Auf welche Weise verbinden sich hier Achsen gesellschaftlicher Hierarchisierung und Ungleichheit? Die »Demografisierung« sozialer Probleme ist Voraussetzung für die Renaissance einer aktiven Bevölkerungspolitik, die ausdrücklich Bevölkerungsgröße und -zusammensetzung gestalten will. Demografie dient hier dazu, gesellschaftliche Konflikte in einen Sachzwang umzuformulieren und damit zu entpolitisieren. In welchem Verhältnis steht das zur Politisierung von Betreuungsarbeit in der familienpolitischen Diskussion? Schließ- lich: Welche Bevölkerungsgruppen geraten mit ihren Kinderwünschen und Gebärmotivationen in den Blick?
Mehr »Humanvermögen« durch Geburtenpolitik
Seit 2002, seit der zweiten Legislaturperiode der rot-grünen Regierung, gilt Familienpolitik als »nachhaltig« oder auch »bevölkerungsorientiert«. Nachfolgende Regierungen behielten diese Politik in ihren Grundzügen bei und setzten sie um. Eine Kombination aus arbeitsmarktorientierter, geschlechter- sowie familienpolitischer Programmatik soll den »demografischen Wandel« angehen.
Dieser erlebte seinen Aufstieg zum politischen Kampfbegriff mit der Rentendiskussion in den 1990er Jahren, die zur Teil-Privatisierung der gesetzlichen Rente und Heraufsetzung der Altersgrenze führte. Dass in Deutschland mehr Menschen länger leben, wurde zu einer »wachsenden Alterlast«, die die produktiven Jüngeren »zu schultern« hätten und die sie zu »erdrücken« drohte. Die Frage, ab welchem Alter jemand dem Arbeitsmarkt, also dem Verwertungsprozess, ohne relevante Eingriffe in seinen Lebensstandard nicht mehr zur Verfügung stehen muss, wurde nicht als Frage sozialer Verteilung, sondern als Frage der »Überalterung« und der »Schrumpfung« skandalisiert. Dem demografischen Wandel soll nun auch mit Maßnahmen in der Familienpolitik entgegengesteuert werden, indem die Geburtenrate der deutschen Bevölkerung erhöht werden. Gleichzeitig gilt es, die Frauenerwerbsquote beizubehalten bzw. auszuweiten: Denn die Mobilisierung »stiller Ressourcen«, also der Arbeitskraft von Jugendlichen, Frauen und Alten, wird ebenfalls als Strategie gegen die »Überalterung« präsentiert. Dieses Projekt ist nicht nur pronatalistisch, sondern selektiv pronatalistisch: Familienpolitik zielt hier auf die Vermehrung spezifischer Bevölkerungsgruppen ab. Im Zentrum steht die Verbesserung des »Humanvermögens«. Laut Familienministerium betrifft dies nicht nur die Bevölkerungszahl an sich, sondern auch qualitative Faktoren wie arbeitsmarktrelevante Qualifikationen, Bildung und Gesundheit sowie »soziale Daseinskompetenz« und »Werthaltungen« (BMFSFJ 2006, 5).
Solche Qualitätsansprüche übersetzen sich zunächst in eine klassenpolitische Differenzierung: Es geht nicht darum, diese qualitativen »Vermögen« in der Bevölkerung insgesamt zu steigern. Das BMFSFJ erklärte etwa gemeinsam mit Industrieverbänden: »Eine anhaltend hohe Kinderlosigkeit unter Akademikerinnen kann die bildungspolitischen Probleme weiter verschärfen und zu Engpässen beim Fach- und Führungskräfte-Nachwuchs führen.« (BMFSFJ et al. 2004, 16) Die genannten Indikatoren sollen also nicht durch den Abbau sozialer Ungleichheit und ein egalitäreres Bildungssystem, sondern durch die Steigerung der Geburtenrate derjenigen erhöht werden, bei deren Nachwuchs diese Eigenschaften bereits als quasi naturgegeben vorausgesetzt werden.
Der selektive Zuschnitt spiegelt sich in allen wichtigen familienpolitischen Maßnahmen: Die wohl progressivste Reform, das Tagesbetreuungsausbaugesetz, sieht seit 2005 den Ausbau von Kitaplätzen vor – mit einem Vorrang für allein erziehende oder doppelverdienende Erwerbstätige bei der Vergabe der Plätze. Das verschlechtert den Zugang von Kindern prekär beschäftigter und erwerbsloser Mütter und damit von sozial benachteiligten Gruppen zur Kinderbetreuung. Offen klassenpolitisch sind die Steuerfreibeträge für Kinderbetreuung seit 2006, von denen Doppelverdienende mit höherem Einkommen am meisten profitieren. Der deutlichste klassenpolitische Einschnitt ist aber sicherlich das 2007 eingeführte Elterngeld. Es begünstigt gerade die Eltern, deren Einkommen vor der Geburt hoch war, indem 65 Prozent des vorherigen Nettoeinkommens (und höchstens 1800 Euro) ausgezahlt werden. Gleichzeitig verkürzt sich der Zeitraum der Basisförderung von zwei Jahren (wie beim vorherigen Erziehungsgeld) auf ein Jahr (bzw. mit »Vätermonaten« auf 14 Monate) und verringert somit die Förderung für gering Verdienende oder Erwerbslose um (fast) die Hälfte. Eine weitere drastische Verschärfung ist, dass seit 2011 das Elterngeld auf das Arbeitslosengeld II angerechnet und so faktisch für die ärmeren Bevölkerungsschichten ganz abgeschafft wurde.
Die aktuelle Familienpolitik hat zudem rassistische Züge. Grundsätzlich beruht sie auf einer nationalistischen Logik, die der Bevölkerungspolitik immanent ist: Bezugsgröße ist die national erfasste Bevölkerung, ihre Größe oder Zusammensetzung soll verändert werden. Darüber hinaus wird derzeit die Erhöhung der Geburtenrate in Deutschland gegen eine konkurrierende demografische Option in Stellung gebracht – nämlich die Bevölkerungszahl und/oder -zusammensetzung durch Immigration zu erhöhen. Das Projekt eines demografisch angeleiteten Immigrationsmanagements stößt auf Ablehnung oder reduziert sich auf wenige, eher arbeitsmarktpolitische Instrumente temporärer Fachkräfteanwerbung. Entsprechende Expertisen weisen entweder auf »kulturelle« Grenzen der »Integration« hin oder darauf, dass langfristig eine Anpassung des »reproduktiven Verhaltens« der Zugezogenen an die deutsche Bevölkerung dazu führe, dass sich die Alterszusammensetzung der Bevölkerung nicht verändere.
Zwischen demografischem Sachzwang und Geschlechterpolitik
Der staatliche Zugriff auf Bevölkerung entlang rassistischer und klassenpolitischer Logiken gehört zu den Grundstrukturen moderner Biopolitik und ist an sich nichts Neues. Es ist aber ein neues Phänomen in der deutschen Familienpolitik, dass demografische Begründungen explizit und an zentraler Stelle auftauchen. Dies war nach dem Nationalsozialismus zumindest in der alten Bundesrepublik lange diskreditiert, auch wenn bestimmte Kreise deutscher BevölkerungswissenschaftlerInnen nach dem NS-Regime ihre Disziplin weiter betrieben2. Die Rehabilitierung der demografischen Wissenschaft und Politikberatung nach der Wiedervereinigung förderte das Selbstbewusstsein einer neuen Generation von DemografInnen so weit, dass der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Demografie 2011 gar ein Demografie-Ministerium als »strategisches Zentrum« von Regierungspolitik forderte (Mayer 2011). Die 2012 veröffentlichte »Demografiestrategie« der Bundesregierung zeugt davon, dass solche Bestrebungen keine skurrilen Phantasien sind (www.demografiestrategie.de). Hier fließen demografisch begründete Politikansätze aus diversen Ministerien zusammen, um sie – und das ist im Sinne einer allgemeinen Bevölkerungsverwaltung auch konsequent – als kohärente Politik zu präsentieren.