Der Angriff Russlands auf die Ukraine erfolgte ohne Kriegserklärung und nichts — auch nicht der Wunsch nach „Sicherheitsgarantien“ oder die häufig vorgetragene Sorge um die Osterweiterung der NATO — rechtfertigt ihn. Ein Staat, wie Russland, der sich auf nuklearer Augenhöhe mit den USA wähnt und auf seine Erfolge bei der Entwicklung überlegener Hyperschallwaffen verweist, kann im Zweifel auch die Ukraine als NATO-Mitglied akzeptieren. Das mag schwerfallen und eine gemeinsame, akzeptiere europäische Sicherheitsarchitektur in Europa wäre für alle Seiten eine bessere Alternative zu einer ukrainischen NATO-Mitglied oder zu einer fragilen Zone neutraler Pufferstaaten zwischen der NATO und Russland. Diese fragile Zone befand sich ohnehin seit Jahren im Prozess der inneren Auflösung. Nun ist sie noch ein Stück weiter zerfallen. Die vitalen Interessen Russlands standen jedoch zu keinem Zeitpunkt auf dem Spiel — dafür nun aber die Existenz der Ukraine als souveräner Staat. Zugleich sind die Folgen einer Eskalation über die Ukraine hinaus nicht abseh- und daher unverantwortbar. 

Die tiefe außen- und sicherheitspolitische Krise dieser Tage ist zugleich in Deutschland eine Stunde der Exekutive. Die per Regierungserklärung angekündigte Entscheidung den Militärhaushalt mittels eines Sondervermögens von 100 Milliarden Euro noch in diesem Haushaltsjahr auf zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes zu hieven, sorgt dennoch für Kontroversen. Während manche darin das größte Rüstungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik sehen und empört ablehnen, halten andere es im Angesicht des russischen Überfalls auf die Ukraine für legitim, gar notwendig die Verteidigungsfähigkeit der Bundesrepublik zu stärken, um so weitere Aggressionen einzudämmen.

Doch zuweilen sind es die Zwischenpositionen, die das ganze Ausmaß der konzeptionellen Misere veranschaulichen. Der Frankfurter Politikwissenschaftler Andreas Nölke, kritisiert den westlichen Interventionismus der letzten Jahre und betont sowohl die Souveränität der Ukraine als auch Russlands. Er wendet sich gegen jede weitere Internationalisierung des Krieges und hält das Sondervermögen zugleich für den Auftakt eines Umbaus der Bundeswehr von einer Interventions- in eine Verteidigungsarmee zur Territorial- und Bündnisverteidigung.

Solche und viele andere Stimmen machen es nötig ein paar Worte über die deutsche Rüstungspolitik nach 1990 zu verlieren. Gibt es ihn, den scharf abgrenzbaren Unterschied zwischen Interventions- und Verteidigungsarmee? 

Nach dem Ende der Geschichte in Mitten des Neoliberalismus: Deutsche Rüstungspolitik nach 1990

Häufig wurde und wird die Bundeswehr als nicht adäquat ausgestattet kritisiert. Doch die Frage, was eine adäquat ausgestattete Armee ist, ist eine politische Frage. Sie hängt einerseits von ihrem politischen Auftrag und der daraus resultierenden Militärdoktrin ab. Ob eine Armee im Sinne ihrer Doktrin und ihres politischen Auftrages auch entsprechend ausgestattet wird ist jedoch eine weitere politisch umkämpfte Frage. Denn wer über die Definitionsmacht ihres Auftrags verfügt, verfügt nicht per se über die Kapazität dies auch im Haushalt geltend zu machen. 

Noch in der ausgehenden Ost-West-Konfrontation war die Bundeswehr eine große und zugleich hochmodern ausgestattete Wehrpflichtarmee, zahlreiche neue, noch zu Hochzeiten der Blockkonfrontation bestellte Systeme sollten ihr weit über das Wendejahr 1989/90 hinaus bis in die 2000er Jahre hineinzulaufen. Obwohl sich im Kalten Krieg bis zuletzt hochgerüstete und hochmoderne Armeen gegenüberstanden, verbreitete sich nach dem Ende der Blockkonfrontation schnell das Narrativ von der veralteten Bundeswehr. Nicht das Kriegsgerät war jedoch über Nacht gealtert, sondern die außen- und sicherheitspolitische Doktrin: Der globale und regionale gesellschaftliche Kontext, auf dessen Schultern sie ruhte, hatte sich gewandelt.

Zum Kontext des Wandels gehörte auch die Mär vom Ende der Geschichte nach dem Kollaps des Realsozialismus.[1] Die neue globale Ordnung wurde zwar weniger friedlich, als erhofft, aber große Kriege schienen der Vergangenheit anzugehören: Quasi polizeiliche Eingriffe sollten die neue, liberale Weltordnung, die an die Stelle der Blockkonfrontation trat, in den neunziger Jahren stabilisieren, und dies sollte zum neuen Betätigungsfeld der westlichen Armeen werden. Es handelte es sich bei diesen Eingriffen, wie sie zum Beispiel westliche Staaten im Irak, im zerfallenden Jugoslawien oder in Somalia durchführten, um militärische Interventionen weit überlegener Staatenbündnisse gegen schwächere Akteure. Die klassische Idee der Landesverteidigung als Aufeinandertreffen einander ebenbürtiger konventioneller Armeen galt als extrem unwahrscheinlich, eine darauf aufbauende Militärdoktrin und Streitkräfte ergo als unzeitgemäß. Auch Russland unternahm derartige militärische Inventionen im postsowjetischen Raum, den es in einem quasi kolonialen Diskurs als „nahes Ausland“ betrachtete und noch immer betrachtet. Es legte damit frühzeitig einen Grundstein für seinen gegenwärtigen Angriff auf die Ukraine. Auch dieser wird im offiziellen Russland als eine Art polizeiliche Intervention statt als ein Krieg zwischen souveränen Staaten begriffen.

Die Umgestaltung der westlichen Armeen und damit auch der Bundeswehr entlang der neuen Doktrin fand unter den Bedingungen einer veränderten geopolitischen Ordnung statt, in der Russland – außer für die postsowjetischen Staaten – keine wirkliche Herausforderung darstellte. Ebenso entscheidend und gern übersehen, war der neoliberale Kontext, in dem sie stattfand. Ein paar illustrative Beispiele mögen hier genügen: Der Betrieb von umfangreichen Werkstätten und die Einlagerung von Ersatzteilen sowie die Vorhaltung von großen Beständen an Waffensystemen galten als ineffizient, da real für nur wenige von ihnen unmittelbarer Einsatzbedarf bestand. Die privatwirtschaftliche Just-In-Time-Logik der Zeit wurde auch auf die Streitkräfte übertragen. Das Zeitalter des Postfordismus war auch in der Bundeswehr angebrochen: Scheinbare Überkapazitäten sollten abgebaut und die Armee dadurch auf Einsatzfähigkeit außerhalb des Bündnisgebietes getrimmt werden.

Für die Erfüllung ihres nunmehr als quasi polizeilich definierten militärischen Auftrags war dies eine größere Herausforderung als es zunächst schien: Dass eine mögliche Eskalation des Kalten Krieges zur direkten militärischen Konfrontation zwischen den Armeen der großen Böcke eine fordistische Form der Krieges par excellence hervorgebracht hätte, ist logisch. Bereits der Erste und der Zweite Weltkrieg waren in Form technisierter und zentral geführter Massenheere geführt worden. Masse und Klasse waren damals kein Wiederspruch in der Kriegführung, sondern bedingten einander. Im Zeitalter des Post-1989-Neoliberalismus schien dies nicht mehr zu gelten.

Doch bis zu welchem Grad war eigentlich die Kriegführung nach 1989/90 neoliberalisierbar ohne die Erfüllung der eigenen (neuen) Militärdoktrin zu gefährden? Zu den Grundproblemen der Kriegführung insgesamt und der als Polizeieinsätze begriffenen Kriege nach 1989/90 im Besonderen zählt ihre schlechte Vorhersagbarkeit. Zwar gibt es durchaus Kriege, die akribisch geplant werden. Wahrscheinlich fällt darunter auch die gegenwärtige russische Invasion der Ukraine. Doch in der Mehrzahl der Fälle hängt ihr Beginn von zu vielen Faktoren und Akteuren ab, als dass sich Armeen der Ordnungsmächte weit im Voraus präzise darauf einstellen könnten. Dies galt insbesondere für jene Konflikte, die nach 1990 in den mulitiplen Krisenkonstellationen zerfallender Staats-Zivil-Gesellschafts-Blöcke entstanden und die Gegenstand der „polizeilichen“ Interventionen zum Erhalt der globalen Ordnung waren. Erschwerend kam für die Militärs hinzu, dass es letztinstanzlich immer der politischen Entscheidungsgewalt obliegt, wann ein Konflikt als der äußeren (westlichen) Intervention bedürftig definiert wurde. Es gab keinen Automatismus, der den Bürgerkrieg in Somalia oder jene im zerfallenden Jugoslawien auf die militärische Agenda rückte. Immer waren es politische Entscheidungen. Aus militärplanerischer Sicht stellen diese Unbekannten ein großes Problem dar. Es ist eben nicht klar, was die „optimale Ausstattung“ einer Streitkraft ist, wenn fortwährende Unklarheit über die wahrscheinlichsten Einsatzszenarien und Orte bestehen. Politische Anforderungen, wie rasche Verlegbarkeit und Flexibilität, sind aus militärfachlicher Perspektive zu allgemein formuliert. Auch deshalb erlebte die Bundeswehr seit 1990 fortwährende Umstrukturierungen, die den wechselnden Einsatzszenarien hinterherliefen, keine einzige Reform wurde abgeschlossen.

Einer der Gründe für diese Widersprüche liegt in der Logik staatlicher Streitkräfte als solcher: Sie produzieren nichts und sind - außer in Kriegen - nicht fortwährend in gleicher Intensität im Einsatz. Ungenutzte Kapazitäten waren aber der neoliberalen (Staats-)Logik folgend ein Beleg für eine veraltete Armee, die nicht in der Lage ist, flexibel ihrem Auftrag gerecht zu werden. Doch beziehen Streitkräfte ihre Flexibilität wesentlich daraus ungenutzte Kräfte aktivieren und in den Einsatz schicken zu können. Je schlanker eine Armee aufgestellt und je mehr sie auf ihren Kernauftrag fokussiert ist, desto unflexibler wird sie. 

Insbesondere in 1990er und 2000er basierte die Fähigkeit der Bundeswehr Kräfte für die wachsenden Auslandseinsätze abzustellen wesentlich auf den materiellen Kapazitäten, die noch aus der Zeit der konventionell-symmetrischen Hochrüstung des Kalten Krieges stammten. Zum Beispiel fußten die umfangreichen Aktivitäten der Marine sehr wesentlich auf jenen Fregatten, die in der Spätphase des Kalten Krieges zur Konvoisicherung gegen sowjetische U-Boote beschafft worden waren. 

Eine gewichtige Ausnahme bildetet die Luftverlegefähigkeit der Bundeswehr über weite Strecken. Deren Fehlen wurde als Achillesferse einer Bundeswehr im globalen Einsatz erkannt und der Airbus A400M zu einem der zentralen Rüstungsprojekte dieser Zeit. Während auf sich im Bereich des Lufttransports die materiellen Voraussetzungen der Bundeswehr verbesserten, schrumpften die Streitkräfte insgesamt. Derweil wuchs mit der Umgestaltung der Bundeswehr zur Interventionsarmee die Zahl ihrer Auslandseinsätze. Die dafür real eingesetzte Zahl an Soldaten ist übrigens ein Vielfaches größer, als das jeweilige Einsatzkontingent vor Ort – eine Folge komplexer Logistikstränge. 

Krise der Bundeswehr 

Spätestens zu Beginn der 2010er Jahre zeichnete sich ab, dass die zwei wesentlichen Ziele der 1990er und 2000er Jahre nicht erreicht worden waren: Erstens, die Bundeswehr abzurüsten und im Sinne eines New Public Managements zu verschlanken und zweitens, sie deshalb (!) häufiger als Instrument deutscher Außenpolitik im Bündnis im Ausland einsetzen zu können. Nicht ein pazifistischer, sondern der herrschende neoliberale Zeitgeist erwies als das reale Hemmnis einer konsequenten Militarisierung deutscher Außenpolitik. Mängel an Qualität und ein Personal- und Ausstattungsumfang, der nur schwerlich genügte, um den außenpolitischen Ambitionen gerecht zu werden waren wesentlich den neoliberalen Management-Paradigmen in die Militärplanung geschuldet. Die Antwort auf diese tiefe Krise war zunächst eine Verschärfung des bisherigen Kurses: Die weitere Verkleinerung und Transition zur Berufsarmee wurde 2011 mit der Aussetzung der Wehrpflicht vollzogen. Außerdem setzte das Bundesministerium der Verteidigung weiterhin auf Beratungsagenturen aus der Privatwirtschaft, um die administrativen Prozesse noch weiter zu neoliberalisieren. Einige militärische Fähigkeiten (zum Beispiel eine dezidierte Heeresflugabwehrtruppe) verschwanden ganz und andere wurden weiter ausgedünnt. Zu Grunde lag weiterhin die Vorstellung von einer Armee, die zumeist in Übersee in asymmetrischen Kriegen kämpft. Doch die gewünschten Steigerungen der Effizienz, gerade in Puncto Bewältigung dieser Aufgabe, blieben aus. Ausgelagerte Wartungsprozesse und knapp kalkulierte Ersatzteilvorräte sorgten zum Beispiel für Inflexibilität. Die Streitkräfte schrumpften weiter und rüsteten der Logik eben dieser Paradigmen folgend zugleich weiter auf: Weitere luftverlegefähige gepanzerte Truppentransporter/Schützenpanzer und patroullienfähige Fregatten wurden beschafft. Letztere können für sehr lange Zeiträume in Übersee ohne Rückkehr in ihre Heimathäfen operieren. Ihre Besatzungen können im Zweifel im laufenden Einsatz ausgetauscht werden. Auch diese Option wurde nötig, da die Bundeswehr nun mit dem Arbeitsmarkt konkurrierte und der Truppe nicht mehr alles zumuten konnte. 

Rüstungspolitisch brachte die Ausrichtung auf Auslandseinsätze und die gleichzeitige Verschlankung im Sinne eines New Public Managements einige Probleme mit sich: Einen erheblichen Faktor stellen in der Rüstung die Entwicklungskosten dar. Reduzierte Stückzahlen lassen folglich die Kosten pro Rüstungsgut erheblich ansteigen und materialisieren sich daher nur bedingt in sinkenden Beschaffungskosten. Ein weiterer Kostenfaktor sind die gewachsenen Anforderungen an die einzelnen Waffensysteme. In einer schlanken Armee muss ein einzelnes System einer Vielzahl von Szenarien gerecht werden, denn sie soll flexibel sein und mit relativ wenigen Systemen auskommen. Eierlegende Wollmilchsäue sind jedoch besonders teuer zu entwickeln und zu produzieren.

Zudem hat die deutsche Rüstungsindustrie durch die Reduktion ihres quantitativen Ausstoßes in zahlreichen Sektoren den Charakter eines Manufakturwesens angenommen. Oder aber sie stützt sich auf Exporte, um ökonomisch überleben und der Bundeswehr dennoch als Produktentwicklerin zur Verfügung zu stehen. Rüstungsexporte stehen aber seit Jahren unter den Argusaugen einer kritischen Öffentlichkeit, Politisch aufwendige Konstruktionen, wie Endverbleibsvereinbarungen, sind daher wichtig, um überhaupt das nötige Maß an gesellschaftlicher Legitimität zu generieren, das der Waffenexport schlicht benötigt. 

Mit der wachsenden geopolitischen Großmachtkonkurrenz zwischen NATO, Russland und China, die sich in den 2010er-Jahren immer offener zeigte, wurde das Konzept der einen „regelbasierten Weltordnung“, d.h. der westlichen Hegemonie und der aus hervorgegangenen Regeln mehr und mehr herausgefordert. Während Konflikte um Einflusszonen ein Revival erlebten, wuchsen innerhalb des deutschen sicherheitspolitischen Establishments die Zweifel, ob eine auf die Projektion leichter Truppen an überseeische Orte ausgerichtete Bundeswehr noch den außenpolitischen Erfordernissen entspräche. In der Truppe selbst waren die Reformen ohnehin stets mit großer Skepsis aufgenommen worden. Zu einem radikalen Paradigmenwechsel führte dies jedoch noch nicht, er wäre damals zu teuer und hegemoniepolitisch schwer vermittelbar gewesen. Der Wendepunkt kam schließlich, sich lange anbahnend, aber konkret doch für viele überraschend im Jahr 2014: Die Eskalation der schwelenden innergesellschaftlichen Konflikte in der Ukraine verschränkte sich mit Fragen der geopolitischen Konkurrenz zwischen dem Westen und Russland. Namentlich hatte die Regierung Janukowytsch das Assoziierungsabkommen mit der EU ausgesetzt. Dafür war sie im Zuge der Maidan-Bewegung von Massenprotesten gestürzt worden, die mit der Assoziation die Hoffnung auf Demokratisierung und sozialen Fortschritt verbanden. Russischsprachige und ökonomisch Richtung Russland sowie auf den globalen Süden ausgerichtete Regionen hatten sich daraufhin aus Angst vor sozialer und politischer Marginalisierung abgespalten. Russland drohte außerdem mit Sanktionen im Falle einer EU-Assoziation. Schließlich intervenierte Russland durch die militärisch abgesicherte Annexion der Krim im Februar 2014 direkt in der Ukraine. Diese offene Eskalation innergesellschaftlicher und geopolitischer Konflikte wurde zum militärparadigmatischen und rüstungspolitischen Wendepunkt. Hinzu kam die nur wenig verdeckte militärische Unterstützung der sogenannten Volksrepubliken im Osten der Ukraine. In Deutschland stiegen nun die Militärbudgets wieder und auch die Truppenstärke wuchs – wenngleich bescheidener als die Budgetsteigerungen. 

Drittstärkste Rüstungsbudgetmacht der Welt — die 100-Milliarden-Euro-Frage

Am 24. Februar 2022 gab es einen neuerlichen Angriff auf die Ukraine. Kaum jemand dürfte damit gerechnet haben, dass dieser folgenlos bliebe. Doch mit der schnellen Ankündigung eines Sondervermögens von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr überraschte Bundeskanzler Olaf Scholz nur drei Tage nach Beginn der umfassenden russischen Invasion fast alle. Selbst hochrangige Mitglieder der Regierungskoalition erfuhren davon erst kurz vor der Regierungserklärung und mehrheitlich erst während ihrer Verlesung im Bundestag. Noch ist nicht sicher, dass das Paket auch tatsächlich verabschiedet werden wird, denn Teile der Fraktionen von SPD und Grünen fühlen sich zu Recht überrumpelt. 

Bleibt es bei den jetzigen Planungen, so soll das — außerhalb des Bundeshaushaltes — geführte kreditfinanzierte Sondervermögen den Anteil der Rüstungsausgaben am BIP bereits in diesem Jahr auf 2 Prozent des BIP steigern. Das entspräche dem bereits auf dem NATO-Gipfel 2002 in Prag formulierte 2-Prozent-Ziel. Nachdem die deutschen Rüstungsausgaben im Jahr der Krimannexion 2014 1,2 Prozent betrugen, stiegen sie auf zuletzt 50,3 Milliarden Euro, was 1,56 Prozent des BIP entspricht. Auch für 2022 waren noch von der alten Koalition ursprünglich gut 50 Milliarden Euro eingeplant. Weitere Steigerungen sah die neue Koalition auf Grund der Schuldenbremse jedoch auch für die kommenden Jahre nicht vor.

Mit dem kreditfinanzierten Sondervermögen soll das 2-Prozent-Ziel schon ab diesem Jahr erreicht werden und damit der Haushalt der Bundeswehr auf einen Schlag um 20 Milliarden, also um gut 40 Prozent gegenüber dem jetzigen Niveau auf 71,4 Milliarden Euro steigen. Der Rüstungshaushalt kann so für die Dauer von 5 Jahren bei etwa 2 Prozent des BIP gehalten werden ohne gegen die Schuldenbremse zu verstoßen, denn der Sonderhaushalt wäre nicht Teil des regulären Bundeshaushaltes. Dieser Zeitraum deckt sich mit der allgemeinen Haushaltsplanung des Bundestags und übergibt die Frage des ob und wie der Haushalt danach auf 2 Prozent des BIP gehalten werden soll an die nachfolgende Bundesregierung

Schon jetzt ist allerdings absehbar, dass bei Investitionen, also der Anschaffung neuer Waffensysteme oder der Aufstockung bestehender Waffensysteme, die laufenden Kosten der Bundeswehr erheblich zunehmen werden. Dies wird sich im angemeldeten Finanzbedarf der Bundeswehr bis weit über das Jahr 2027 hinaus niederschlagen. Denn die neu beschafften Systeme, die dann noch längst nicht in den Bestand der Bundeswehr integriert sein dürften, werden erhebliche Folgekosten verursachen. Zudem stellt sich die Frage, wer sie betreiben wird. Trotz aller technologischen Fortschritte ist der Betrieb komplexer Waffensysteme nämlich personalintensiv und teuer. Auch die Frage nach dem Umfang der Bundeswehr, die seit Abschaffung der Wehrpflicht noch größere Probleme hat, ihre Rekrutierungsziele zu erfüllen, befindet sich damit im Grunde wieder auf dem Tableau. 

Hinzu kommen andere Erwägungen: Spätestens seit 2014 wird wieder in einem verstärkten Maße die Frage der Verteidigung des Bündnisgebietes als primäre Aufgabe der Bundeswehr betrachtet. Im Einklang damit wurden ihre überseeischen Einsätze, wie in Afghanistan beendet und auch der Einsatz in Mali steht zur Disposition. Einige neu beschaffte Fregatten werden bereits dafür kritisiert zwar für überseeische Missionen geeignet zu sein, jedoch nicht für jene hochintensiven Gefechte, die bei der Verteidigung des Bündnisgebietes potentiell anstünden. 

Mit der Verteidigung des Bündnisgebietes steht militärplanerisch letztinstanzlich immer die Frage eines Schlagabtausches mit Russland und damit ein großer konventioneller Krieg zur Debatte. In seinem Tagesbefehl vom 01.03.2022 begrüßt der Generalinspekteur der Bundeswehr, General Eberhard Zorn, die Regierungserklärung des Bundeskanzlers und weist persönlich daraufhin, dass der entscheidende Paradigmenwechsel in der Definition des Kernauftrages der Bundeswehr 2014 in Folge der Krimannexion vollzogen wurde. In diesem Sinne finanziere die Bundesregierung also einen bereits laufenden Umbauprozess. Zudem verweist er darauf, dass die Bundesrepublik bereits innerhalb der arbeitsteiligen Verzahnung mit den Streitkräften kleinerer Staaten als NATO-Rahmennation[2] für eine Reihe anderer (insbesondere mitteleuropäischer und nordeuropäischer) Staaten fungiere. Mit dem Milliardenpaket werde „die Grundvoraussetzung dafür geschaffen, dass die Bundeswehr ihren Auftrag und ihre Aufgaben erfüllen kann und die gesicherte Bereitstellung der erforderlichen Fähigkeiten in der gesamten Bandbreite militärischer Verpflichtungen ermöglicht wird. So werden wir auch den Zusagen gegenüber unseren Partnern und Alliierten in der EU und in der NATO wie auch den Erwartungen an Deutschland als Führungsnation absehbar gerecht.“

Während der Begriff „Führungsnation“ zum Beispiel in Frankreich eher mit Skepsis gelesen werden dürfte, stellt sich die Frage nach den tatsächlichen Dimensionen des in absoluten Zahlen größten Aufrüstungsprogramms in der Geschichte der Bundesrepublik. Obgleich die Etatsteigerung um 20 Milliarden die Ausgaben der Bundeswehr auf 2 Prozent des BIP steigert, stellt dies keineswegs ein Rekordniveau gesellschaftlicher Rüstungsausgaben dar. Zu Hochzeiten des Kalten Krieges, etwa im Jahr 1963 wurden 5,2 Prozent des BIP für Rüstung aufgewendet. Während der 1950er und 60er Jahre lagen die Rüstungsausgaben zwischen 3 und etwas über 5 Prozent des BIP. In den 1970er und 80er Jahren über 3 Prozent. Erst Ende der Dekade fielen sie knapp unter 3 Prozent und erreichten im Jahr 2000 1,4 Prozent des BIP. Beachtenswert ist allerdings der Ausgabensprung um 0,5 Prozent des BIP binnen eines Haushaltsjahres: Einen vergleichbaren Sprung hat es in der bundesrepublikanischen Geschichte nur in Jahren von 1958 auf 1959 gegeben, damals (noch in der Gründungsphase der Bundeswehr) stieg der Anteil von 3,0 auf 4,4 Prozent des BIP. Und wenige Jahre später von 1962 auf 1963 stiegen die Ausgaben um 0,4 Prozent (von 4,8 auf 5,2 Prozent des BIP). Ansonsten sticht die Ausgabensteigerung 0,5 Prozent heraus. Kurzum das Rüstungsprogramm ist erheblich. Ebenso ist absehbar, dass im Falle eines nicht zu tiefen Wachstumseinbruchs, das Sondervermögen nicht reichen wird, um überhaupt nur für die Dauer der allgemeinen Haushaltsplanung des Bundestags die Militärausgaben bei den erklärten 2 Prozent des BIP zu halten. Das heißt, der reguläre Rüstungshaushalt wird wahrscheinlich bereits innerhalb der nächsten 5 Jahre trotz des Sondervermögens weiter wachsen, um den Anteil der Militärausgaben bei 2 Prozent des BIP zu halten. 

Durch die Steigerung von etwa 1,5 Prozent auf 2 Prozent möchte die Bundesregierung nunmehr das NATO-Zweiprozentziel erfüllen. Doch die pflichtschuldige Erfüllung dieser Vereinbarungen verschiebt politische Kräfteverhältnisse; Vor dem Hintergrund der führenden wirtschaftlichen Rolle Deutschland in der EU, aber auch in Europa insgesamt, ließe die Erfüllung des 2-Prozentziels die Bundesrepublik gemessen an den Rüstungsausgaben zur führenden Militärmacht Europas machen. Deutschland hätte mit etwa 75 Milliarden Euro/91 Milliarden US-Dollar (die genaue Höhe unterliegt der BIP-Entwicklung) nach den USA und China den drittgrößten Militärhaushalt der Welt. Damit würde es hinter den USA (778 Milliarden US-Dollar in 2020) und China (252 Milliarden US-Dollar in 2020), aber noch vor Indien (72,9 Milliarden US-Dollar in 2020) sowie deutlich vor Russland (61,7 Milliarden US-Dollar in 2020) rangieren. Erheblicher Abstand bestünde auch zu den beiden nuklear bewaffneten europäischen NATO-Partnern Großbritannien (59,2 Milliarden US-Dollar in 2020) und Frankreich (52,7 Milliarden US-Dollar in 2020). Obgleich hier projizierte Zahlen für das Jahr 2022 (die deutschen) mit den Zahlen der anderen Staaten aus dem Jahr 2020 verglichen werden, ist zu bedenken, das ebendiese Staaten bereits mehr als 2 Prozent ihres BIP für Rüstung ausgeben. Eine Steigerung um 0,5 Prozent ist zudem derart beachtlich, dass (vom ohnehin uneinholbaren China einmal abgesehen) kaum einer dieser Staaten den Spielraum für eine annähernde Steigerung hat. Selbst Russland, dass sich schon vor seiner Ukraine-Invasion in eine wachsende Anzahl von Militärengagements verstrickte, konnte in den letzten Jahren auf Grund wachsender ökonomischer Schwierigkeiten seine von Anfang bis Mitte der letzten Dekade beachtlichen Ausgabensteigerungen nicht mehr aufrechterhalten. Der sich dort anbahnende ökonomische Absturz wird sein Übriges tun. Einzig Indien könnte sich bei den Rüstungsausgaben noch an dritter Stelle behaupten, Deutschland würde dann mit dem viertgrößten Haushalt dicht folgen — mit deutlichem Abstand zu Großbritannien auf Platz 5.

Die sich seit Jahren zuspitzende globale Großmächtekonkurrenz und der regionale Krieg in Osteuropa, der in sich das Potential einer Eskalation hin zu einer direkten NATO-Russland-Auseinandersetzung birgt, machen unter den europäischen sicherheitspolitischen Establishments diese bündnisinterne Verschiebung des militärischen Kräftegleichwichtes an Rüstungsausgaben akzeptabel. Sie stellt zudem eine Rückkehr zu den Verhältnissen kurz vor Ende des Kalten Krieges dar. Damals rangierte die Bundesrepublik zwischen Platz 3 und 4 der weltgrößten Rüstungsetats. Die Selbstverpflichtung gegenüber dem NATO-Ziel mag mittelbar eine Verschiebung der relativen militärischen Gleichgewichtige innerhalb der NATO bewirken, zusätzliches Geld zu haben und es dann auch effektiv auszugeben ist jedoch eine Frage von ganz eigener Qualität.

100 zusätzliche Milliarden, wofür?

Mit einer Steigerung von 0,5 Prozent, oder 20 Milliarden Euro binnen eines Haushaltsjahres dürfte auch die Grenze dessen, was die deutsche Rüstungsindustrie zurzeit auf die Schnelle liefern kann erreicht, wenn nicht gar überschritten, sein. Dabei ist die Komplexität der Ausschreibungsverfahren noch nicht einmal mitbedacht, dies verursacht auch konservativen Medien Kopfschmerzen

Von wichtiger rüstungspolitischer Relevanz wird zweifellos der militärische Verlauf des Russland-Ukraine-Krieges sein. Welche Taktiken und Waffensysteme sich im Konkreten als obsolet oder überlegen erweisen wird erheblichen Einfluss militärstrategische, wie taktische, Konzeptionen haben. Nahezu sicher ist indes, dass die Bundeswehr nach dem Willen ihrer militärischen Führung wieder zu einem Eckpfeiler der konventionellen zwischenstaatlichen Kriegführung in Europa werden soll. Der Tagesbefehl des Generalinspekteurs vom 01.03.2022 ist diesbezüglich deutlich: „Rückgrat der Bundeswehr müssen wieder vollausgestattete, aus dem Stand projektionsfähige Streitkräfte sein, die zur hochintensiven Gefechtsführung im Rahmen von NATO und EU befähigt sind. (…) Gleichzeitig müssen wir bürokratische Hürden abbauen, Strukturen modernisieren und Maßnahmen ergreifen, die die Einsatzbereitschaft der Truppe in der Fläche schnell und sichtbar erhöhen. Dazu zählt auch, die entsprechenden Führungsverfahren und -prozesse effektiv, standardisiert und national wie multinational interoperabel auszugestalten.“

Doch ein wesentlicher Unterschied sticht hervor: Projektionsfähigkeit also das Vermögen eigene Truppen in weiter Distanz vom eigenen Territorium einzusetzen war für die Bundeswehr des Kalten Krieges von nachrangiger Bedeutung, sie wirkte zwar multinational im Bündnis, doch im Ernstfall wäre der Krieg auf deutschem und mitteleuropäischen Terrain ausgetragen worden. Der Wunsch nach Projektionsfähigkeit ergibt sich heute aus der veränderten geopolitischen Lage, die quasi Demarkationslinie verläuft nun im Baltikum und an den Ostgrenzen der mittelosteuropäischen NATO-Mitglieder. Während ein direkter Schlagabtausch zwischen NATO und Russland in Folge von Eskalationsdynamiken sehr wohl möglich ist, wird er jedoch nicht angestrebt, er wäre für beide Seiten zu riskant. Allerdings ist die Post-1990-Welt auch jenseits des gegenwärtigen Russland-Ukraine-Krieges mehr und mehr in eine Vielzahl von Einflusszonen zerfallen, an anderen Orten gibt es wiederum direkte Stellvertreterkriege. Dabei sollten wir bedenken: Ihre Fähigkeit zu Auslandseinsätzen hatte die Bundeswehr nicht primär ihrer neoliberalen Verschlankung, sondern wesentlich den aus dem Kalten Krieg geerbten Kapazitäten von Masse und Klasse zu verdanken. Das de facto praktizierte New Public Management, welches die Auslandseinsatzfähigkeit der Bundeswehr eher behinderte als denn ermöglichte, wird also stillschweigend aufgegeben. Das heißt jene Reformen, die nun zu ihrer Ausrichtung für die Territorialverteidigung des Bündnisgebietes gemacht werden sollen, stärken in einem erheblichen Maße ihre Fähigkeit zu überseeischen Einsätzen – sei es für quasi „Polizeieinsätze“ in westlichen Einflusszonen oder gar für Stellvertreterkriege. Verteidigungs- und Interventionsarmee mögen idealtypische Antithesen sein in der Realität unserer Tage sind sie eng verschränkt.