Warum schadet die Marktunterwerfung den Krankenschwestern?
Einfach gesagt: weil sie das schwächste Glied in dieser Kette bilden. Auf der Suche nach Sparmöglichkeiten bemühen sich öffentliche wie auch private Einrichtungen, möglichst viele Aufgabenbereiche auszulagern. Das betrifft in erster Linie das Catering, die Reinigungskräfte, die Wäscherei, immer häufiger auch diagnostische Untersuchungen und letztlich auch die Arbeit des Pflegepersonals. Für die Krankenschwestern und Hebammen bedeutet die Ökonomisierung des Gesundheitswesens Entlassungen, Vergrößerung ihrer Aufgabenbereiche, Lohnkürzungen, zusätzliche Arbeit auf Honorarbasis oder gar die zwangsweise Überführung ihres Angestelltenverhältnisses in einen Subunternehmerstatus.
Schon die Reform aus dem Jahr 1999 brachte ein Absinken der Beschäftigtenzahlen mit sich – in vielen Krankenhäusern verlor etwa ein Drittel des Personals seinen Arbeitsplatz (Kubisa 2013), denn Entlassungen sind das einfachste Mittel, um Kosten zu reduzieren. Die Entlassungswellen führten zu Problemen mit der Dienstabdeckung. Da weder Arbeitszeit noch Pensum der angestellten Krankenschwestern aufgrund der Arbeitsrichtlinien unendlich ausweitbar sind, beschäftigen die Leiter der Einrichtungen sie entweder zusätzlich auf Stundenbasis per Werkvertrag oder zwingen sie, selbständige SubunternehmerInnen zu werden (so genannte Kontrakte zu unterschreiben).
Selbstverständlich sind beide Beschäftigungsformen völlig unreguliert und unterliegen nicht dem geltenden Arbeitsrecht. Die Frauen erhalten keine bezahlten Überstunden und haben weder eine Beschäftigungsgarantie noch ein Recht auf Urlaub oder eine Kündigungsfrist. Laut OZZPiP kommt es vor, dass Krankenschwestern 200 bis 300 Stunden im Monat arbeiten, was ihre Gesundheit und die Sicherheit der Patienten massiv bedroht. Außerdem zahlen die Krankenschwestern, wenn sie in eine selbständige Tätigkeit gedrängt werden, niedrigere Beiträge zur Sozialversicherung, was wiederum Auswirkungen auf die Höhe ihrer Rentenansprüche hat.
Die OZZPiP fordert keinesfalls, jegliche Form selbständiger Tätigkeit von medizinischem Personal grundsätzlich zu verbieten. Im Gegenteil, sie argumentiert selbst, dass dies sowohl für die Beschäftigten als auch die Patienten und die Gesundheitspolitik sinnvoll sein kann: etwa im Fall von Hebammen in der häuslichen Geburtsnachsorge. Diese Variante ist jedoch weit entfernt von der absurden Vision, die Dienstleistungen in einem Krankenhaus ließen sich von einigen hundert Selbständigen übernehmen.
Wer fürchtet sich vor weißen Häubchen?
Die Demonstrationen und Streiks im polnischen Gesundheitswesen, bei denen es vor allem um Arbeitsbedingungen und Löhne ging, begannen im Jahr 2000. Krankenschwestern gehörten zu den Gruppen, die am lautesten und häufigsten protestierten. Ihre Einkommen lagen seit 1989 unter dem polnischen Durchschnittsniveau und entfernten sich immer weiter von den Einkommen der Ärzte.
Die bekannteste Aktion, die vom OZZPiP bisher organisiert wurde, war das Warschauer Zeltdorf vor dem Präsidentensitz. Der Protest begann am 19. Juni 2007 vor der Kanzlei von Ministerpräsident Kaczyński. Die MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens forderten Lohnerhöhungen und die Anhebung öffentlicher Zuschüsse für das Gesundheitswesen. Als Kaczyński ein Treffen mit den Protestierenden absagte, besetzten vier OZZPiP-Aktivistinnen seine Kanzlei und begannen einen Hungerstreik. Währenddessen entstand gegenüber dem Amtssitz ein großes Zeltlager, das »Weißes Städtchen« genannt wurde und eine starke öffentliche Unterstützung erfuhr. Die Warschauer brachten den Krankenschwestern Essen und Artikel des täglichen Bedarfs, boten an, Wäsche zu waschen, und stellten Übernachtungsmöglichkeiten zur Verfügung. Das Protestcamp wurde von PolitikerInnen der Oppositionsparteien, SchauspielerInnen, Polit-AktivistInnen und KünstlerInnen besucht. Es fanden Konzerte und Vorträge statt, und es gab sogar eine Streikzeitung: den »Kurier des Weißen Städtchens«. Am 15. Juli 2007 wurde das Camp aufgelöst, ohne dass es zu einem Einvernehmen mit der Regierung gekommen war. Die Bedeutung des Protestes blieb jedoch nachhaltig – wahrscheinlich war es das erste Mal gelungen, die öffentliche Meinung in Polen davon zu überzeugen, dass Gewerkschaften auch in einer Demokratie eine positive Rolle spielen können.
Der Druck zur Privatisierung des Gesundheitswesens führte dazu, dass die ›Kontrakte‹ zur neuen Hauptkonfliktlinie zwischen Regierung und Krankenschwestern wurden. Am 17. März 2011 besetzten Aktivistinnen des OZZPiP die Zuschauertribünen im Sejm (dem polnischen Parlament), wo gerade Gesetzentwürfe für das Gesundheitswesen beraten wurden. Sie forderten, eine ganztägige Patientenbetreuung in Krankenhäusern nur mit regulären Arbeitsverträgen zuzulassen. Die Regierung argumentierte, dass auch schon ÄrztInnen auf Vertragsbasis in Krankenhäusern arbeiten und ein Verbot dieser Beschäftigungsform der Verfassung widerspräche. Unerwartet bekam die Regierung Rückendeckung durch eine bis dahin unbekannte »Vereinigung der Krankenschwestern und Hebammen« mit etwa 700 Mitgliedern. Deren Vertreterinnen erschienen im Sejm und erklärten, dass sie mit den Verträgen zufrieden seien und OZZPiP ihr »Recht auf freie Wahl der Beschäftigungsform« einschränken wolle. Die Medien griffen dies sofort auf und spielten den Gegensatz zwischen den ›fordernden‹ angestellten Krankenschwestern und den ›glücklichen‹ Vertragskrankenschwestern aus. Zeitgleich wurden viele der düsteren Voraussagen der OZZPiP traurige Wirklichkeit: Etliche Mitarbeiter der umstrukturierten Krankenhäuser wurden gezwungen, ihre Arbeitsverträge aufzugeben, und die Arbeitszeitgesetze wurden regelmäßig übertreten.
Vage Hoffnung?
Am 23. Oktober 2012 kündigte Gesundheitsminister Bartosz Arłukowicz weitere Reformen im polnischen Gesundheitswesen an: Die Zentrale des NFZ soll aufgelöst und die regionalen Abteilungen mehr Autonomie erhalten, um die Gesundheitspolitik stärker an die lokalen Bedürfnisse anpassen zu können. Damit droht ein regionales Auseinanderdriften von Behandlungsqualität und Zugang zu Leistungen. Arłukowicz kündigte allerdings ebenfalls an, dass in der onkologischen Betreuung öffentliche Gelder vorrangig an Einrichtungen fließen sollen, die komplexe Behandlungen durchführen. Das könnte die Zeit des Wohlstandes für die kleinen privaten Krankenhäuser beenden. Die am stärksten verschuldeten hochspezialisierten Kliniken und Institute sollen strategische Verbünde bilden und damit unter marktabgeschwächten Bedingungen agieren können, die sie vor Insolvenzen schützen.
Es ist hingegen nicht abzusehen, dass die negativen Konsequenzen der Ökonomisierung für die verbliebenen Einrichtungen, ihre MitarbeiterInnen und PatientInnen in Angriff genommen werden. In dieser Situation sind die Proteste der Krankenschwestern und Hebammen um so wichtiger. Sie fokussieren entsprechend weniger auf Lohnforderungen, sondern warnen allgemein vor den Konsequenzen einer vollständigen Ökonomisierung des Gesundheitssystems. Wirklich vernehmbar würde ihre Stimme jedoch erst dann, wenn sie nicht nur von anderen MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens – wichtig wäre hier vor allem die Solidarität der ÄrztInnen – unterstützt würden, sondern vor allem von der polnischen Gesellschaft. Von den Leuten, die Patienten waren, sind oder in Zukunft sein werden. Deshalb ist das Bewusstsein nötig, dass es in diesem Kampf keinesfalls nur um Arbeitsplätze oder Gehälter einzelner Berufsgruppen geht, sondern um den Erhalt eines allgemein zugänglichen Gesundheitswesens.
Aus dem Polnischen von Andrea Rudorff.