Auch in empirischer Hinsicht spricht wenig für die Quantitätstheorie und die auf ihr basierende Erklärung der Inflation. In dem ganzen Zyklus zwischen der globalen Finanzkrise von 2008-2009 und der Coronakrise ist die Geldmenge in den USA und in der Eurozone zum Beispiel sehr stark angewachsen, aber die Inflationsraten verharrten auf äußerst niedrigem Niveau. Der Europäischen Zentralbank (EZB) gelang es trotz lockerer Geldpolitik nicht, ihre Zielinflationsrate von zwei Prozent zu erreichen – die Inflationsrate lag in der Eurozone beständig darunter. Ein großer Teil der wachsenden Geldmenge floss nicht in die Produktion, sondern verblieb innerhalb des Finanzsektors beziehungsweise wurde für den Kauf existierender Wertpapiere und Immobilien verwendet und trieb deren Preise in die Höhe. Auch in den letzten beiden Jahren verhielten sich das Geldmengenwachstum und die Inflation eher gegenläufig. Das Geldmengenwachstum beschleunigte sich im Jahr 2020 während der ersten Phase der Pandemie. Die Staaten versuchten, mit antizyklischen Konjunkturprogrammen der Rezession entgegenzuwirken, und die Geldpolitik wurde erneut gelockert, während Unternehmen und Konsumenten aufgrund der Lockdowns ihre Ausgaben einschränken mussten und aus Vorsicht eher sparten, also finanzielle Puffer anlegten. In den Jahren 2021 und 2022 ging die Wachstumsrate der Geldmenge zurück, dennoch stieg die Inflationsrate gerade in diesen beiden Jahren an.
Auch die Annahme, die Zentralbank könne die Geldmenge steuern, ist problematisch. Natürlich kann die Zentralbank bei einer drohenden Deflation versuchen, durch Zinssenkungen oder durch den Ankauf von Staatsanleihen die Geldmenge zu erhöhen, um so Investitionen zu erleichtern. Umgekehrt kann sie bei steigenden Inflationsraten die Leitzinsen erhöhen oder Wertpapiere verkaufen und so versuchen, die Geldmenge zu reduzieren. Das Problem ist aber, dass die Zentralbank damit immer nur indirekt die Kreditschöpfung der Geschäftsbanken beeinflussen kann. Deren Kreditvergabe unterliegt dem Motiv der Profitmaximierung, ihre Kalküle werden auch noch von anderen Faktoren als der Zentralbankpolitik bestimmt. Der größte Teil des Geldes im Wirtschaftskreislauf ist nicht Zentralbankgeld, sondern von den privaten Geschäftsbanken geschaffenes Kreditgeld. Die Wirkungsweise der Zentralbankinterventionen ist asymmetrisch: Im Allgemeinen ist es leichter, durch Zinserhöhungen die Konjunktur abzuwürgen, als umgekehrt in einem durch niedrige Profitraten und deflationäre Tendenzen geprägten Umfeld durch Zinssenkungen die Banken zu einer stärkeren Kreditvergabe an die Unternehmen zu animieren und damit eine Ausweitung der Produktion anzustoßen. Die Erhöhung der Leitzinsen ist die Standardmethode der Zentralbanken, um hohen Inflationsraten entgegenzuwirken. Dabei werden allerdings unter Umständen eine Rezession und steigende Arbeitslosigkeit in Kauf genommen.
Ist die Inflation durch zu hohe Lohnsteigerungen verursacht?
Eine weitere verbreitete Inflationstheorie ist die Theorie der Lohn-Preis-Spirale, die auch von Keynesianern vertreten wird. Demnach soll ein übermäßiger Anstieg der Löhne Inflation verursachen. Steigende Löhne würden höhere Produktionskosten bedeuten, und diese würden von den Unternehmen auf die Preise übergewälzt. Daraus folgt wirtschaftspolitisch die Forderung, das Lohnwachstum einzudämmen, wenn es das Wachstum der Arbeitsproduktivität übersteigt. Es ist naheliegend, dass die Theorie der Lohn-Preis-Spirale den Kapitalinteressen entspricht. In theoretischer Hinsicht stellt sich allerdings die Frage, ob die Unternehmen wirklich in der Lage sind, unter den Bedingungen der Konkurrenz steigende Lohnkosten auf die Preise überzuwälzen oder ob nicht vielmehr sinkende Profitraten die Folge steigender Löhne sind. Des Weiteren stellt sich die Frage, ob Unternehmen nicht dadurch auf steigende Löhne reagieren, dass sie Arbeitskräfte durch Maschinen ersetzen und so wieder die von ihnen zu zahlende Lohnsumme reduzieren. Rationalisierungsinvestitionen könnten zu steigender Arbeitslosigkeit führen, die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften schwächen und so den Lohnanstieg begrenzen. Die Frage ist also, ob es überhaupt zu einer Lohn-Preis-Spirale kommt. In jedem Fall könnten nur Lohnsteigerungen, die über das Produktivitätswachstum hinausgehen, zu steigenden Inflationsraten führen. Ob sie eher zu sinkenden Profitraten oder zu steigender Inflation führen, dürfte von den Konkurrenzbedingungen abhängen. Außerdem stellt sich auch hier die Frage der Kausalität: Hohe nominale Lohnsteigerungen könnten eher eine Folge hoher Inflationsraten sein als deren Ursache. Im Übrigen ergeben sich Kostensteigerungen bei den Unternehmen nicht nur durch steigende Löhne, sondern auch durch steigende Kosten für Produktionsmittel. Dieser Gesichtspunkt dürfte auch der für die gegenwärtigen Preissteigerungen relevantere sein, wenn wir etwa an die steigenden Preise insbesondere von fossilen Energieträgern denken.
Betrachten wir einmal die tatsächliche Lohnentwicklung in Deutschland. Hier stieg die nominale Lohnsumme zwischen 2013 und 2019 im Durchschnitt jährlich um 4,25 Prozent. Der «harmonisierte Verbraucherpreisindex», das gängigste Maß für die Inflationsrate, stieg in diesem Zeitraum im Durchschnitt nur um 1,15 Prozent pro Jahr. Die Reallöhne, die sich aus der Differenz zwischen Nominallöhnen und Inflationsrate ergeben, stiegen demnach also in dieser Periode um mehr als drei Prozent pro Jahr. Die Inflation blieb trotz des deutlichen nominalen Lohnanstiegs niedrig. In der Coronakrise 2020 verminderte sich die nominale Lohnsumme um 0,24 Prozent. Der Verbraucherpreisindex stieg um 0,4 Prozent. Die Lohnabhängigen erlitten also einen Reallohnverlust von 0,64 Prozent. Im Jahr 2021 stieg die nominale Lohnsumme gegenüber der geschrumpften Ausgangsbasis des Vorjahres um 3,5 Prozent; die nominale Lohnsteigerung lag damit noch deutlich unter den Lohnsteigerungen der Jahr 2013-2019. Ihr stand nun allerdings ein Anstieg des Verbraucherpreisindexes um 3,2 Prozent gegenüber. Real gewannen die Lohnabhängigen also nur 0,3 Prozent an Kaufkraft. Im Jahr 2022 wuchsen die Nominallöhne um 5,5 Prozent, der Verbraucherpreisindex stieg jedoch um 8,7 Prozent. Die Lohnabhängigen erlitten im Durchschnitt also einen Reallohnverlust von 3,2 Prozent. Das Beispiel zeigt, dass es keine klare Korrelation von Lohnsteigerungen und Inflation, keine «Lohn-Preis-Spirale» gibt. Vielmehr sind in bestimmten Phasen der kapitalistischen Entwicklung Reallohnsteigerungen möglich, während die Inflation gering bleibt. In der gegenwärtigen Phase beschleunigter Inflation dagegen konnten die nominalen Lohnsteigerungen den Preisanstieg nicht kompensieren – die Lohnabhängigen verloren erheblich an Kaufkraft.