die Parteien ordnen sich entlang dieser Linien neu, und sie ziehen sich dabei quer durch alle Parteien, auch durch die LINKE. Wenn sich solche Widersprüche mit Fragen innerparteilicher Macht und des Kampfes um Ämter und Positionen verwickeln, erklärt dies zum Teil, weshalb viele der Konflikte in den letzten Jahren mit solcher Heftigkeit ausgetragen wurden. Es geht um eine Neuordnung des Parteiensystems, sowohl zwischen den Parteien wie auch in ihrem Inneren. Besonders zugespitzt trifft es jene, bei denen der reale Wille zur Macht angesichts von Wahlergebnissen und Umfragen nicht mehr als Kitt zwischen den Strömungen und Flügeln wirkt. 

Wie tragen wir also gesellschaftliche Widersprüche, so aus, dass sie nicht einfach reproduziert oder einseitig aufzulösen versucht werden und damit spaltend wirken? Die Transformationen des Kapitalismus produzieren andauern neue Spaltungslinien auch in der Klasse der Lohnabhängigen. Die Aufgabe einer sozialistischen Partei wie der LINKEN ist es, diese so zu bearbeiten, dass immer wieder konkrete verbindende Projekte und gemeinsame Interessen erkennbar werden können, ohne die Differenzen zu negieren. Zu dieser Aufgabe ist sie derzeit kaum fähig. Die Fähigkeit dazu droht ihr angesichts der Gegenkräfte in und außerhalb der Partei verloren zu gehen. 

Die gute Nachricht: Programmatisch gibt es große Übereinstimmungen in der Partei: Es besteh mehrheitlich Einigung darin, einen klassenpolitischen Ansatz zu verfolgen, die soziale mit der ökologischen Frage zu verbinden, die Eigentumsfrage zu stellen, die LINKE als Teil von konkreten Reformpolitik-Koalitionen zu entwickeln (bei Landesregierung unstrittig, bei Beteiligung an Bundesregierung gibt es eine Differenz), die Orientierung auf sogenannte Mitte-unten-Bündnisse etc. Die Problematik besteht jenseits der Programmatik: Inhalte stehen eben nicht für sich, sondern sind im bürgerlichen Parlamentarismus stets auch mit dem Kampf um Machtpositionen verbunden, in dem kleine und große Differenzen (notwendig) betont werden. Zum Problem wird es, wenn mehr Kraft auf die Differenzen als auf die Produktion des Gemeinsamen gelegt wird. Dann schlägt die mediale Dynamik zu, die eben solche Differenzen zur mächtigen Gegensätzen werden lässt, in denen einzelne sich gegen die Partei profilieren und die Zentrifugalkräfte die Partei auseinandertreiben. Die damit einhergehende Kultur der permanenten Kritik, des Schlechtredens aus der Partei selbst heraus, wirkt wie eine selbsterfüllende Prophezeiung: Sympathisanten werden verunsichert und abgestoßen, Mitglieder demotiviert und frustriert. Dies arbeitet den Gegnern einer in den Parlamenten verankerten linken und sozialistischen Partei zu. Gegenwärtig gibt es einige, die den Moment gekommen sehen, die LINKE endgültig zu zerstören. Diese Dynamik muss die Partei begreifen und bewusst einen anderen Weg einschlagen. Sie sollte einen neuen inneren Konsens suchen, auch wenn er nicht alle mitnehmen kann.

Neben inhaltlichen Differenzen werden häufig auch kulturelle Unterschiede betont. So wird etwa aus der Tatsache, dass es Gewinner und Verlierer der Globalisierung gibt, gerne ein Kulturkampf zwischen „Kosmopoliten“ und „Kommunitaristen“ konstruiert. Damit werden aber aus vertikal angeordneten Kämpfen zwischen Kapital und Arbeit, horizontal angelegte Kulturkämpfe zwischen unterschiedlichen Teilen der Lohnabhängigen („urbane, akademische Mittelschichten“ vs. „Arbeiter und Abgehängte“). In wessen Interesse geschieht dies eigentlich? Im Interesse einer Arbeiterklasse, die in transnationale Produktionsketten eingebunden ist, die selbst viel migrantischer und weiblicher geworden ist, die immer weniger im industriellen Bereich, sondern vielmehr in Dienstleistungen und sozialen Infrastrukturen verortet ist? Von welcher Arbeiterklasse reden wir eigentlich? Bleibt dies ungeklärt oder in einfachen und schiefen Gegensätzen verhaftet, kommen wir zu falschen Kämpfen, die die Klassen der Subalternen spalten und schwächen, statt sie - ganz im Marxschen Sinne, effektiv zu verbinden im Kampf gegen das Kapital und für die Emanzipation aller: Klassen- und Anerkennungskämpfe gegen Unterdrückung und Herrschaft. Immerhin rechnen sich in der LINKEN als einziger Partei etwa ein Drittel der Mitglieder der „Unterschicht“ zu. Doch der Anteil der Arbeitslosen hat sich halbiert und der der Studierenden verdoppelt.[2] Die Gesprächsfäden sind dünn. Es fehlen Strukturen, um unterschiedliche Erfahrungswelten und Klassenlagen aktiv zu vermitteln. 

Doch auch kulturelle Differenzen sind wirksam: Diese sind in der LINKEN weniger stark von Differenzen innerhalb der Klasse als zwischen den Generationen geprägt. Dahinter steht, dass es der LINKEN in den letzten Jahren – mit Ausnahme einiger Regionen im Osten – sehr gut gelungen ist, ihr Überalterungsproblem zu lösen und besonders stark Mitglieder zu gewinnen, die jünger sind als 35 Jahre. Die Hälfte der gegenwärtigen Mitglieder ist in den letzten Jahren neu dazugekommen. Damit droht für die Partei ein „umgekehrtes Demographieproblem“ zu entstehen, weil im aktiven Parteileben vor allem jüngere Lebenswirklichkeiten vorkommen. Das entstandene Potential muss durch einen verstärkten Fokus auf politische Bildung (inhaltlich, strategisch, handwerklich) genutzt und zum neuen Rückgrat der Partei ausgebaut werden. Doch die unterschiedlichen generationellen Lebenswelten haben teilweise wenig Berührungspunkte im Alltag und werden von der Partei auch nicht systematisch bearbeitet. Eine Partei, die stark von einer sehr jungen Generation geprägt wird, was für ihre Zukunftsfähigkeit spricht, aber rein quantitativ besonders stark von einem älteren Elektorat gewählt wird, fehlt ohne Vermittlung die Überlebensfähigkeit. Auf dieser Basis, so eine These, kommt es zu einer auseinanderstrebenden Wähler*innenbasis der LINKEN. 

Hier braucht es eine produktive Form intergenerationelles Lernen, welches (ohne Besserwisserei) die Erfahrungen Älterer verbindet mit der Anerkennung neuer Welt- und Lebenssichten und einem Vertrauensvorschuss für die Jüngeren. Wieder gilt, statt Differenzen, lieber die Gemeinsamkeiten zu betonen und auf dem Weg Unterschiede nicht als Gegensätze erkennen zu lernen. Ein kurzes Beispiel, die Sprachpolitik: Einer jüngeren Generation ist es wichtig Geschlecht nicht mehr binär als ‚männlich’ oder ‚weiblich’ zu bergreifen, sondern die Existenz einer Vielzahl von Geschlechtern anzuerkennen. Im Alltag geht damit einher, dass die Frage, mit welchem Pronomen eine Person angesprochen werden möchte, geklärt werden muss. Das klingt für manche nach „Firlefanz“ ist aber für viele ein bedeutsamer Einspruch gegen die Gewaltförmigkeit von Geschlechterverhältnissen – und es kann viel einfacher sein, als mancher denkt. In einer konkreten Kooperation von ver.di und Fridays for Future in Vorbereitung der Tarifkampagne im Nahverkehr, antwortete eine Beschäftigte eines Nahverkehrsunternehmens auf die Frage „welches Pronomen“ sie habe, mit „mein Pronomen ist Busfahrerin“ – alle lachten und die Sache war geklärt. „Busfahrerin“ war für ihr Selbstverständnis wichtiger und allen anderen das gemeinsame Projekt, unter Respektierung unterschiedlicher kultureller Praxen und Sprechweisen. Das ist eine Anekdote, doch wenn die gemeinsame Sache klar ist, fallen auch die künstlich hochgezogenen Schranken vermeintlich unvermittelbarer kultureller Positionen. Also wie wird mit Widersprüchen, Gegensätzen und Differenzen umgegangen und die Produktion des Gemeinsamen nach vorne gestellt?

Korridore definieren

Dennoch wirken die kulturellen oder horizontalen Gegensätze gegenwärtig in einer Weise, dass die LINKE in vielen Kernfragen der politischen Konjunkturen ein gespaltenes Elektorat und damit Potenzial hat. Dies war in der Frage des Umgangs mit Geflüchteten so, schlägt sich in der Frage der Bedeutung von Feminismus und Antirassismus genauso nieder, wie in der Haltung zur Coronapolitik. Es spielt aktuell in der Außenpolitik eine zentrale Rolle, in der Frage des Stellenwerts der ökologischen Frage und immer wieder in der Haltung der LINKEN zur Europäischen Union. In all diesen Fragen wirken die oben genannten Dynamiken innerer Machtkämpfe, in denen Differenzen taktisch betont werden, zusammen mit der Wirkungsweise einer medialen Öffentlichkeit in einer Weise, die Unterschiede zu harten Gegensätzen werden lässt. Teils werden diese von einigen Akteuren (innerhalb wie außerhalb der Partei) gezielt gegen die Partei eingesetzt. 

Eine programmatische Erneuerung muss sich also vor allem auf eine konsequente Verbindung von sozialer und ökologischer Frage beziehen, auf ein friedens-, außen- und sicherheitspolitisches Update, das der neuen Lage Rechnung trägt, sowie auf den Kampf gegen alle Tendenzen autoritärer Transformation bzw. für eine Orientierung an Freiheit und Gleichheit für alle (inkl. eines klassenpolitischen Feminismus und Antirassismus). Erste Schritte dazu wurden auf dem Parteitag unternommen, das Problem aber keineswegs gelöst. Hier stellt sich folgende Entscheidungssituation: Entweder wir versuchen die vorhandenen (teilw. widerstreitenden) Teile und Strömungen der Partei zusammenzuhalten, auf Kosten einer Klärung der genannten Streitfragen, so dass die Partei im Effekt nach allen Seiten hin an Zustimmung verliert; oder wir entscheiden diese Fragen über neue Mehrheiten, mit der Gefahr, dass die Partei auseinanderbricht. Beide Alternativen würden sie voraussichtlich einem Ziel von „5 Prozent plus“ bei den Wahlen 2025 nicht näherbringen. Vielleicht gibt es einen dritten Weg entlang des oben skizzierten neuen strategischen Zentrums der Partei: eine Erneuerung in diesen Fragen, die zugleich für jedes strittige Feld Korridore markiert innerhalb derer Differenzen möglich sind.

Ein grobes Beispiel, um dies zu veranschaulichen: In Fragen der Friedens- und Außenpolitik könnte sich wohl eine große Mehrheit in der Partei hinter einer Linie versammeln, die gegen eine massive Aufrüstung (das 100 Mrd.-Programm bzw. 2-Prozent-Ziel), gegen Waffenlieferungen/-exporte aber für gezielte Sanktionen gegen die tragenden Kapitalgruppen des Putin-Regimes (zumal die derzeitigen Sanktionen das Regime kaum treffen, aber Energie- und Lebensmittelpreise stark verteuern) und zugleich gegen eine neue Blockkonfrontation mit Russland und insbesondere China, sowie für neue Anläufe in Richtung einer alternativen europäischen und globalen Sicherheitsarchitektur steht. Offen bleibt u.a., ob und wie angesichts der Verschiebungen in der Weltlage auf ein verändertes Sicherheitsbedürfnis in der Bevölkerung reagiert werden sollte, wie ein anderes Verhältnis zu einer strikt auf Verteidigung ausgerichteten Bundeswehr sowie evtl. einer ebenfalls strikt auf Verteidigung ausgerichteten Europäischen Armee gefunden werden kann. Jenseits dessen ist es legitim, aus ethischen Gründen über Waffenlieferungen an die Ukraine nachzudenken bzw. eine abweichende Position innerhalb der Partei zu markieren, sofern etwa Parteitags-Beschlüsse geachtet und vertreten werden. Außerhalb eines solchen Korridors wäre hingegen eine Affirmation der NATO und ihres konfrontativen Agierens in der Welt, ebenso wie eine positive Bezugnahme auf das Putin-Regime oder auf einen verkürzten Antiimperialismus mit Blick auf die USA, der gegenüber dem Imperialismus Russlands blind ist oder ihn relativiert. Diese Klarstellung ist beim Parteitag bereits gelungen. So könnten neue, den veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen entsprechende Positionen formuliert und Gemeinsamkeiten nach vorne gestellt werden, ohne Differenzen zu leugnen, aber eben auch ohne völlig gegensätzliche Positionen zu vertreten, die sich in der Öffentlichkeit wechselseitig konterkarieren. Es kann durchaus attraktiv wirken, wenn eine Partei solidarisch debattiert und nicht schon alle Antworten kennt, sondern angesichts komplizierter Krisen und Veränderungsprozesse in der Welt neue Wege gemeinsam auslotet.

Ein wesentlich einfacheres Beispiel wäre die Frage der sozial-ökologischen Transformation, wie eine repräsentative Befragung im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung zeigt.[3] Ähnliche Korridore wären in Fragen des Feminismus/Antisexismus, des Antirassismus oder in der Migrationsfrage zu finden. Es ging an dieser Stelle nur um die Herangehensweise, nicht um die konkreten Korridore, die in durchaus harten Auseinandersetzung von einem neuen strategischen Zentrum gemeinsam definiert werden müssen.

Solche Korridore würden ein „innerhalb“ und ein „außerhalb“ eines linken Diskurses in der Partei markieren – an den Grenzen dieses Korridors wird die Partei jeweils Mitglieder oder potenzielle Wähler*innen verlieren. Tatsächlich überlegen Teil der Partei aus dem linkspopulistischen Flügel bzw. der Strömung der „Sozialistischen Linken“, ob sie sich in einer außerparlamentarischen „populären Linken“ (eine Art #aufstehen2.0 womöglich?) neu organisieren oder gar eine neue Partei gründen sollten. Andere eher pragmatische Vertreter der gewerkschaftlich orientierten sozialdemokratischen Strömung (der alten WASG) neigen eher zu einer Integration um ein neues strategisches Zentrum, welches wieder ausgewogener und verbindender agiert, um die Existenz der LINKEN zu sichern. Die neue Führung sollte sich aktiv um die pragmatischen Teile bemühen, die auch stets an einer ernstgemeinten Debatte interessiert waren.[4] Es braucht mehr Räume für solche Debatten ohne Entscheidungsdruck, jenseits von Parteitagen und Gremien.

Solche Korridore, auch bei personellen Verlusten an den Rändern, öffnen zugleich Möglichkeiten, verloren gegangene oder neue Wählergruppen (wieder) zu gewinnen, um mehr zu werden.  Eine verbindende Politik bedeutet also nicht einfach, die bisherigen oder noch vorhandenen Teile zusammenzuhalten, sondern Möglichkeiten und Kanäle zu neuen Gruppen zu eröffnen, als Mitglieder und Wähler*innen, wie als Bündnispartner*innen in der Zivilgesellschaft. Am Ende stünde eine Profilierung als moderne sozialistische Gerechtigkeitspartei (Wissler, Hoff) oder – vielleicht zutreffender – als klassenorientierte sozialökologische Partei der Gleichheit und Freiheit mit sozialistischer Perspektive.  

Potenzial immer noch vorhanden

Denn die LINKE hat nach wie vor ein Potenzial von 18 Prozent, also fast einem Fünftel der Wahlberechtigten, wie eine repräsentative Befragung im Auftrag der RLS feststellt (ebd.). Das entspräche etwa 10,8 Mio. Wahlberechtigten, die sich vorstellen können, die LINKE zu wählen. Das Potenzial beschränkt sich keineswegs nur auf den urbanen Raum und Städte, sondern findet sich besonders auch in kleineren Orten von 5-20.000 Einwohnern. Ihr höchstes Potenzial hat die LINKE weiter bei Haushalten mit einem niedrigen Einkommen bis 1500€/monatlich (22 Prozent) bzw. bis 2500€ (24 Prozent). Maßnahmen gegen die Verringerung von Einkommens- und Vermögensungleichheit in Deutschland betrachten potenzielle Wähler*innen der LINKEN (quer durch alle Einkommens- und Altersklassen) auffällig häufig als eher wichtig oder sehr wichtig. Fast ebenso wichtig sind konkrete Maßnahmen zum Schutz des Klimas in Verbindung mit einem sozialen Ausgleich. Am stärksten werden solche sozial-ökologischen Forderungen von Geringverdiener*innen mit einem Haushaltseinkommen bis 1500€/Monat befürwortet und von Menschen, die in kleineren Siedlungsgrößen leben – hier sind es insbesondere der Ausbau des ÖPNV, bei entgeltfreiem ÖPNV und Tempolimit. Es ist also nicht so, dass die sozial-ökologische Transformation eine Frage der urbanen Mittelschichten mit guten Einkommen (Besserverdiener) wäre, sondern eine Klassenfrage, die von den Ärmsten auch als solche betrachtet wird. Maßnahmen die ökologische und soziale Frage verbinden, können also potenziell mehr leisten, um Wähler*innen zu binden.

Doch während die Geringverdiener*innen ein relativ starkes (22 bzw. 24 Prozent) Wählerpotenzial markieren, gehen eben jene besonders selten zur Wahl – wir beobachten eine „asymmetrische Wählermobilisierung“. Moderne Facharbeiter*innen, „systemrelevante“ Arbeitskräfte in den öffentlichen Dienstleistungen (soziale Infrastrukturen) und vor allem die gut-ausgebildeten, jung-urbanen sozial-ökologischen Milieus stellen ebenfalls ein starkes Wählerpotenzial für die LINKE dar, zeigen aber ein sehr stark taktisches Wahlverhalten (häufig unmittelbar mit Blick auf die konkrete Wahl, die konkrete Regierungskonstellation, die konkrete Person des potenziellen Regierungschefs) in Richtung SPD und vor allem Grüne. Auf diese Weise ist die Stammwähler*innenschaft der LINKEN, trotz des großen Potenzials, mittlerweile zu klein geworden, solange das Potenzial nicht stärker ausgenutzt wird. Das geht aber, wenn die bestehende Dissonanz zwischen den einzelnen, medienwirksamen Führungspersonen zugunsten gemeinsamer Forderungen und Führung aufgelöst wird.

Selbstorganisation & Repräsentation

DIE LINKE erreicht die aktiven Teile im linken gesellschaftlichen Feld. Dort ist sie durch organisierende Ansätze und aufsuchende Arbeit sehr viel besser geworden, sie ist recht gut in den Bewegungen verankert. Dies übersetzt sich jedoch nicht automatisch in bessere Wahlergebnisse – selbst innerhalb der aktiven Teile, siehe etwa die gute Verankerung der LINKEN in der Mieten- und Krankenhausbewegung. Die passiven Teile der potenziell für die Wahl der LINKEN offenen Wähler*innengruppen erreichen wir hingegen schlecht, was nicht an unseren Inhalten liegt, sondern an der medialen Aufstellung und der schwindenden Verankerungen in vielen Orten, vor allem im Osten, bei Industriearbeiter*innen und in der Fläche. Es liegt außerdem an Überalterung einerseits, und einer ganz neuen Parteizusammensetzung durch die vielen Jungen und einer fehlende Vermittlung zwischen den Generationen andererseits. Vor allem aber erreicht die Partei die unteren Teile der Klasse nicht gut, in benachteiligten Vierteln und bei prekären Klassensegmenten, jene, die uns schon wählen würden, aber eben auch den größten Teil der Nicht-Wähler*innen ausmachen. 

An dieser Stelle treffen wir auf ein doppeltes Missverständnis: einerseits die Vorstellung der 

LINKEN als Bewegungspartei (von manchen emphatisch gefordert von anderen kritisiert) und andererseits als reine, professionalisierte Parlaments- und Medienpartei. Es ist geradezu eine Banalität, dass eine erfolgreiche linke Partei beides sein muss. Die Frage ist, wie sich die unterschiedlichen Funktionen und Logiken produktiv verbinden lassen. In der praktischen Realität dieser Partei konterkarieren sie sich derzeit. So hat die LINKE mehrheitsfähige Themen, mit denen sie identifiziert wird. In Umfragen stehen sogar Mehrheiten in der Bevölkerung hinter bestimmten Positionen, v.a. in der sozialen Frage. Aber es handelt sich nicht um aktive Mehrheiten, sondern um passive, die sich eben nicht in Wählerstimmen übersetzen. Vor allem aber sind die guten Themen relativ unverbunden mit Personen, die wirklich und erkennbar dafür stehen, organischen Intellektuellen, die diese repräsentieren und organisieren. Hier gilt es neue Gesichter aufzubauen. Die Spitze muss glaubwürdig für die Positionen der Partei stehen, nicht nur die Parteispitze, sondern alle in den Medien bekannten Gesichter und jene, die es werden wollen.

Dazu kommt: die LINKE ist gut erkennbar in einigen Einzelthemen, oder war es zumindest. Für bestimmte Themen steht die LINKE durchaus immer noch, aber jenseits der Themen, was bindet sie zusammen? Was ist das sozialistische Band zwischen den Einzelteilen? Nicht im Sinne einer Überhöhung, sondern als orientierende Perspektive, die sich durch alle Themen zieht, die die Partei von anderen erkennbar unterscheidet, als sozial-ökologische moderne sozialistische Gerechtigkeitspartei. Es braucht eine Kohärenz von Köpfen, Programmen & Praxis.

Noch wichtiger sind für eine Sichtbarkeit und Repräsentation ein klarer Gegnerbezug und produktive Konflikte – hier ist die Niederlage beim Mietendeckel (und möglicherweise bei der Enteignung) kaum zu unterschätzen: selbst wenn die Linken an „der Macht“ das Richtige durchsetzen will, darf sie das gar nicht… Nun sind der Mietendeckel oder die Kampagne zur Enteignung von Deutsche Wohnen & Co als ausstrahlungsfähige Projekte gar nicht von der LINKEN geplant sondern sinnvollerweise aktiv aufgegriffen worden. Wo aber werden vergleichbare Projekte angedacht und geplant? Regieren als Management von Krisen ist auch ein durchaus funktionierender Modus (Ramelow gegen die faschistische Bedrohung; Bremen im Management der Pandemie; Berlin in der Bewältigung der Ankunft zehntausender Geflüchteter zunächst aus Syrien und anderer vom Krieg zerstörter Länder und aktuell aus der Ukraine). Aber solche Krisen sind nicht plan- und noch weniger wünschbar. „Gutes Regieren“ allein reicht also nicht ohne Symbole, für die die LINKE steht und die das Leben der Vielen unmittelbar verbessern. Das gilt übrigens nicht nur fürs linke Regieren, auch für die Opposition braucht es solche wegweisenden Projekte und produktive Konflikte, die deutlich machen, wofür die LINKE steht, etwa im Unterschied zur Ampel und ihrer gesellschaftlichen und ökologischen Modernisierung mit sozialer Abfederung. 

Dafür müsste die Partei in die Betriebe, in die Viertel, die aufsuchende Arbeit weiterentwickeln, vor Ort, denn als reines Medien- und Parlamentsphänomen verödet die Partei und hat eben keine Verankerung, während sie als reine Bewegungspartei nur die Aktiven erreicht. Also die Menschen aufsuchen, in ihrem Alltag und bei der Arbeit. Und dann müsste sie laut, noch lauter darüber reden, mit expliziter und systematischer Medienarbeit. Diese Verbindung von konzeptioneller Arbeit, organisierender bewegungs-orientierter und aufsuchender Arbeit und eben der Arbeit an der Repräsentation über Medien und Köpfe ist noch unterentwickelt.

Und dies ist dringend: Die LINKE wird in den kommenden Wahlkämpfen bis 2025 noch stärker marginalisiert werden als bisher. Schon in Schleswig-Holstein ist sie bei Umfragen gar nicht mehr gesondert ausgewiesen worden. Sie wird in der Öffentlichkeit noch weiter an Sichtbarkeit verlieren. In Debatten um mögliche Regierungskoalitionen wird sie nur in Ausnahmefällen eine Rolle spielen, sicher nicht auf Bundesebene. Umso wichtiger wird es sein, ihre Funktion auch als Opposition auszuarbeiten und attraktiv zu machen, Eigenständigkeit - und zugleich gute Beispiele rebellischen Regierens auf Landesebene oder in Kommunen herauszustellen. 

Es ist also durchaus ein stabiles Potenzial vorhanden, immer noch - für eine mit konkreten Konzepten und Kampagnen, sozial-ökologisch ausgerichtete linke Partei der Zukunft mit sozialistischer Perspektive. Die Ausschöpfung dieses Potenzials gelingt bisher nicht. Zuvor müssten Wege gefunden werden, die internen Probleme zu lösen und harten internen Auseinandersetzungen in der Partei zu befrieden, um wieder eine gemeinsame Ausstrahlungsfähigkeit und Glaubwürdigkeit zurück zu gewinnen. Der Parteitag in Erfurt hat dafür eine gute Grundlage gelegt. Das neue Führungsteam braucht dabei die Unterstützung der Vielen in der Partei – so wie die Vielen die Unterstützung der Spitze benötigen, indem aus Dissonanz wieder (im gramscianischen Sinne) Führung erwächst.