Am 5. Oktober 2012 hatte die polnische Gewerkschaft der Krankenschwestern und Hebammen OZZPiP zu einer Demonstration aufgerufen1. Einige tausend Beschäftigte des Gesundheitssektors waren für den Erhalt eines öffentlichen Gesundheitswesens durch Warschau gezogen. Obwohl Ministerpräsident Tusk und Gesundheitsminister Arłukowicz am Vortag noch ihren Willen zur Zusammenarbeit beteuert hatten, wurde eine Delegation der Krankenschwestern »auf der Schwelle« des Premierministers abgefangen, wie die OZZPiP-Vorsitzende Iwona Borchulska es formulierte. Eine Petition konnte zwar abgegeben werden, Gespräche gab es jedoch nicht. Dabei machten die OrganisatorInnen auf wichtige strukturelle Probleme aufmerksam: Die öffentlichen Krankenhäuser sollen per Gesetz in gewinnorientiert arbeitende Unternehmen umgewandelt werden. Der Staat würde so aus seiner Verantwortung für das Gesundheitswesen entlassen. Müssen Gesundheitseinrichtungen auf eigene Rechnung wirtschaften und Gewinne erzielen, suchen sie zwangsläufig nach Sparmöglichkeiten, die meist beim Personal ansetzen und sich auf die Qualität der medizinischen Leistungen und das Wohl der PatientInnen auswirken.

Wie man das System vom Kopf auf die Füße gestellt hat und warum nichts Gutes dabei herauskam

Im Rahmen einer großen Gesundheitsreform wurde 1999 eine allgemeine Krankenversicherung auf Grundlage eines Arbeitnehmerbeitrages eingeführt. Sie ersetzte die bisherige Finanzierung des Gesundheitswesens aus dem Staatshaushalt. Dies war zwar nicht die erste Reform des Sektors – bereits 1991 waren die medizinischen Einrichtungen den Kommunen unterstellt worden. Aber nun erwartete man eine Revolution: mehr Ausgabentransparenz, eine bessere Bedarfsangepasstheit und eine effizientere Verwaltung. Es entstanden regionale Krankenkassen, die die Beiträge der Versicherten verwalten und dafür sorgen sollten, dass »das Geld dem Patienten folgt« (Golinowska et al. 2012, 25). Später wurden sie durch einen zentralen Nationalen Gesundheitsfonds (NFZ) ersetzt.

Das damals geschaffene System versagte trotz punktueller Anpassungen jedoch auf allen Ebenen: von der Beitragserhebung über die Verteilung der Gelder auf die Gesundheitseinrichtungen bis hin zu den Leistungsansprüchen der PatientInnen und Versicherten. Die staatlichen Zuschüsse für das Gesundheitswesen sind viel zu niedrig angesetzt, und die von Politikern angekündigten sukzessiven Erhöhungen lassen auf sich warten2. Die Verteilung der Mittel auf die einzelnen Regionen berücksichtigt weder die epidemiologische Situation noch den tatsächlichen Bedarf; die Zuwendungen und die Ausstattung einzelner Einrichtungen mit modernen Geräten verlaufen unkoordiniert. Die Vergütung medizinischer Dienstleistungen durch den NFZ führt außerdem dazu, dass PatientInnen zu immer aufwändigeren Diagnosen und Behandlungen gedrängt werden, was gleichzeitig zur Verschuldung der Krankenhäuser beiträgt. Doch in der öffentlichen Debatte dominieren simple Erklärungen für den schlechten Zustand des Gesundheitswesens und ähnlich banale Rettungsvorschläge. So machen Politiker verschiedener Lager seit Jahren eine schlechte Verwaltung der Krankenhäuser verantwortlich, obwohl nur schwer nachzuvollziehen ist, warum ausgerechnet im Gesundheitswesen unfähige Direktoren überrepräsentiert sein sollen. Häufig werden die langen Wartezeiten thematisiert, ohne dass über das tatsächliche Ausmaß und die Gründe für den eingeschränkten Zugang zu medizinischen Leistungen gesprochen wird. Als Allheilmittel gilt nun das geplante zentrale Online-Register der Versicherten, durch das die Berechtigung der Patienten zur Behandlung überprüfbar werden soll. 98 Prozent der Polen sind jedoch krankenversichert. Dennoch heißt es, man habe das System, aus dem bisher unkontrolliert Mittel abflossen, nun wirksam »abgedichtet«.

Reform = Marktanpassung

Nach 1999 wurden in Polen schrittweise Marktanpassungen vorgenommen, die an erster Stelle die medizinische Versorgung betrafen. Im Jahr 2011 gehörten bereits 84 Prozent der ambulanten medizinischen Einrichtungen zum privaten Sektor. Bei den Krankenhäusern verlief der Umbau weniger dramatisch: Der Anteil öffentlicher Kliniken sank bis zum Jahr 2010 nur um 30 Prozent (vgl. Golinowska u.a. 2012). Diese Veränderungen wurden in der Regel durch lokale Behörden initiiert. Die Idee, den medizinischen Einrichtungen per Gesetz einen Unternehmensstatus aufzuerlegen, tauchte das erste Mal 2003 auf, wurde damals jedoch verworfen. Seit die Bürgerplattform (PO) an der Regierung ist, kam die Forderung wieder auf den Tisch.

Die PO stellt die Kommerzialisierung der Einrichtungen und ihre Überführung in Wettbewerbsbedingungen als universelles Mittel zur Lösung aller Probleme im polnischen Gesundheitswesen dar. Die »unwirtschaftlichen« und »unnötigen« medizinischen Einrichtungen würden so vom Markt verschwinden. Trotz zahlreicher kritischer Stimmen (es gab sogar ein Veto von Präsident Lech Kaczyński) setzte die PO 2011 ein neues Gesetz zum Gesundheitswesen durch. Es zwingt die Kommunen zur Privatisierung verschuldeter Krankenhäuser, unter der Drohung, dass sonst die Schulden auf die Kommunen übertragen würden. Gleichzeitig verbietet es, neue öffentliche Gesundheitsträger einzurichten, die nicht auf Grundlage des Unternehmensrechts agieren. Die ins polnische Gesundheitssystem eingeführten Marktmechanismen erfüllen bisher nicht die in sie gesetzten Hoffnungen, im Gegenteil: Sie verstärken eher die Missstände. Die Krankenhausunternehmen verschulden sich weiterhin und nichts schützt sie mehr vor Insolvenz und Liquidierung3. Die Konkurrenz um die begrenzten Mittel aus dem NFZ führt dazu, dass bewährte, auf komplexe Behandlungen ausgerichtete öffentliche Krankenhäuser gegenüber privaten Einrichtungen verlieren, weil sie einen geringeren Leistungsumfang mit niedrigeren Preisen anbieten können. Ohne Sinn und Verstand werden neue Einrichtungen aus dem Boden gestampft: Es reicht, wenn sie einen Mindeststandard an Personal und Ausstattung erfüllen. Diese privaten Einrichtungen suchen sich die am besten vergüteten Behandlungen aus. ›Schwierige‹ Patienten mit Komplikationen schieben sie an den öffentlichen Sektor ab, was wiederum dessen Verschuldung steigen lässt.

Warum schadet die Marktunterwerfung den Krankenschwestern?

Einfach gesagt: weil sie das schwächste Glied in dieser Kette bilden. Auf der Suche nach Sparmöglichkeiten bemühen sich öffentliche wie auch private Einrichtungen, möglichst viele Aufgabenbereiche auszulagern. Das betrifft in erster Linie das Catering, die Reinigungskräfte, die Wäscherei, immer häufiger auch diagnostische Untersuchungen und letztlich auch die Arbeit des Pflegepersonals. Für die Krankenschwestern und Hebammen bedeutet die Ökonomisierung des Gesundheitswesens Entlassungen, Vergrößerung ihrer Aufgabenbereiche, Lohnkürzungen, zusätzliche Arbeit auf Honorarbasis oder gar die zwangsweise Überführung ihres Angestelltenverhältnisses in einen Subunternehmerstatus.

Schon die Reform aus dem Jahr 1999 brachte ein Absinken der Beschäftigtenzahlen mit sich – in vielen Krankenhäusern verlor etwa ein Drittel des Personals seinen Arbeitsplatz (Kubisa 2013), denn Entlassungen sind das einfachste Mittel, um Kosten zu reduzieren. Die Entlassungswellen führten zu Problemen mit der Dienstabdeckung. Da weder Arbeitszeit noch Pensum der angestellten Krankenschwestern aufgrund der Arbeitsrichtlinien unendlich ausweitbar sind, beschäftigen die Leiter der Einrichtungen sie entweder zusätzlich auf Stundenbasis per Werkvertrag oder zwingen sie, selbständige SubunternehmerInnen zu werden (so genannte Kontrakte zu unterschreiben).

Selbstverständlich sind beide Beschäftigungsformen völlig unreguliert und unterliegen nicht dem geltenden Arbeitsrecht. Die Frauen erhalten keine bezahlten Überstunden und haben weder eine Beschäftigungsgarantie noch ein Recht auf Urlaub oder eine Kündigungsfrist. Laut OZZPiP kommt es vor, dass Krankenschwestern 200 bis 300 Stunden im Monat arbeiten, was ihre Gesundheit und die Sicherheit der Patienten massiv bedroht. Außerdem zahlen die Krankenschwestern, wenn sie in eine selbständige Tätigkeit gedrängt werden, niedrigere Beiträge zur Sozialversicherung, was wiederum Auswirkungen auf die Höhe ihrer Rentenansprüche hat.

Die OZZPiP fordert keinesfalls, jegliche Form selbständiger Tätigkeit von medizinischem Personal grundsätzlich zu verbieten. Im Gegenteil, sie argumentiert selbst, dass dies sowohl für die Beschäftigten als auch die Patienten und die Gesundheitspolitik sinnvoll sein kann: etwa im Fall von Hebammen in der häuslichen Geburtsnachsorge. Diese Variante ist jedoch weit entfernt von der absurden Vision, die Dienstleistungen in einem Krankenhaus ließen sich von einigen hundert Selbständigen übernehmen.

Wer fürchtet sich vor weißen Häubchen?

Die Demonstrationen und Streiks im polnischen Gesundheitswesen, bei denen es vor allem um Arbeitsbedingungen und Löhne ging, begannen im Jahr 2000. Krankenschwestern gehörten zu den Gruppen, die am lautesten und häufigsten protestierten. Ihre Einkommen lagen seit 1989 unter dem  polnischen Durchschnittsniveau und entfernten sich immer weiter von den Einkommen der Ärzte.

Die bekannteste Aktion, die vom OZZPiP bisher organisiert wurde, war das Warschauer Zeltdorf vor dem Präsidentensitz. Der Protest begann am 19. Juni 2007 vor der Kanzlei von Ministerpräsident Kaczyński. Die MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens forderten Lohnerhöhungen und die Anhebung öffentlicher Zuschüsse für das Gesundheitswesen. Als Kaczyński ein Treffen mit den Protestierenden absagte, besetzten vier OZZPiP-Aktivistinnen seine Kanzlei und begannen einen Hungerstreik. Währenddessen entstand gegenüber dem Amtssitz ein großes Zeltlager, das »Weißes Städtchen« genannt wurde und eine starke öffentliche Unterstützung erfuhr. Die Warschauer brachten den Krankenschwestern Essen und Artikel des täglichen Bedarfs, boten an, Wäsche zu waschen, und stellten Übernachtungsmöglichkeiten zur Verfügung. Das Protestcamp wurde von PolitikerInnen der Oppositionsparteien, SchauspielerInnen, Polit-AktivistInnen und KünstlerInnen besucht. Es fanden Konzerte und Vorträge statt, und es gab sogar eine Streikzeitung: den »Kurier des Weißen Städtchens«. Am 15. Juli 2007 wurde das Camp aufgelöst, ohne dass es zu einem Einvernehmen mit der Regierung gekommen war. Die Bedeutung des Protestes blieb jedoch nachhaltig – wahrscheinlich war es das erste Mal gelungen, die öffentliche Meinung in Polen davon zu überzeugen, dass Gewerkschaften auch in einer Demokratie eine positive Rolle spielen können.

Der Druck zur Privatisierung des Gesundheitswesens führte dazu, dass die ›Kontrakte‹ zur neuen Hauptkonfliktlinie zwischen Regierung und Krankenschwestern wurden. Am 17. März 2011 besetzten Aktivistinnen des OZZPiP die Zuschauertribünen im Sejm (dem polnischen Parlament), wo gerade Gesetzentwürfe für das Gesundheitswesen beraten wurden. Sie forderten, eine ganztägige Patientenbetreuung in Krankenhäusern nur mit regulären Arbeitsverträgen zuzulassen. Die Regierung argumentierte, dass auch schon ÄrztInnen auf Vertragsbasis in Krankenhäusern arbeiten und ein Verbot dieser Beschäftigungsform der Verfassung widerspräche. Unerwartet bekam die Regierung Rückendeckung durch eine bis dahin unbekannte »Vereinigung der Krankenschwestern und Hebammen« mit etwa 700 Mitgliedern. Deren Vertreterinnen erschienen im Sejm und erklärten, dass sie mit den Verträgen zufrieden seien und OZZPiP ihr »Recht auf freie Wahl der Beschäftigungsform« einschränken wolle. Die Medien griffen dies sofort auf und spielten den Gegensatz zwischen den ›fordernden‹ angestellten Krankenschwestern und den ›glücklichen‹ Vertragskrankenschwestern aus. Zeitgleich wurden viele der düsteren Voraussagen der OZZPiP traurige Wirklichkeit: Etliche Mitarbeiter der umstrukturierten Krankenhäuser wurden gezwungen, ihre Arbeitsverträge aufzugeben, und die Arbeitszeitgesetze wurden regelmäßig übertreten.

Vage Hoffnung?

Am 23. Oktober 2012 kündigte Gesundheitsminister Bartosz Arłukowicz weitere Reformen im polnischen Gesundheitswesen an: Die Zentrale des NFZ soll aufgelöst und die regionalen Abteilungen mehr Autonomie erhalten, um die Gesundheitspolitik stärker an die lokalen Bedürfnisse anpassen zu können. Damit droht ein regionales Auseinanderdriften von Behandlungsqualität und Zugang zu Leistungen. Arłukowicz kündigte allerdings ebenfalls an, dass in der onkologischen Betreuung öffentliche Gelder vorrangig an Einrichtungen fließen sollen, die komplexe Behandlungen durchführen. Das könnte die Zeit des Wohlstandes für die kleinen privaten Krankenhäuser beenden. Die am stärksten verschuldeten hochspezialisierten Kliniken und Institute sollen strategische Verbünde bilden und damit unter marktabgeschwächten Bedingungen agieren können, die sie vor Insolvenzen schützen.

Es ist hingegen nicht abzusehen, dass die negativen Konsequenzen der Ökonomisierung für die verbliebenen Einrichtungen, ihre MitarbeiterInnen und PatientInnen in Angriff genommen werden. In dieser Situation sind die Proteste der Krankenschwestern und Hebammen um so wichtiger. Sie fokussieren entsprechend weniger auf Lohnforderungen, sondern warnen allgemein vor den Konsequenzen einer vollständigen Ökonomisierung des Gesundheitssystems. Wirklich vernehmbar würde ihre Stimme jedoch erst dann, wenn sie nicht nur von anderen MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens – wichtig wäre hier vor allem die Solidarität der ÄrztInnen – unterstützt würden, sondern vor allem von der polnischen Gesellschaft. Von den Leuten, die Patienten waren, sind oder in Zukunft sein werden. Deshalb ist das Bewusstsein nötig, dass es in diesem Kampf keinesfalls nur um Arbeitsplätze oder Gehälter einzelner Berufsgruppen geht, sondern um den Erhalt eines allgemein zugänglichen Gesundheitswesens.

Aus dem Polnischen von Andrea Rudorff.

1 Die OZZPiP ist mit 80 000 Mitgliedern die größte Einzelgewerkschaft für KrankenpflegerInnen und Hebammen in Polen. Sie ist Mitglied im Gewerkschaftsforum, der drittgrößten Gewerkschaftszentrale in Polen, und als linke Gewerkschaft eine wichtige Stimme in der Debatte um die Krise des Gesundheitswesens.

2 Die Finanzierung aus öffentlichen Mitteln (NFZ, Staat, Kommunen) beträgt in Polen knapp 4 Prozent des BIP und gehört zu den niedrigsten in Europa. Die Beitragseinnahmen sind aufgrund der Situation auf dem polnischen Arbeitsmarkt gering, da verhältnismäßig viele Menschen in Arbeitsverhältnissen beschäftigt sind, in denen keine oder nur niedrige pauschale Krankenversicherungsbeiträge abgeführt werden. Sehr hoch hingegen ist das Niveau der individuellen Finanzierung von Gesundheitsversorgung durch die Patienten: Sie beträgt fast 30 Prozent aller Gesundheitsausgaben, 60 Prozent davon sind Ausgaben für Medikamente.

3 Vgl. den Bericht des polnischen Rechnungshofes zur Privatisierung der Krankenhäuser: www.nik.gov.pl/aktualnosci/nik-o-komercjalizacji-szpitali.html. Von 133 bisher umgewandelten Krankenhäusern waren 37 Prozent verschuldet.

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