"Das Gericht muss verstehen, dass die Shoah zwar vorbei, aber weiter wirksam ist", forderte die Rabbinerin Rebecca Blady, die am 9. Oktober 2019 in der Synagoge in Halle während eines antisemitischen Anschlags mit 50 weiteren Gläubigen um ihr Leben fürchtete. Mit dem Attentat und seiner gerichtlichen Aufarbeitung wird die von Blady beschworene Gegenwart der Shoah und anderer deutscher Massenverbrechen überdeutlich. Eine Gegenwart, die auch die 247 Stolpersteine zum Gedenken an während der Nazi-Zeit ermordete Bürger*innen der Stadt dokumentieren. Einige davon in der unmittelbaren Umgebung der Synagoge in der Humboldtstraße im Paulusviertel.
Zwar scheiterte der fanatische Attentäter zum Glück mit dem Angriff auf die Synagoge, aber in dessen Verlauf erschoss er eine zufällig vorübergehende Passantin, die vierzigjährige Jana L., kaltblütig und hinterrücks. Auch in der Ludwig-Wucherer-Straße, unweit des ersten Anschlagsortes und wohin der Attentäter sich als nächstes wandte, sind Stolpersteine verlegt, einer für den aus Krakau stammenden Uhrmacher Herman Lewit, der am 19. November 1939 im KZ Buchenwald ermordet wurde. Er hatte in der Ludwig-Wucherer-Straße 11 gelebt. Ein Haus neben dem Gebäude, der Nummer 12, in der heute der «Kiez Döner» zu finden ist. Im «Kiez-Döner» erschoss der Attentäter einen weiteren Menschen, den 20-jährigen Kevin S.
Und auch über den Anschlag von Halle hinaus verbinden Erinnerungszeichen im öffentlichen Raum nicht nur mit den historischen Menschheitsverbrechen der Deutschen, sondern auch mit der Vielzahl rassistischer Anschläge der allerjüngsten Zeit. So gibt es etwa einen Kilometer von der Synagoge in Richtung Hauptbahnhof entfernt, auf dem Gehsteig vor dem Haus Magdeburger Straße 24 weitere Stolpersteine, hier für sieben Kinder, die zwischen 1940 und 1942 in der hiesigen Frauenklinik geboren und als Kleinkinder im Laufe des Jahres 1943 im «Zigeunerlager» von Auschwitz-Birkenau ermordet wurden: Josef, Karl, Mala und Reinhold Bello, Marianne Geisler, Johannes Lauenburger und Franz Petermann.
Auch hier geht eine Linie durch Zeit und Raum ins heutige Deutschland, wo beim Nazi-Anschlag im Münchener Olympia-Einkaufszentrum am 22. Juli 2016 neun Menschen ermordet wurden, sieben von ihnen Muslim*innen unterschiedlicher Nationalität und ein Rom und ein Sinto. Und auch in Hanau, wo ein rechter Täter am 19. Februar 2020 ebenfalls neun junge Menschen mit familiären Migrationsgeschichten ermordete, waren zwei Roma unter den Opfern. Halle steht auch im – immer enger werdenden – zeitlichen Zusammenhang mit den Taten der NSU-Täter*innen (2000 – 2007), den faschistischen, antisemitischen und rassistischen Anschlägen in Oslo und Utøya (Juli 2011), Charleston (Juni 2015), Pittsburgh (August 2018), Christchurch (März 2019), Kassel (Juni 2019), Poway (April 2019), El Paso (August 2019) usw. Ein weiterer antisemitischer Angriff wenige Tage vor dem Jahrestag von Halle ereignete sich am 4. Oktober in Hamburg: ein Kippa tragender junger Mann wurde vor der Synagoge Hohe Weide von einem Angreifer in Camouflage mit einem Klappspaten schwer verletzt.
In der Halleschen Synagoge waren am 9. Oktober vor einem Jahr 50 Gläubige versammelt, um gemeinsam Jom Kippur, den höchsten jüdischen Feiertag, zu begehen. Als klar war, dass der Angriff vor der Synagoge, den sie über eine Überwachungskamera mitbekamen, ihnen galt, verrammelten sie die Türen, die meisten von ihnen flüchteten in das obere Stockwerk des Gebäudes. Für Stunden der Unklarheit bangten die Halleschen Gemeindemitglieder und ihre Gäste von der englischsprachigen Gruppe «Base Berlin» um ihr Leben. Die Rabbinerin Rebecca Blady von «Base Berlin» war zudem von ihrer kleinen Tochter getrennt, die draußen mit einer Babysitterin unterwegs war.
Im Prozess gegen den Täter, der am 21. Juli 2020 vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Naumburg begann – aus Platzgründen im Saal C24 am Landgericht in Magdeburg – hat Blady unterdessen ausgesagt. Was von ihr zu hören war, hätte nicht deutlicher machen können, was die Vergangenheit von Shoah und Verfolgung mit dem Attentat und dem heutigen Deutschland zu tun hat. Die 30-jährige Rabbinerin berichtete von einem Telefonat mit ihrer Großmutter Olga, einer 91-jährigen Holocaust-Überlebenden in New York, das sie zwei Tage vor ihrer Aussage geführt hatte und in dessen Verlauf diese ihr die Geschichte ihrer Trennung von der Mutter 1944 in Auschwitz noch einmal erzählte. Es war dort der KZ-Arzt Josef Mengele selbst, der während der so genannten Selektion an der Rampe im Vernichtungslager Olga und ihre beiden Schwestern von der Mutter trennte. Er habe der Mutter, die ihren Kindern noch ein Brot zustecken wollte, auf den Kopf geschlagen, habe ihr die Großmutter erzählt. Ihre Mutter Dreizel sei in der Gaskammer ermordet worden. Und auch von ihrem weiteren Schicksal habe ihr die Großmutter erzählt, sagte Blady in Magdeburg aus: sie sei von Auschwitz zur Bombenräumung nach Gelsenkirchen und Essen verschleppt und dann im KZ Bergen-Belsen, dem Tode nah, befreit worden.
Blady erklärte, ihre Aussage vor Gericht habe das familiäre Trauma wachgerufen und im Zustand des Getrenntseins von ihrer eigenen Tochter in den Stunden der Angst eine Retraumatisierung bedeutet. Und: «Meine Großmutter sagte mir ausdrücklich, ich soll alles erzählen. Sie hatte dazu nie Gelegenheit vor einem deutschen oder internationalen Gericht. Ich habe diese Gelegenheit nun. Das Gericht muss verstehen, dass die Shoah zwar vorbei, aber weiter wirksam ist.»
Dass die Vernichtungsideologie des deutschen Faschismus, ein eliminatorischer Judenhass und tödlicher Rassismus in diesem Land weiter abrufbar und wirksam sind, hatte schon die quälende Befragung des Angeklagten, eines gelehrigen Schülers des «Reichsführers SS und Chefs der deutschen Polizei», Heinrich Himmler, an den ersten Prozesstagen gezeigt. Er hatte den monströsen Plan, in die dortige Synagoge einzudringen und so viele jüdische Menschen zu ermorden, wie ihm mit seinem zum Teil selbst gebauten Waffen- und Sprengmittelarsenal gelingen würde. Glücklicherweise ging alles schief. Was er sich als heldischen Gewaltakt zur Rettung der «weißen Rasse» vorgestellt hatte und – in bewundernder Anlehnung an den Massenmörder im neuseeländischen Christchurch, der dort am 15. März 2019 in zwei Moscheen mit automatischen Waffen 50 Menschen ermordete und 51 weitere zum Teil lebensgefährlich verletzte – mit einer Helmkamera live ins Internet streamte, geriet ihm zu einem aus seiner Sicht vermasselten Egoshooter-Spiel. An dessen Ende waren zwei Menschen tot, einige schwer verletzt und Dutzende schwerst traumatisiert. Den Täter ärgert nur, dass er auf ganzer Linie «geloost» hat. Sein einfältiger Fanatismus bestimmt die ersten Tage vor Gericht.
Zwar gelingt es der Vorsitzenden Richterin Ursula Mertens, den vor Selbstdarstellungsdrang berstenden Angeklagten mit kleinteiligen Fragen aus dem Konzept zu bringen, welches vermutlich auf eine Volksrede hinausgelaufen wäre, in der er seinen Feldzug gegen die Feinde der «weißen Rasse» verkündigt hätte. Mertens fragte seinen Furor klein und nötigte ihn, Rede und Antwort zur persönlichen Entwicklung und kindlichen Prägung zu stehen. Wo immer er versuchte, Versatzstücke seiner Ideologie zu platzieren, verbat sie ihm rassistische Ausdrücke und nötigte ihn so, gegen seine Gewohnheit von «Schwarzen» zu sprechen, wo er seinen Hass auf dunkelhäutige Menschen in rassistische Worte kleiden wollte. Doch sowohl das Tatvideo als auch sein im Internet kursierendes Manifest, die im Gericht zur Kenntnis oder in Augenschein genommen wurden, und auch die eine oder andere seiner Äußerungen im Gerichtssaal dokumentieren ein schlichtes Weltbild, in dem die «Weißen» mit dem Rücken zur Wand stünden und sich mit allen Mitteln gegen die perfiden Verschwörungen ihrer Feinde zur Wehr zu setzen hätten.
Ein Satz im Video des Täters enthält alles, was man über das verdrehte Opfernarrativ wissen muss, er lautet: «Der Feminismus ist der Grund für die fallenden Geburtenraten, die als Ausrede für die Masseneinwanderung herhalten müssen, die Wurzel aber all dieser Probleme ist der Jude.» In dieser Hierarchie der Feinde, gegen die der Täter glaubt, in einer Art Notwehr «vorgehen» (so seine Wortwahl) zu müssen, kommt nach dem Hass auf alles Jüdische, der Hass auf Frauen, auf Einwanderer*innen generell und – etwas weiter unten im Manifest – Muslim*innen im besonderen, auf Schwarze Menschen und auch auf Kommunist*innen, Antifa und Linke.
Allerdings ist die Befragung des Angeklagten auch davon geprägt, dass die Vorsitzende und einige wenige Nebenklageanwält*innen immer wieder versuchen, den zur Tatzeit 27-jährigen Attentäter, der seit Jahren in seinen jeweiligen Jugendzimmern bei den getrennt lebenden Eltern hauste und seine aberwitzigen Pläne schmiedete, von seinem «Irrweg» abzubringen und argumentativ zu überzeugen, dass man doch «Juden» als solche gar nicht erkennen könne. Dass es sich beim Angeklagten um einen eingefleischten Rassisten und fanatischen Judenhasser handelt, einen erbarmungslosen Nazi, der über das Internet mit einer Welt von Verschwörungs- und Vernichtungsfantasien in Verbindung steht, in der die Bedrohung der «weißen Rasse», der «Bevölkerungsaustausch» und die «Umvolkung» bis hinein in die Echokammern der AfD und ihresgleichen oder bei vielen Teilnehmenden an den so genannten Hygienedemos «Realität» ist, hält Mertens nicht davon ab, ihn wie ein verirrtes Schäfchen von seinem Unrecht überzeugen zu wollen. So sinniert sie einmal, er hätte doch wirklich mal, etwa am Tag des offenen Denkmals, eine Synagoge besuchen können und tatsächlich etwas über die Juden lernen können.
Dass die so Fragenden bei dem Gewalttäter, der keine Gelegenheit auslässt, seinen mörderischen Judenhass herauszuposaunen, nicht durchdringen mit dieser Pädagogik des Verständnisses, scheint sie wenig zu stören. Es ist dann der Geschäftsführer der jüdischen Gemeinde zu Halle, Max Privorozki, der als Zeuge gefragt, warum er sich zur Nebenklage entschlossen habe, meint, er könne sich nicht vorstellen, dass die jahrelange, mit Blick auf die Waffen und Sprengsätze aufwändige Vorbereitung der «Operation» am 9. Oktober 2019 habe vonstatten gehen können, ohne dass die Eltern etwas davon mitbekommen hätten. Tatsächlich hat die Mutter des Täters einige Spezialgeräte wie Bohrer, die der Sohn für seine «Spielerei» (so der Vater über den 3-D-Drucker, mit dem er einige seiner Waffen herstellte) brauchte, mit ihrer Kreditkarte bezahlt.
Überhaupt die Mutter: Wie bejahend das Umfeld zu seinem ideologischen Hass stand, kam in mehrfacher Hinsicht fast zufällig heraus, als es um die Familie des Angeklagten ging. Offenbar hatte eine immerhin verzweifelte Mutter am Tage des Anschlags versucht, sich das Leben zu nehmen, und deshalb einen Abschiedsbrief an ihre Tochter geschrieben. Der Brief kam mit der Razzia im Hause des Attentäters zu den Beweismitteln des Ermittlungsverfahrens und dokumentiert, dass es der Mutter in ihrer vermeintlich letzten Stunde noch wichtig war, ihren eigenen Judenhass mit recht wirren, aber eindeutigen Sätzen und auch Zeichnungen festzuhalten. Sie malte mehrere Davidsterne auf das Papier und strich sie durch, ihr Sohn habe «sein Leben gegeben – für die Wahrheit – für euch», es aber nicht geschafft, da «die Juden freie Hand hatten». Die Mutter war Grundschullehrerin für Deutsch, Englisch und Ethik. Von eben der Tochter hat sie auch schon mal CDs von rechten Bands wie «Freiwild» und «Böhse Onkelz» geschenkt bekommen, wie der Ex-Schwiegersohn berichtete. Aber auch er kommt aus der Nazi-Szene, wie er auf Nachfrage der Nebenklage einräumen musste und schon wegen einiger YouTube-Videos schwer leugnen konnte. Eine ganz normale deutsche Familie.
Mit dem Prozess in Magdeburg hat nun eine Aufarbeitung des Geschehens begonnen, die in vielfacher Hinsicht ungewöhnlich und beeindruckend ist. Seit dem 8. Prozesstag sprechen die Überlebenden und greifen mit ihrem Entsetzen und ihrer Erinnerung Raum im Gerichtssaal. Ein ums andere Mal bekommen die Zeug*innen für ihre Berichte spontanen Applaus aus dem Zuschauerraum und dem Bereich, wo die über 40 Nebenkläger*innen und ihre juristischen Vertreter*innen sowie Vertrauenspersonen der Betroffenen sitzen. Die Richterin interveniert halbherzig, droht schlaff ein Ordnungsgeld für den Wiederholungsfall an. Unterdessen sind stehende, aber schweigende Ovationen an die Stelle der lauten Zustimmung getreten. Im Saal C24 wird den Betroffenen zugehört. Aber auch vor dem Gerichtsgebäude findet an jedem Prozesstag eine Dauerkundgebung statt, die sich lautstark unter anderem gegen die notorische Einzeltäter-These bei Attentätern wie dem von Halle wendet.
Rebecca Bladys Ehemann, der Rabbiner Jeremy Borovitz, hatte wie die meisten anderen Zeug*innen, die den Angriff in der Synagoge erleben mussten, vom ungeheuerlichen Umgang der Polizei mit den Betroffenen erzählt. Es habe keinerlei Zuneigung für die Menschen in der Synagoge gegeben, so Borovitz. Sie seien wie Verdächtige behandelt worden, man habe ihnen zunächst nicht gestattet, das koschere Essen bei der Evakuierung mitzunehmen, dann hätten sie die Mahlzeit portionieren und an alle Gemeindemitglieder verteilen müssen. Danach seien sie für eine Stunde in einen Bus gesetzt worden, in dem sie ohne Sichtschutz den Kameras der Medienleute ausgesetzt gewesen seien. Schließlich seien sie in ein Krankenhaus abtransportiert worden, wo sie zwar auf das Liebenswürdigste vom Krankenhauspersonal umsorgt, dann jedoch bei der Verrichtung des letzten Gebets des Jom-Kippur-Tages erneut von einem Polizisten unterbrochen worden seien, der mit ihnen eine Nachbesprechung abhalten wollte. Ein Krankenhausmitarbeiter habe das verhindert. Es sei ein höchst befremdliches Gefühl gewesen, wie zwei Deutsche da über ihr weiteres Schicksal debattiert hätten, erklärte der Geistliche.*
So beeindruckend wie bedrückend waren die Bezugnahmen aller Betroffenen auf die beiden Getöteten. «Ich komme nicht darüber hinweg, dass zwei Menschen tot sind, weil ich nicht erschossen wurde; es wäre mir lieber gewesen, er hätte auf mich geschossen; ich kann ihm verzeihen, dass er versucht hat mich zu töten, aber nicht, dass er statt dessen zwei andere Menschen getötet hat», sagte die Studentin Joana B. Im Verfahren und in der Zeit unmittelbar nach dem Anschlag hatten die sehr unterschiedlichen Opfergruppen, die der Attentäter angegriffen hatte, sich verständigt und Kontakt aufgenommen. Gespräche untereinander und gemeinsame Teilnahme an Kundgebungen gegen rechten Terror, Rassismus und Judenhass gehören zu den erstaunlichen Entwicklungen nach dem 9. Oktober vergangenen Jahres und gipfelten darin, dass Rabbinerin Blady ihre Aussage vor Gericht ihrer in Auschwitz ermordeten Urgroßmutter Dreizel und den beiden in Halle getöteten Menschen, Jana L. und Kevin S., widmete.
Aber auch der Zorn einiger Betroffener wird spürbar: Naomi H., 29-jährige Rabbinerin in Ausbildung, deren Familie deutsche Wurzeln bis ins 17. Jahrhundert gehabt und viele Angehörige im Holocaust verloren habe, ärgert sich unter anderem über die zitierte Aussage der Vorsitzenden, der Attentäter hätte am Tag des Denkmals mal in eine Synagoge gehen sollen, denn darin schwinge mit, «dass für viele Deutsche das Judentum etwas Ausgestorbenes» sei. Auch die Lobpreisung der Eichenholztür, die die Menschen in der Synagoge vor dem Attentäter geschützt habe, rufe nicht die betroffenen Jüd*innen auf, sondern einen guten Deutschen, den Schreiner, der jüdische Leben geschützt habe: «Diese Erzählung lenkt von dem ab, was wirklich passiert ist.» Auch wenn sie sich bisweilen frage, was sie in diesem Land noch mache, wolle sie Brücken und in einer offenen Gesellschaft jüdisches Leben aufbauen, sagte sie.
Die meisten Menschen, die der Täter angriff und zum Teil schwer verletzte, leiden seit der Tat unter schweren Traumata, Angstzuständen und psychischem Stress, Schlaflosigkeit oder Panikattacken im öffentlichen Raum. Die Mutter der ermordeten Jana L. hat ihre Nebenklage zurückgezogen, weil sie sich nicht in der Lage sieht, vor Gericht zu erscheinen. Ein Arbeitskollege von Kevin S., der sich für den Malerlehrling mit der Lernbehinderung besonders verantwortlich gefühlt hatte, kann ohne Begleitung seine Wohnung nicht mehr verlassen und leidet unter schrecklichen Schuldgefühlen, weil er ja mit Kevin in der Mittagspause in den Döner-Imbiss gegangen war. «Hätte ich meine Bemmen nicht zuhause vergessen, wäre alles anders gekommen», gab er bei einer Vernehmung zu Protokoll.
Zu den niederschmetterndsten Momenten im Verfahren gehörte die Aussage des Vaters des besonders schutzbedürftigen Kevin S. Von Schluchzen geschüttelt berichtete er von dem Tag, an dem sein Sohn, auf den er so stolz war, erschossen wurde. Er habe ihm erlaubt, zu Mittag einen Döner zu essen, doch dann – anders als üblich – nichts mehr von ihm gehört. Er habe den ganzen Nachmittag versucht, den Jungen ausfindig zu machen, Freunde angerufen, die Polizei, habe auf Facebook gepostet – nichts. Noch um sechs wusste er nicht, was geschehen war, obwohl die Polizei längst wusste, wer der Tote war. Man hatte ihn und seine Frau noch nicht benachrichtigt. Dann geschah noch etwas Fürchterliches: ein unbedachter Bekannter des Vaters sandte ihm mit den Worten «Schau das mal an!» einen Link zum Tätervideo, auf dem der Vater dann die grausame Ermordung seines Sohnes mit ansehen musste.
Auch die Inhaber des «Kiez-Döners», die Brüder İsmet und Rıfat Tekin, die vier weiteren Kunden, die zum Zeitpunkt des Anschlags im Döner auf ihre Bestellung warteten, der 21-jährige Schwarze Lagerarbeiter Aftax I., den der flüchtende Attentäter mit dem Auto überfahren wollte, und das Ehepaar Jens Z. und Dagmar M., die in der Berichterstattung kaum Erwähnung finden, leiden zum Teil erheblich unter den körperlichen und psychischen Folgen des Anschlags. Nahe dem etwa 20 Kilometer entfernten Ort Landsberg hatte der flüchtende und am Hals von einer Polizeikugel getroffene Attentäter mit vorgehaltener Waffe versucht, zunächst Z. und dann der herbeieilenden Ehefrau M. das Auto abzupressen. Weil sie sich weigerten, schoss der Täter sie beide nieder und verletzte sie schwer. Bis heute leiden die beiden Überlebenden auch deshalb unter den Folgen des brutalen Angriffs, weil sie nach wie vor dort leben und täglich den Tatort sehen müssen.
Und doch haben alle, die im Gerichtssaal gehört wurden, darauf bestanden, dem fanatischen Attentäter und seinesgleichen eine humane Weltsicht und die Vision einer respektvollen Gemeinsamkeit der Vielen entgegenzuhalten, und sich darin aufeinander zu beziehen und zu unterstützen. Die Botschaft von Halle ist also nicht die Tat des fanatischen Rassisten und Mörders, sondern die der Solidarität und Hoffnung, mit der sich die betroffenen Menschen gemeinsam mit Freund*innen, Genoss*innen und Unterstützer*innen dem Hass entgegenstemmen.
*Dass dieses verstörende Fehlverhalten deutscher Polizeibeamter zum Jahrestag eine bittere Pointe in den Aussagen des Ministerpräsidenten des Landes Sachsen-Anhalt und des Innenministers finden sollte, unterstreicht die Geschichtsvergessenheit und den subkutanen Antisemitismus bis hinauf in die Spitzen des Staates. So hat Landesvater Reiner Haseloff, der mit einer laut und störend auftretenden hochrangigen Entourage von Gedenktourist*innen zu den diesjährigen Jom-Kippur-Feiern die Synagoge besuchte, den Satz gesagt: «Was letztes Jahr geschah, wäre nicht passiert, wenn es mehr Versöhnung gegeben hätte.» Sein Innenminister Holger Stahlknecht machte die zusätzliche Belastung der angeblich ohnehin überlasteten Polizei in seinem Bundesland durch den Anschlag in Halle dafür verantwortlich, dass andere wichtige Aufgaben nicht erledigt werden könnten. Er tat das ausgerechnet im Zuständigkeitsbereich der Dessauer Polizei, wo im Jahr 2005 auch Oury Jalloh in Polizeigewahrsam ermordet worden ist.