Gar nichts ist vorbei – außer der Katerstimmung. Ein halbes Jahr nach #thisisacoup sucht die europäische Linke nach einer neuen politischen Strategie. Dass es dabei einer grundsätzlichen Neubegründung bedarf, die den Bezugsrahmen der Aufstände gegen die Austeritätspolitik in Südeuropa überschreitet, stellt die große Herausforderung dar. Es überrascht daher wenig, dass sich derzeit die Konferenzen und Kongresse häufen, die allesamt die Frage nach einer europäischen Strategie der Linken und ihrem Verhältnis zur EU ins Zentrum rücken. Von den verschiedenen Plan B-Initiativen oder der gewerkschaftlichen Initiative Europa neu begründen bis DiEM25 und Blockupy gibt es eine neue Konjunktur europäischer Fragestellungen, die nicht zuletzt von den Konflikten um Griechenland und dem Sommer der Migration neu auf die Tagesordnung gesetzt worden sind.
Während europäische Fragen unzweifelhaft die politische Debatte bestimmen, kann leider keine Rede davon sein, dass sich linke Politik derzeit europäisieren oder transnationalisieren würde. Im Gegenteil beobachten wir nicht selten eine Abkehr vom europäischen Raum, die ganz unterschiedliche Motive und Gründe hat, in Summe aber ein politisches Vakuum hinterlässt, das dringend geschlossen werden muss.
Die Renationalisierung und Lokalisierung linker Strategie
Von der Debatte um einen so genannten Grexit und den neuen alten linken Nationalismen, die ein Programm um Fragen der nationalen (Währungs-)Souveränität entwerfen und dabei nicht zufällig auch eine offene Flanke zu rechtspopulistischen Argumentationen zeigen, versprechen wir uns weder eine angemessene Antwort auf die derzeitigen Herausforderungen, noch einen Fortschritt hinsichtlich der Werte und Normen, mit denen die Linke identifiziert wird. Nationale Souveränität ist weder eine strategische noch eine normative Antwort auf die vielfältigen europäischen und globalen Krisen unserer Zeit.
Während sich diese Debatte größtenteils im politischen Betrieb und im traditionslinken Milieu abspielt, sehen wir eine weitere Tendenz des Rückzugs aus dem europäischen Raum: Diese findet statt in Teilen der sozialen Bewegungen und hat sich teilweise durch die Erfahrungen in der Solidaritätsarbeit für Geflüchtete verstärkt. Aus den großartigen Bewegungen praktischer Solidarität und der Unmittelbarkeit lokaler Praxis wird hier eine tendenzielle Abkehr von jeder ›abstrakten‹ politischen Initiative geschlussfolgert. Diese hat in ihrer Konsequenz eine defensive Wirkung: nämlich eine strategische Orientierung auf das Lokale und Unmittelbare, in der die Machtfrage, die sich in Europa weiterhin und dringlich stellt, unbeantwortet und dadurch den Eliten überlassen bleibt.
Unsere These lautet dagegen: Nach #thisisacoup und dem Sommer der Migration kann eine linke Offensive nur ultraeuropäisch sein.
Die Suche nach einer neuen Offensive
Klar ist: Die gewaltsame Durchsetzung der Austeritätspolitiken und die gegenwärtige Konjunktur der Kämpfe um Migration begründen eine neue Phase der Auseinandersetzung um Europa, die neue Antworten erfordert. Diese Antworten können aber nicht die politische Resignation und die Rückkehr zu alten Mustern linker Politik sein. Die Frage bleibt daher: Wie kann ein europäischer Bezugsrahmen des Widerstands und der Offensive hergestellt werden?
Wir denken, dass es heute mehr denn je darum gehen muss, eine transnationale Strategie neu zu begründen, die die verschiedenen Ebenen der politischen Initiative miteinander verbinden muss und sie gleichzeitig überschreitet. Eine solche Verbindung kann sich in unseren Augen bündeln um einen demokratischen Aufstand in Europa. Dieser muss die Dimension der Ökonomie ebenso einschließen wie Fragen des europäischen ›Außens‹.
Wir haben keine endgültigen Antworten und erst recht keinen Plan X anzubieten. Wir denken vielmehr, dass sich wirkliche Antworten nur in der politischen Praxis finden werden. Wir möchten vielmehr einen Horizont und eine Richtung aufzeigen, in die die Suche in unseren Augen gehen sollte. Diese Suche umfasst auch die Fragen, wie die Grenzen aller linken politischen Formen – vom Aktivismus bis zur Parteipolitik – aufgebrochen werden können. Und dabei ist klar: Es geht um eine kollektive Suche, eine gemeinsame Anstrengung bei der Erfindung neuer Formen, Sprachen und Orte. Zwei Orte einer solchen Suche sind für uns derzeit Blockupy und DiEM. Sie sind einerseits realexistierende Projekte, an denen wir auf verschiedene Weisen teilnehmen und andererseits beispielhafte Pole eines politisch produktiven Spannungsgewebes, das sich weit über diese beiden Projekte hinaus entfalten muss. Innerhalb dieses Feldes – dem Wechselspiel zwischen einer neuen Form des Aktivismus und der zivilgesellschaftlichen Aktivierung der vielen Menschen, die aus den verschiedensten Gründen keine AktivistInnen sein wollen und können – bewegen sich die Überlegungen unseres Artikels.
Es ist die Gegenwart des »Griechischen Frühlings« und des »Sommers der Migration«, mit der wir dabei beginnen möchten. Dabei möchten wir vor allem deutlich machen, dass – entgegen weit verbreiteter Einschätzungen – beide Erfahrungen die Notwendigkeit einer europäischen Offensive unterstreichen und gerade nicht zu einer falschen Rückbesinnung auf einseitige nationale oder lokale Strategien führen dürfen.
Das griechische Europa
In Griechenland (und ebenso in Spanien, Portugal und Irland) haben wir beispielhaft erlebt, wie sich europäische Politik auf der nationalen Ebene verdichtet und dass es tatsächlich möglich ist, diesen Prozessen mit einer Offensive von unten zu begegnen. Griechenland ist in dieser Hinsicht ein Laboratorium der Krisenbearbeitung – aber auch des Widerstands.
Die politische Eskalation rund um das griechische Referendum war dabei von einer massiven Ungleichzeitigkeit der gesellschaftlichen Dynamiken und Kräfteverhältnisse gekennzeichnet. Während sich in Griechenland infolge der jahrelangen Aufstände, Platzbesetzungen und Alltagskämpfe das politische Koordinatensystem verändert und eine linke (um nicht zu sagen: linksradikale) Regierung hervorgebracht hat, war von dieser beinahe vorrevolutionären Stimmung (wenn man einmal von den eigentümlichen Entwicklungen auf der iberischen Halbinsel absieht) im Rest von Europa wenig zu spüren. Die nationale Offensive der griechischen Linken war schon nach wenigen Monaten mit ihrer institutionellen Isolation und der Defensivsituation der europäischen Linken konfrontiert. Und ohne die Frage für unwichtig zu erklären, welche Fehler und verpasste Chancen die Linie von Alexis Tsipras bedeutet hat, lag hierin das entscheidende Dilemma der Situation.
Nicht erst in dieser Situation gab es den Versuch, die Konfrontation der griechischen Regierung mit den Troika-Institutionen zu transnationalisieren. Beispielhaft dafür stehen der Blockupy-Prozess und die Mobilisierung zum 18. März vor die Türme der EZB in Frankfurt. Während die griechischen Kämpfe sich wesentlich auf die nationalen Kräfteverhältnisse auswirkten und über diesen Umweg die europäische Politik der Memoranden zurück auf die europäische Bühne trugen, versuchten die europäischen Bewegungen, sich in diese Auseinandersetzung einzureihen. Diese politische Strategie wurde durch die Umstände bedingt, keine Frage. Es ist aber eine Tatsache, dass die daraus entstandene europäische Solidaritätsbewegung nicht im Stande war, die institutionelle Isolation der griechischen Regierung zu brechen. Und dass sie darüber hinaus nicht in der Lage war, eine Offensive jenseits der griechischen politischen Geographie einzuleiten.
Heute kann mit Sicherheit gesagt werden, dass diese politische Konstellation sich massiv verändert hat und dass sie keine weitere Grundlage für einen transnationalen politischen Prozess mehr darstellt. Eine europäische Initiative der Linken kann nicht ausschließlich von den sozialen Zusammenstößen in Südeuropa am Leben gehalten werden. Kann daraus aber der Schluss gezogen werden, dass es einer Renationalisierung linker Politik bedarf? Diese Frage ist zu verneinen.
Die Chance der Niederlage
So richtig es ist, dass die griechische Regierung die europäischen Kräfteverhältnisse unterschätzt hat, so falsch ist es, daraus zu folgern, dass das europäische Terrain nicht der richtige Schauplatz dieser Auseinandersetzung gewesen sei. Es waren schließlich europäische Politiken und Machtverhältnisse, die die griechische Situation produziert haben! Die griechische Niederlage ist in Wahrheit eine Niederlage der europäischen Linken gewesen und verweist insofern auf die Notwendigkeit einer kontinentalen Offensive – nicht auf die Notwendigkeit einer Renationalisierung linker Strategie. Syriza steht für die Grenzen einer nationalen Offensive und die Schwäche der europäischen Linken – und nicht für die Grenzen des Kampffeldes Europa. So sehr wir in diesen Monaten das wahre Gesicht der EU gesehen haben, so wenig ist heute eine linke Offensive denkbar, die nicht einen transnationalen Charakter hat und die europäische Herrschaft attackiert. Auch die autoritäre Verfassung der EU ist kein hinreichender Grund für eine Abkehr von einer wahrhaft europäischen Initiative – es sei denn, man folgt einem verengten Politikbegriff, der sich auf institutionelle Politik beschränkt.
Ein strategischer Rückzug aus dem europäischen Raum hin zu einer – letztlich defensiven – Erneuerung nationaler Politiken ohne europäischen Horizont ist keine Antwort auf dieses Problem. Wir wollen nicht bestreiten, dass die nationale Dimension ein wichtiger Ort für Konflikte und Brüche darstellt. Um diese Konflikte und Brüche nicht bloß defensiv auszutragen, ist aber eine europäische Strategie unbedingt notwendig. Und das hängt nicht nur davon ab, dass die europäische Organisation der Macht effektiv herausgefordert werden muss. Es hat auch damit zu tun, dass die Integration der Wirtschaft und der Märkte auf europäischer Ebene dazu geführt hat, dass auch die Akkumulation des sozialen Reichtums transnationalisiert wurde. Ein Kampf um die Wiederaneignung dieses Reichtums – als Grundlage jeder linken Politik – kann letztlich nur auf dieser Ebene erfolgreich geführt werden. Natürlich geben die Erfolge der griechischen Bewegung auf nationalem Terrain auch einen wichtigen Hinweis darauf, dass die Situation der Kämpfe in Europa heterogen ist und dass die jeweiligen nationalen und lokalen Besonderheiten unterschiedliche Antworten erfordern. Verbleiben sie aber dauerhaft auf diesen Ebenen, sind sie nicht in der Lage, den Kern des neoliberalen Projekts zu attackieren.
Die griechischen Kämpfe haben in dieser Hinsicht nicht nur eine Niederlage erlitten, sondern auch eine neue Dimension des offenen Kampfes um Europa erschlossen. Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass die europäische Machtarchitektur in ungekanntem Ausmaß politisiert wurde. Das Schattendasein und die Ungreifbarkeit europäischer Herrschaft ist überwunden und einem neuen Bild gewichen, in dem politische und ökonomische Mächte jenseits der Nationalstaaten Namen und Adressen haben. Die Eliten Europas wurden aus den Berliner, Frankfurter und Brüsseler Hinterzimmern ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt. Insofern lässt sich durchaus davon sprechen, dass der griechische Frühling nicht nur eine Niederlage für die europäische Linke war, sondern auch eine neue Möglichkeit einer transnationalen politischen Initiative produziert hat – einer Initiative, die sich nicht mehr über den Umweg des Nationalstaates begründen muss, sondern die sich absehbar direkt auf europäischem Terrain austragen und zuspitzen lässt.
Die Verfassung Europas, die Demokratiefrage, ist auf diese Weise ein populäres Thema geworden. Die Krise der Repräsentation hat sich wirksam auf die Mechanismen und Institutionen der EU ausgeweitet. Die europäische Demokratiefrage erschließt sich heute unmittelbar (das zeigt nicht zuletzt das große Interesse an der DiEM25-Gründung). Sie stellt sich in einer Situation, die durch eine tiefe Krise und Veränderung der europäischen Machtkonstellation gekennzeichnet ist. Und sie stellt sich, weil in der griechischen Auseinandersetzung klar geworden ist, dass sie eigentlich eine unmittelbar europäische Auseinandersetzung war. Und das gleiche gilt für die Kämpfe der Migration und um Grenz- und Migrationspolitik, die unmittelbar nach der ›Lösung‹ der griechischen Krise einen neuen Höhepunkt hatten.
Die Bewegung der Geflüchteten und die Politik der Solidarität
Wechseln wir daher, wie angekündigt, zu diesem vermeintlich anderen Schauplatz der gegenwärtigen Kämpfe: Aus der Perspektive sozialer Bewegungen können wir nämlich ohne zu zögern sagen, dass die letzten Monate keinesfalls nur eine Phase der Resignation oder Niederlage gewesen sind. Vielmehr haben wir eine Bewegung der Geflüchteten und ihrer UnterstützerInnen erlebt, die auf ihrem Höhepunkt im Sommer der Migration in nur wenigen Tagen die Architektur der europäischen Abschottung temporär gestürzt hat. Eine Bewegung also, die nicht nur eine Mobilisierung war, sondern die tatsächlich Hunderttausenden etwas erkämpft und ermöglicht hat: vom Überqueren der Grenzen bis zur Versorgung mit Kleidung, Speisen und ärztlicher Hilfe. Sie hat reale Erfolge produziert. Und sie war, so sehr sie auch nationale Ausprägungen und Unterschiede hat, eine transnationale Erhebung im besten Sinne: über alle Grenzen hinweg. Das haben uns die Geflüchteten selbst gelehrt, durch ihre Mobilität und ihre Kämpfe, die den europäischen Raum als solchen herausgefordert haben.
Es war aber nicht nur die Entschlossenheit der Geflüchteten, die uns hat staunen und hoffen lassen. Es waren auch die unzähligen UnterstützerInnen und die unerwartet vielen entstandenen Netzwerke und Orte der Solidarität, die schon heute nicht mehr aus unserem politischen Koordinatensystem wegzudenken sind – sei es in Deutschland, in Ungarn oder in Griechenland. Der unerschöpfliche und unkonventionelle Einsatz von Hunderttausenden ist zwar ein spontanes, aber keineswegs ein unerklärliches Phänomen.
Es ist ein Kennzeichen der Kämpfe der letzten Jahre, dass Momente des Aufbruchs nicht um politische Programme zum Leben erwachen, sondern an Orten der sozialen Begegnung und der gelebten Solidarität. Das Gemeinsame zu schaffen, eine andere Subjektivität zu ermöglichen, ist immer auch und in erster Linie eine Frage der realen sozialen Beziehungen; etwas, das im Alltag und vor der eigenen Türe stattfindet und daher immer auch eine lokale Form haben muss. Solidarität ist alles andere als – wie oft behauptet – unpolitisch: Sie stellt die Vereinzelung des individuellen Schicksals genauso in Frage wie die Trennung zwischen „uns“ und den „Anderen“ und gibt damit auf der Ebene des Alltags eine gelebte Antwort auf die nationalistischen und rassistischen Spaltungen. In der praktischen und gelebten Solidarität liegt ein konkretes utopisches Moment. Der Sommer der Migration hat uns gezeigt, dass es immer eine Alternative gibt, wenn die Menschen sich zusammenschließen. Die Verallgemeinerung dieses Moments jenseits der Ausnahmesituation und der Geflüchteten geschieht mit Sicherheit nicht automatisch. Es ist alles andere als ein Zufall, dass viele der Solidaritätsstrukturen in Griechenland (auf die wir ja alle seit Jahren schauen) ihren Ursprung ebenfalls in der Geflüchteten-Solidarität haben.
Die Grenzen der Stadtteile
Ebenso wenig wie aus der Kapitulation der griechischen Regierung gefolgert werden kann, dass eine politische Initiative sich auf den Nationalstaat rückbesinnen muss, sollten uns die Erfahrungen des Sommers der Migration dazu verleiten, das Lokale als ausschließlichen Ort einer linken Strategie zu überhöhen. Wir müssen stattdessen fragen, wie sich eine organische Verbindung von lokaler Praxis (und ihrer Heterogenität) und einer transnationalen politischen Initiative herstellen lässt. Dies ist nötig um ihre Wirksamkeit zu erhöhen und das Gemeinsame jenseits der unmittelbaren Erfahrung zu verallgemeinern. Das ist keine Frage der „Politisierung“ im traditionellen Sinne des Wortes – vielmehr denken wir, dass es eines Prozesses gegenseitiger Stimulation bedarf. Wie können das ›konkrete Gemeinsame‹, die neuen sozialen Beziehungen, die alltägliche Solidarität übersetzt werden in eine transnationale politische Initiative, ein ›abstraktes Gemeinsames‹?
Die Frage der produktiven Überschreitung des lokalen Horizonts stellt sich aber nicht nur auf Grund der potenziell größeren Wirksamkeit einer politischen Initiative, die den Raum des Lokalen überschreitet. Provokativ und zugespitzt können wir behaupten, dass in Europa heute die lokale Dimension als solche nicht mehr existiert. Das erfahren die Solidaritätsinitiativen der Geflüchteten und MigrantInnen in jedem Stadtteil, wenn sie einerseits mit den Auswirkungen und der Krise des europäischen Grenzregimes konfrontiert sind, andererseits mit Migrationsbewegungen, die die Frage der Beziehung von Europa zu seinem ›Außen‹ auf einmal in seinem ›Innen‹ mächtig und dramatisch stellen (das ist die große postkoloniale Frage, die auf diese Weise auch in Europa gestellt wird!). Aber das Gesagte bezeichnet auch die Erfahrung jeder kommunalen Linksregierung, die sich mit Mächten und Grenzen auseinandersetzt, deren Grundlagen weit über jede lokale Dimension hinaus bestehen.
So bizarr es klingt: Früher oder später stoßen auch vermeintlich lokale Kämpfe auf die Frage einer europäischen Strategie – es sei denn, sie reduzieren sich selbst auf diejenigen Fragen, die tatsächlich im lokalen Raum ausgetragen werden und lassen damit die grundsätzliche Architektur des Krisen- und Migrationsregimes unangetastet. Weder die Niederlage der griechischen Regierung, noch die Erfolge der lokalen Initiativen können also die Notwendigkeit einer europäischen Offensive in Frage stellen. Im Gegenteil: Sie machen diese Notwendigkeit dringender denn je!
Lokal, national, transnational: Kampffeld Europa
Fassen wir zusammen: Die Entwicklung eines gemeinsamen europäischen Horizonts der Kämpfe steht vor mehreren Herausforderungen. Er muss die zentrale Bedeutung der europäischen Ebene politisch vermitteln, die Kluft zwischen der „realen“ Erfahrung alltäglicher Solidarität und einer „abstrakten“ politischen Konstruktion schließen und eine Antwort auf die Heterogenität sozialer Kämpfe finden, die dieser angemessen ist und zugleich auf die Homogenität der transnationalen neoliberalen Prozesse antwortet.
Wie aber können die objektiven Grenzen nationaler und lokaler Kämpfe erfolgreich überwunden werden? Wir sind uns darüber klar, dass die Beantwortung dieser Fragen nicht die Homogenisierung von Bewegungen oder die Ignoranz gegenüber der extremen Fragmentierung des europäischen Raums bedeuten kann.
Die Kluft zwischen der Heterogenität der Kämpfe und der europäischen Dimension konkret zu politisieren, ist vielmehr die grundlegende Aufgabe in der gegenwärtigen Situation, die darüber hinaus durch eine anwachsende geographische Fragmentierung gekennzeichnet ist. Gerade angesichts dieser Heterogenität und Fragmentierung stellt die europäische Dimension nach wie vor den wesentlichen Kristallisationspunkt dar, um dem Regime, das unsere Leben beherrscht und strukturiert, angemessen zu begegnen. Und in dieser Dimension, die zu durchdringen vielleicht eine komplexe und „abstrakte“ Aufgabe ist, stoßen wir auf die Ursachen unserer alltäglichen und konkreten Probleme. Es ist das europäische Krisenregime, das unseren Alltag bestimmt und durchdringt.
Es ist daher auch die europäische Dimension, auf der perspektivisch eine kollektive Verfügung über die materiellen Bedingungen unseres Alltagslebens, ein neues System der Gegenmächte erfunden und etabliert werden muss. Wie können wir eine Idee davon bekommen, in welche Richtung die Suche nach solch einem Projekt gehen kann?
Der demokratische Aufstand
Wir denken, dass die Aufstände der letzten Jahre – ob im arabischen oder europäischen Raum – eine unmissverständliche Richtung anzeigen, wie eine gemeinsame politische Artikulation von verschiedenen sozialen Kämpfen und Initiativen aussehen kann. Ein gesellschaftlicher Antagonismus wird sich heute in Europa um Fragen der Demokratie artikulieren.
Aber was heißt heute Demokratie? Kann die Demokratiefrage einfach als eine Frage von formalen Verfahren, konstitutionellen Garantien und politischer Repräsentation verstanden werden? Bedeutet ein demokratischer Aufstand in Europa, dass er sich erschöpft in der Hoffnung auf eine Demokratisierung der EU? Wir denken, dass dies nicht der Fall ist. Die Entleerung der repräsentativen Demokratie nimmt heute in Europa besonders dramatische Züge an. Das heißt nicht, dass politische Repräsentation und Wahlprozesse nicht mehr bedeutende Kampfplätze bilden können (und auf eine paradoxe Weise eine neue politische Bedeutung bekommen). Aber sowohl die griechische Erfahrung wie diejenige einer Großstadt wie Barcelona demonstrieren, dass selbst die Eroberung einer nationalen oder kommunalen Regierung eine Situation produziert, in der die repräsentativen Institutionen unmittelbar an die Grenzen ihrer Aktionsfähigkeit stoßen. Die Demokratiefrage stellt sich heute um und gegen diese Grenzen.
Das heißt, dass Demokratie heute nur als Überschuss, als Überschreitung dieser Institutionen von innen wie von außen, verstanden werden. Es geht um einen vielfältigen, auch in sich konfliktiven Prozess ihrer Demokratisierung. So verstanden ist die Kombination von heterogenen (institutionellen wie außerinstitutionellen) Akteuren und Formen die entscheidende Bedingung, um die Demokratiefrage auf wirksame und innovative Weisen zu stellen. Die notwendige Hybridität dieser Akteure entspricht einer Lage, in der die traditionelle Arbeitsteilung zwischen Partei, Gewerkschaft und sozialen Bewegungen durch die neuen Formen der kapitalistischen Entwicklung radikal in Frage gestellt wurde. Herausgefordert und in Frage gestellt wird dabei nicht nur die politische Repräsentation des ›Volkes‹, sondern auch die spezifische Form der Repräsentation der »Arbeiterklasse«, die die Entwicklung und Expansion der Demokratie im Zeitalter des Fordismus und Wohlfahrtstaates getragen hat.
Demokratie und Klassenkampf
Durch die politische Enteignung bedeutender Teile der heutigen Arbeit (von MigrantInnen zu Prekarisierten), die Fragmentierung der Arbeitsverträge und die Durchdringung der sozialen Kooperation durch das Finanzkapital, ist das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit zunehmend jeder demokratischen Vermittlung entzogen. Eine Repolitisierung dieses Verhältnisses ist die materielle Bedingung für eine ›demokratische Neuerfindung‹. In diesem Sinne lässt sich sagen, dass die Demokratiefrage mit der Frage einer neuen politischen Artikulation des Klassenkampfes einhergeht. Die Aufstände der letzten Jahre benötigten keine ausgearbeitete Theorie, um diesen Zusammenhang intuitiv zu erkennen.
Diese Verbindung von Demokratie und Klassenkampf weist auf die Notwendigkeit hin, die Bildung von gesellschaftlichen Mehrheiten und sozialen Koalitionen mit dem Konflikt und mit den Brüchen zu verbinden, die unausweichlich sind, um neue Räume für das Gemeinsame schaffen zu können. Wenn man von einem solchen Modell der sozialen Koalition ausgeht, kann man beginnen, die Frage einer europäischen Strategie der Linken auf einer anderen Grundlage zu stellen. Die europäische Dimension ist nicht abstrakt und eine europäische Strategie kann nicht auf die Organisation von europäischen Kampagnen und Aktionstagen reduziert werden. Sie sind nach wie vor strategisch wichtig, müssen aber in den materiellen Zusammenhang einer europäischen Strategie gestellt werden, die sich auf eine Vielheit von Ebenen bezieht.
Eine europäische Kampagne
Eine neue europäische Strategie der Linken muss zunächst dazu fähig sein, die europäische Dimension von lokalen Erfahrungen und Kämpfen hervorzuheben und politisch zu interpretieren. Die Produktion von Resonanzen, die über die bloße Vernetzung hinausgeht – vom systematischen Austausch von Kenntnissen hin zur Bildung von Netzwerken von »rebellischen Städten« – kann die Grundlagen für gemeinsame europäische Kampagnen bilden, hinter denen die Materialität einer alltäglichen Politik steht und die deshalb dazu fähig sein können, die europäischen Institutionen direkt und wirksam anzugreifen. Diese politische Form existiert nicht, sie muss erfunden werden! So wichtig in dieser Hinsicht lokale Initiativen und ihre Koordinierung sind, so wenig kann sie aus ihrer bloßen Addition entstehen. Wir haben für diese Frage keine Lösung anzubieten, wollen aber nachdrücklich auf der Notwendigkeit dieser Suche nach einer erneuerten politischen Form bestehen. Die verschiedenen transnationalen Projekte wie Blockupy und DiEM25 sind Orte einer solchen Suche.
Blockupy und DiEM25 (als beispielhaftes Verhältnis von aktivistischen und zivilgesellschaftlichen Feldern) markieren die Pole eines neuen Spannungsgefüges, innerhalb dessen die demokratische Frage in Europa neu gestellt werden kann – in der Perspektive eines demokratischen Aufstandes, in dem andere (lokale wie nationale und europäische) Akteure wesentliche Rollen spielen müssen. Der Zeithorizont von DieM25, also eine Perspektive der nächsten zehn Jahre, erscheint uns dabei ebenso richtig, wie gleichzeitig klar sein muss, dass es für Gelassenheit keinen Anlass gibt. Die Frage der Geflüchteten stellt in dieser Hinsicht die aktuell wesentliche Herausforderung und Aufgabe dar, an der sich die Produktivität einer europäischen Initiative messen lassen muss. In diesem Fall sind wir mit einer vielstimmigen und realexistierenden sozialen Bewegung konfrontiert, die gleichzeitig die Frage der neuen Qualität des sozialen Zusammenlebens in unseren Städten und die Frage der Verweigerung des Krieges an den Grenzen Europas und über sie hinaus auf eine radikale, postkoloniale Weise stellt. Auf diese Weise stellt sich die Frage globaler Gerechtigkeit – was auch „Fluchtursachen“, die „imperiale Lebensweise“ oder europäische Außenpolitik einschließt – ganz unmittelbar in den Metropolen, wo die Grenzen Europas tagtäglich überschritten werden.
Eine europäische Kampagne im Spannungsfeld zwischen aktivistischer Rebellion und zivilgesellschaftlicher Intervention könnte die Bedingungen schaffen, um aus der Solidarität und den Kämpfen der Geflüchteten selbst eine politische Offensive zu begründen. Auf der Grundlage bestehender Erfahrungen und Vorschläge kann um die Fragen der Bewegungsfreiheit, des Rechts auf Stadt, der sozialen Rechte und der Grenzen Europas ein Programm konkreter Ziele und Maßnahmen formuliert werden. Die Bildung von städtischen Koalitionen, Aktionstage in Städten und an den Grenzen, regionale und nationale Mobilisierungen könnten die Möglichkeit bieten, die Organisation des Widerstands mit einer Offensive auf dem Gebiet der konstituierenden Macht zu artikulieren. Das heißt, dass das Ziel einer solchen Kampagne nicht die bloße Koordinierung des Widerstandes sein sollte, sondern die Vervielfältigung von „positiven“ Inhalten der schon existierenden Kämpfe und der Erfahrungen der Solidarität, ihre Verdichtung in einem Bild und, darüber noch hinaus, in ersten Institutionalisierungen eines anders werdenden Europas. Einen europäischen Aktionstag in Berlin nach einer solchen Kampagne zu organisieren, wäre dann sicherlich alles andere als eine abstrakte Weise, die europäische Frage auf den Straßen zu stellen!
Multiple Krise der EU und die Rückkehr der Nation
Wir sollten uns klar machen: Eine neue europäische Initiative der Kämpfe ist dringend notwendig. Wir befinden uns in einer Lage, in der die EU durch die Verkettung von multiplen Krisen einen Prozess der tiefen Fragmentierung erlebt. Man spricht nicht ohne Grund von einer Tendenz zu ihrer Desintegration. Es ist eine Tatsache, dass die EU, so wie wir sie in den letzten zwei Jahrzehnten gekannt haben, vor einer existenziellen Krise steht. Die Uneinigkeit und Planlosigkeit der Herrschenden betrifft etwa die Restrukturierung des Grenzregimes, aber auch zukünftige Integrationsschritte. Dabei entstehen neue Spaltungen und existierende vertiefen sich, nicht nur diejenige zwischen Nord und Süd, sondern auch diejenigen zwischen Ost und West oder der Konflikt um Großbritannien.
Das ist das Szenario, in dem neue und alte Rechte in vielen europäischen Ländern erstarken und die etablierten nationalen wie europäischen Mächte unter Druck setzen. Im Namen der nationalen Souveränität und des ›Volkes‹ wird dadurch die Demokratiefrage nationalistisch entstellt und politisch neutralisiert. Die Stunde der Nationen scheint wieder geschlagen zu haben in Europa. Die Europäische Union würde sicherlich durch eine weitere Intensivierung der Renationalisierungsprozesse tiefgreifend verändert. Diese Prozesse stellen aber den neoliberalen Kern der europäischen Politiken nicht in Frage. Sie deuten vielmehr auf das Entstehen von neuen Kombinationen von Neoliberalismus und Nationalismus hin, die eine weitere Hierarchisierung und Verarmung der europäischen Gesellschaften bedingen werden, neue Formen der sozialen Disziplinierung herbeiführen und Räume für noch mehr Rassismus, Angst, Ausgrenzung und soziale Spaltung eröffnen würden.
Dagegen müssen wir europäisch kämpfen und rebellieren. Bleibt die nationale Ebene ein wesentlicher Schauplatz der politischen Initiative, muss man sich gleichwohl klar darüber sein, dass in Europa im Rahmen des Nationalstaates kein linker Plan B gelingen kann. Nationale politische Entwicklungen können Teil einer neuen Strategie der Linken sein – aber nur, wenn sie unmittelbar die europäische Frage stellen, d.h. wenn sie darauf zielen, einen Bruch auf kontinentaler Ebene zu produzieren. Ebensowenig wie die transnationale Macht des Finanzkapitals können die Kräfte des Nationalismus und des Faschismus auf der Grundlage einer nationalen (und sogar einer traditionellen »internationalistischen«) Politik geschlagen werden. Jede linke Tendenz der Renationalisierung verstärkt diese Kräfte – sowie die Herausbildung einer nationalistischen und autoritären Sozialdemokratie, wie wir sie derzeit in Frankreich und Deutschland beobachten können.
Unterm Himmel des Interregnums
Wir leben in einer Zeit, die von vielen im Rückgriff auf Gramsci als »Interregnum« bezeichnet wird. Das Interregnum ist durch spezifische Gefahren, aber auch durch eine konstitutive Öffnung gekennzeichnet. In dieser Lage denken wir, dass die demokratische Frage, so wie wir sie hier beschrieben haben, den entscheidenden Kampfplatz in Europa bildet. Dabei haben wir zu zeigen versucht, dass diese Frage heute nicht mehr im Rahmen der traditionellen Lehre und Praxis der repräsentativen Demokratie und ebenso wenig im Rahmen der traditionellen linken Politik (ob ›radikal‹ oder ›reformistisch‹) gestellt und gelöst werden kann.
Durch den Hinweis auf die Kombination von Demokratie und Klassenkampf haben wir die notwendige ›Bewegungsseite‹ jeder demokratischen Erfindung in Europa hervorgehoben (und wir haben auch darauf hingewiesen, dass das Subjekt dieser Bewegung kein schon konstituiertes ›Volk‹ sein kann). Um es ganz einfach zu sagen, Demokratie heißt heute die Bildung einer kollektiven Macht, die dazu fähig ist, unser gemeinsames Leben in die Richtung von Gleichheit, Freiheit und Solidarität zu verändern. Dies ist nicht möglich ohne soziale Kämpfe und Mobilisierung, ohne den ›demokratischen Aufstand‹.
Diese Kombination von sozialen Kämpfen und kollektiver Macht auf die europäische Dimension zu projizieren, ist die wirkliche Machtfrage, mit der wir heute konfrontiert sind. Die notwendige europäische Initiative muss vor dem Hintergrund dieser Frage entwickelt werden – innerhalb und außerhalb Europas, in und gegen die EU, in den Parlamenten und auf der Straße. Nur eine Vielfalt von Brüchen und Allianzen, die Erfindung von neuen politischen Formen – an einer Vielzahl von Orten intensivierter Rebellion gegen Neoliberalismus und Nationalismus – können die Bedingungen für Erfolge auf europäischer Ebene schaffen. In der Zeit des Interregnums kann das Spannungsfeld von Aktivismus und zivilgesellschaftlicher Polarisierung den Rahmen für die Bildung eines europäischen Blocks bieten, der sich dann auf den verschiedenen Ebenen der politischen Initiative artikulieren muss. Ein Block, der in seinen vielfältigen Erscheinungsformen ein einheitliches Ziel besitzt: die Eröffnung einer Offensive gegen das neoliberale Regime der Angst, Verzweiflung und Vereinzelung in Europa. Die erste Bedingung einer solchen politischen Strategie aber bleibt, wie eh und je, der rebellische Ungehorsam. Ohne Rebellion keine Strategie.