Wer glaubt, Martin Schulz sei der Name der Zeit, geht seinem Populismus auf den Leim. Wer denkt, der Hype um Schulz sei nur das und deshalb gleichgültig, erliegt dem eigenen Zynismus – oder versteht nichts von Kräfteverhältnissen. Der Hype zeigt, dass Schulz einen Nerv getroffen hat. Er hat ein Fenster geöffnet: Soziale Gerechtigkeit steht auf der Tagesordnung. Das finden offensichtlich viele Menschen gut. Entscheidend ist, was folgt: Wird es Druck geben von Gewerkschafter*innen, von Sozialverbänden, von linksradikalen Flüchtlingshelfer*innen, Mieterinitiativen oder Erwerbslosen, von allen, die bei der großen Erzählung von der sozialen Gerechtigkeit nicht nur zitiert werden wollen, sondern verlangen, dass ihre Forderungen aufgegriffen werden?
Aufstieg und Performance von Schulz zwischen Nominierung als Kanzlerkandidat der SPD und seiner Wahl auf dem Parteitag folgten einer durchgestylten Choreografie. Wieder und wieder betont er: Die SPD wolle Gerechtigkeit für die hart arbeitenden Menschen, für die Krankenschwester, Frisörin, Verkäuferin, den Feuerwehrmann, den Polizisten. Für alle, die sich an die Regeln halten und doch nicht über die Runden kommen, ihre Zukunft nicht planen können. Die SPD hat die Studien gelesen, die sich mit den Alltagsproblemen und ihrer Wahrnehmung bei den Leuten beschäftigen. Das Gerechtigkeitsgefühl vieler Menschen ist verletzt. Zugleich haben Jahre der »asymmetrischen Demobilisierung«, der Entmutigung der Wähler*innen ihre Spuren hinterlassen. Die Erwartungen hängen tief, doch versteckte Sehnsüchte gibt es – geeignet für einen populistischen Moment, wie Schulz ihn inszeniert.
Auf ›Gerechtigkeit‹ setzt die SPD seit dem Schock der Frühjahrswahlen 2016. Sie hat empfindlich an die AfD verloren – ein Phänomen, das im Rest Europas schon mit der neoliberalen Wende der Sozialdemokratie Anfang der 2000er aufgetreten ist. Auch Gabriel hatte die ›Gerechtigkeitswende‹ versucht, mit markigen Worten und bescheidenen Programmpunkten. Aber: Gabriel nimmt man zwar ab, dass er wendig ist, nicht aber, dass er klare Kante für soziale Gerechtigkeit zeigt. Außerdem war die SPD noch im »Mit-uns-ist-die-GroKo-super«-Modus, so schnell ließ sich das Loblied auf die eigenen Erfolge nicht umstellen.
Ein Dreivierteljahr später klappt es besser. Obwohl Schulz seit 15 Jahren als Topverdiener im Europäischen Parlament und im Parteivorstand der SPD sitzt – keineswegs als Teil der Parteilinken – schafft er es, sich als volksnaher Würseler und Quereinsteiger, als frisch erweckter Ritter für soziale Gerechtigkeit darzustellen. Dass er mehr über Werte als über Konzepte spricht, soll auch den Frieden in der Partei bewahren. Denn er bewegt sich auf einem schmalen Grad: Einerseits gibt es an der Parteibasis eine große Sehnsucht, die SPD möge wieder sozialdemokratische Politik machen. Andererseits hat die Führung in langen Jahren und Machtkämpfen dafür gesorgt, dass es kaum Leute in der ersten Reihe gibt, die das (verkörpern) können. Die Partei besteht zur Hälfte aus »Blairites«, die aus ganzem Herzen auf Exportstrategie und verhalten regulierte Austerität setzen und die den Teil der Bevölkerung repräsentieren, der sich ein Weiter so mit etwas sozialerem Antlitz wünscht. Beim Seiltanz zwischen ihnen und der Rhetorik sozialer Gerechtigkeit orientieren sich die Forderungen von Schulz an den Industriegewerkschaften: etwa das Versprechen, sachgrundlose Befristungen zu verbieten und die Beschäftigten länger im Arbeitslosengeld I zu halten. Mit dem schicken Zusatz »Q« wird versucht, die Anforderungen der Digitalisierung mit der Aussicht auf Absicherung zu verbinden. Das Versprechen, die Renten »nicht weiter abstürzen« zu lassen, ist ähnlich moderat – gegen Altersarmut hilft es nicht. Europa will Schulz gegen rechts verteidigen, ansonsten soll es effizienter werden – kein Wort zu Austerität und Exportstrategie der deutschen Wirtschaft, kein Wort dazu, ob die Erfolge der Rechten auch mit den Erfahrungen mit der bestehenden EU zusammenhängen. Schulz hat nur eine Haltung zur EU, keine Politik.
Schwammig sind auch die Steuerpläne. Eine Vermögensteuer hat Schulz mehrfach ausgeschlossen, doch er spricht von höheren Steuern für Reiche und Vermögende und fordert, dass die Einkommen aus Kapital nicht geringer besteuert werden dürfen als die aus Arbeit. Aber letztlich ist die Rechnung einfach: Ohne Vermögensteuer gibt es keine umfassenden öffentlichen Investitionen und keine Wende in der Sozialpolitik. Ohne höhere Steuern für Bestverdiener*innen lassen sich untere und mittlere Einkommen nicht entlasten. Beides sind rote Tücher in der Diskussion – der Trick, mit dem Schlagwort der »Steuererhöhung« gerade denen Angst zu machen, deren Steuern gesenkt würden, ist schon oft aufgegangen.
Das Risiko wird die SPD nur eingehen, wenn sie gedrängt wird: von den eigenen Leuten, von Gewerkschaften, von linker Konkurrenz.
Es wird sich zeigen, welche Worthülsen platzen und für welche Punkte die SPD streiten wird. Bislang ist Schulzʼ Vorstoß kein neuer Block – es ist ein Überlebenskampf. Unklar, ob es um eine Reorganisation oder Verschiebung im Mitte-links-Feld geht, wo Schulz auf Kosten der LINKEN und Grünen gewinnen kann, aber die Durchsetzungsperspektive eines Politikwechsels nicht notwendigerweise steigt. Sein Erfolg hält die Freunde des Neoliberalismus in der SPD bei der Stange, doch bisher hat sich auch noch keine Bewegung gebildet, die innerhalb der Partei für weitergehende Konzepte kämpfen würde. Seit der Saarland-Wahl ist es ruhig geworden. Man arbeite am Programm, heißt es. Gleichzeitig wird ein Bündnis mit der FDP ventiliert. Es zeigt, wie labil die Situation ist. Noch ist Zeit, einen gesellschaftlichen Block zu formieren oder zumindest Druck und Vorschläge zu machen, was mindestens in einem Paket der sozialen Gerechtigkeit enhalten sein muss. Und: mit wem man sich dafür anlegen muss.