Die jüngsten Kämpfe um Idlib eskalierten Ende Februar zur einer direkten Konfrontation türkischer und russischer Truppen. In den zurückliegenden Wochen hatten Regierungstruppen der syrischen Baath-Diktatur ihre Offensive gegen das von dschihadistischen Rebellen gehaltene Idlib intensiviert. In der Folge hat die Türkei ihre Unterstützung für die Rebellen erhöht. Ein russischer Luftangriff tötete über 30 türkische Soldaten, daraufhin begann die Türkei den Luftraum über Idlib zu sperren und startete eine Drohnenoffensive gegen syrische Regierungstruppen und Ziele tief im Landesinneren. Diese Eskalation brachte den Stellvertreterkrieg in Syrien zurück auf die internationale Agenda. 

Wenn lokale Kriege aus eigener Kraft nicht zu gewinnen sind, aber Verhandlungslösungen nicht angestrebt werden, bemühen sich lokale Akteure um Internationalisierung. Alle lokalen Akteure in Syrien bemühten in unterschiedlichsten Konstellationen darum. Die Internationalisierung eines lokalen Konfliktes verlängert ihn. Sie verlängert ihn aber nicht unendlich, denn früher oder später schlägt das Kräfteverhältnis zugunsten der einen oder anderen Seite aus. Dann bleiben der unterlegenen Interventionsmacht drei Möglichkeiten: Verhandlungslösung, die gegenüber der überlegenen Seite Konzessionen macht. Kommt diese nicht zu Stande, bleibt in Anbetracht der Kräfteverhältnisse nur Kapitulation und Rückzug. Kommt die Kapitulation nicht in Frage, da sie mit zentralen Elementen der eigenen Staatsräson kollidiert, werden noch stärkere internationale Partner gesucht, um das Blatt doch noch zu wenden. Das ist dann eine Art Globalisierung des internationalisierten Stellvertreterkrieges. Davor schrecken die meisten globalen Akteure auf Grund von eigennützigen Risikoerwägungen aber zurück. So bleibt der Syrienkrieg seit Jahren knapp unterhalb der Schwelle zum globalen Stellvertreterkrieg (ein paar Momente eines solchen trägt er in sich, sie sind aber nicht die dominierenden). 

Daher auch die nunmehr Jahre andauernden Diskussionen über die „Verantwortung“ oder die „Rolle“ „des Westens“ – dieses diskursive Framing verweist weit über die lokale Dimension hinaus unmittelbar auf die Weltordnung. Die jüngste Entwicklung der militärischen Kräfteverhältnisse in Idlib hat die Türkei einmal mehr veranlasst, sich um die stärkere Globalisierung des Stellvertreterkrieges zu bemühen, nachdem sich mit nachlassendem westlichen Engagement in den letzten Monaten Tendenzen einer Deglobalisierung gezeigt hatten. Doch auch jüngst ist die Türkei mit ihrem Bemühen, westliche Akteure wieder verstärkt in den Stellvertreterkrieg einzubinden weitgehend gescheitert: Die Öffnung der Grenze zu Griechenland löste eine harsche rassistische Reaktion der EU aus, bewirkte aber keine militärisch untermauerte Solidarität mit der Türkei in Idlib. Der jüngst in Moskau unterzeichnete Waffenstillstand mag die Eskalation in Idlib vorerst beenden, trägt aber die Züge einer türkischen Teilkapitulation.
 

Türkisch-russischer Antagonismus

Die inneren Widersprüche der syrischen Baath-Diktatur kumulierten im Frühjahr 2011 zu einer Revolte. Jedoch zeigt sich in ihrem Verlauf, dass sie von zahlreichen Akteuren rasch in einen konfessionellen Rahmen gepresst wurde. Sowohl die staatliche Unterdrückung der Revolte als auch vielfältige Formen der Intervention von außen verwandelten sie in einen Bürgerkrieg, bei dem die bewaffneten lokalen Konfliktpartien darum bedacht waren, sich ausländischer Unterstützung zu versichern. Anfangs beobachtete die Türkei den Konflikt zögerlich, begann jedoch ab Sommer 2011 Gruppen zu unterstützten, die unter dem Dach des Syrischen Nationalrates der Muslimbruderschaft nahestanden. Die vielfach gespaltenen Rebellengruppen wurden als Freie Syrische Armee von der Türkei, Saudi-Arabien sowie weiteren arabischen und zahlreichen westlichen Staaten unterstützt, die machtpolitische Konkurrenz der Staaten untereinander sorgte für ein fragmentierte internationale Unterstützung und potenzierte so die inneren Spaltungen der Rebellen. Dies war ein Faktor, der zur schrittweisen Dschihadisierung des Bürgerkrieges und seiner Eskalation zu einem lokalen Stellvertreterkrieg beitrug. 

Beide Faktoren halfen im Ergebnis der Baath-Diktatur bei der Mobilisierung lokaler Unterstützung, zudem agierten Russland und Iran als entschlossene und besser koordiniert agierende Interventionsmächte an der Seite von Damaskus. Während die anderen westlichen Staaten ihr Engagement für die Rebellengruppen schrittweise reduzierten, hielt einzig die Türkei dieses im vollen Umfang aufrecht und konnte es vor allem im grenznahen Idlib zur Geltung bringen und so ihren Einfluss dort ausbauen. Allerdings ist auch die militärische Lage in Idlib schon seit über drei Jahren von hoffnungsloser Unterlegenheit der dort kämpfenden islamistischen und dschihadistischen Gruppen, wie dem umbenannten Al Quaida-Derivat Haiʾat Tahrir asch-Scham (HTS) gekennzeichnet. Denn seit Beginn der russischen Syrienintervention im Herbst 2015 konnte die Zentralregierung in Damaskus nach und nach die Kontrolle des Landes militärisch zurückgewinnen. Der Astana-Prozess, der in Folge der russischen Intervention als Verhandlungsformat zwischen Russland, dem Iran und der Türkei unter Nichtbeteiligung westlicher Staaten angestoßen wurde, galt nicht wenigen als Indiz für eine de facto bündnispolitische Zusammenarbeit der Türkei mit Russland und für ihre Abwendung vom Westen. Tatsächlich hatten die in diesem Prozess vereinbarten „Deeskalationszonen“ für Russland, den Iran und die Zentralregierung in Damaskus die Funktion einen komplexen Mehrfrontenkrieg auf temporär wenige Schauplätze zu konzentrieren und so diesen Krieg gewinnbar zu machen. Für die Türkei bedeutete die Vereinbarung über „Deeskalationszonen“ ein Gewinn an Zeit. Sie konnte sich nunmehr auf das grenznahe Idlib konzentrieren und dort – leidlich abgestimmt mit Russland – so genannte Observationspunkte ihrer Streitkräfte aufbauen. 

Während Damaskus nach und nach und zum Teil indirekt abgestimmt mit der Türkei die meisten anderen Rebellengebiete zurückeroberte, tolerierte Russland Anfang 2018 den türkischen Einmarsch im westlich gelegenen Afrin und Ende 2019 den Einmarsch im Norden Zentralrojavas. Mit derartigen Konzessionen an die Türkei konnte Russland ein türkisches Stillhalten in anderen Rebellengebieten wie Ost-Goutha erwirken, die seinerzeit von der Zentralregierung in Damaskus zurückerobert wurden. Auch westliche Staaten tolerierten insbesondere die Afrin-Invasion, um die Türkei nicht „an Russland zu verlieren“. Zudem überbewerteten sie die taktische, innenpolitisch motivierte subalterne Kooption sogenannter Eurasier (d.h. russland- und chinaaffiner rechtskemalistischer Kräfte) in den türkischen Machtblock seit 2016 und hatten damit ein Bild von der Türkei, das nicht realen inneren Kräfteverhältnissen entsprach. Auch dies trug dazu bei, offenkundige türkisch-russische Interessendivergenzen zu übersehen: So baute die Türkei ihre Präsenz in Idlib aus, die Versorgung der dortigen dschihadistischen Gruppen, zu deren Bekämpfung sich die Türkei eigentlich im Rahmen des Astana-Prozesses verpflichtet hatte, lief über die Grenzen der Türkei. So lange die Zentralregierung noch nicht die alle Rebellengebiete zurückerobert hatte, konnten die Differenzen mit Damaskus und Moskau noch im Rahmen des Astana-Formats bearbeitet werden. Dies ist seit einigen Monaten nur mehr bedingt der Fall, der türkisch-russische Antagonismus in Syrien läuft auf seinen lang absehbaren Höhepunkt zu. Dem Astana-Format hatte die Türkei ohnehin nur in Folge ihrer machtpolitischen Unterlegenheit zugestimmt. 

Doch auch darüber hinaus hat sie zahlreiche Vereinbarungen mit Russland getroffen – zum Beispiel die Installation von S-400 Flugabwehrsystemen. Allerdings dienten sie der Türkei primär dazu, den Druck auf die NATO zu erhöhen, indem man signalisierte, man habe Alternativen. So sollten vor allem westliche Zugeständnisse in der kurdischen Frage erwirkt werden, eine Strategie, die durchaus Erfolg hatte. Von einem türkisch-russischen Bündnis konnte jedoch in all den Jahren noch nicht einmal im Ansatz die Rede sein, allenfalls von einer unterkomplexen Betrachtung der türkisch-russischen Beziehungen, die derlei Fehlschlüsse hervorbrachte. Westlicher Disput mit der Türkei war immer Disput innerhalb des transatlantischen Bündnisses, anderenfalls wäre übrigens die kürzliche türkische Bitte um Unterstützung der NATO überhaupt gar nicht denkbar. Es wäre daher unzutreffend zu attestieren, dass die türkische „Hinwendung“ zu Russland ein „Fehler“ war, denn der Astana-Prozess, stellte keine Bündnispolitik dar, sondern einen diplomatischen Rahmen zur Austragung des türkisch-russischen Antagonismus in Syrien. 

Letzterer wird jetzt nur mit anderen Mitteln fortgesetzt: Die Offensive der syrischen Regierungstruppen und Russlands zur Rückeroberung der letzten in Rebellenhand verbliebenen Gebiete Idlibs lief schon seit vielen Monaten, erzielte aber rasche Geländegewinne in den letzten Wochen. In deren Folge sah sich die Türkei veranlasst, auch ihre regulären Streitkräfte gegen reguläre syrische und russische Kräfte einzusetzen. Beide Seiten waren in deeskalierender Intention (aber bewusster Verkennung der militärischen Realität) darum bedacht, die Kampfhandlungen in Idlib als einen türkisch-syrischen Konflikt darzustellen und spielten dessen entscheidende türkisch-russische Dimension diskursiv herunter. Zugleich aber hatte die Türkei sich um NATO-Beistand nach Artikel 5 des Nordatlantik-Vertrages bemüht. Insofern sie in Folge ihres militärisches Agierens auf syrischem Territorium gegen russische und syrische Streitkräfte von diesen angegriffen wurde, konnte sie auf keinerlei NATO-Beistand hoffen. Zu den Gepflogenheiten der internationalen Diplomatie zählte gleichwohl rhetorische Unterstützung durch die Mitglieder des Bündnisses. Trotz der relativ versöhnlichen Rhetorik der letzten Wochen ist die Türkei innerhalb der NATO noch immer relativ isoliert. Sowohl ihre Beteiligung am Astana-Format als auch Invasionen in Nordsyrien/Rojava hatte sie den Mitgliedsstaaten abgenötigt. Ihr Vorgehen in Idlib mochte den Regierungen in der NATO bekannt sein, wurde aber trotz des Eskalationspotenzials nicht mit ihnen abgestimmt. 

Bislang hatte die Türkei ihre Verhandlungsstärke daraus bezogen, dass sie ihren Disput mit Russland eigenständig in bilateralen bzw. trilateralen diplomatischen Formaten austragen konnte. Mit der Eskalation zwischen der Türkei und Russland in Idlib ist das Astana-Format jedoch zerbrochen. Trotz der jüngsten lokalen militärischen Erfolge der Türkei in Idlib tritt daher nun die Differenz der militärischen Machtpotenziale beider Staaten unmittelbar zu Tage: Ob Russland sich in Idlib militärisch durchsetzen würde, war eine Frage russischer Erwägung, der die Türkei nur temporär und punktuell etwas entgegensetzen vermochte. In den wenigen Tagen der verschärften Konfrontation blieb Russland unter seinen militärischen und diplomatischen Möglichkeiten: Gedeckt von der eigenen Luftwaffe, die gleichwohl im weitgehend türkischen Luftraum blieb, bombardierten türkische Drohnen die syrischen Regierungstruppen und erzielten dabei eine Reihe von Erfolgen. Zugleich mussten auch sie erhebliche Verluste an Drohnen hinnehmen, obwohl die russischen S-300 und S-400 Systeme noch nicht einmal gegen sie eingesetzt wurden. Es war also für die Türkei absehbar, dass die Drohnenoffensive nicht dauerhaft fortführbar war – erst recht nicht bei Ausschöpfung der russischen Abwehrmöglichkeiten. Auch verzichtete Russland auf die Verhängung von Wirtschaftssanktionen, wie zuletzt von 2015 bis 2016. Der Türkei blieben dazu relativ wenige Möglichkeiten ihren Druck zu intensivieren, denn sie agierte von Beginn an mit vollem Einsatz. In dieser für sie unvorteilhaften Situation bemühte sich die türkische Regierung darum, durch die Öffnung der türkischen Grenzen Richtung EU Druck auf eben diese auszuüben. 

Doch was genau sich türkische Regierung durch diese De facto-Aufkündigung des „EU-Türkei-Flüchtlingsdeals“ konkret für sich in Idlib zu erreichen erhofft, ist unklar. Es ist unwahrscheinlich, damit eine Form militärischer Solidarität zu erpressen – selbst eine unterhalb des NATO-Beistandes. Mindestens aber versuchte sie der eigenen Bevölkerung Entschlossenheit zu signalisieren, denn die Maßnahmen fanden und finden in türkischen Medien einen breiten Raum. Das Signalisieren von Entschlossenheit, ermöglichte es zudem in einem weiteren Schritt Zugeständnisse gegenüber Russland besser zu vermitteln. Denn obwohl es der Türkei und ihren Verbündeten gelang, eine ganze Reihe von Ortschaften zurückzuerobern, scheiterte sie daran, die Ergebnisse der jüngsten syrisch-russischen Offensive auf militärischem Wege vollständig zu revidieren. Rasch ging die Kontrolle über die strategisch wichtige Fernstraße M5 und über den Süden Idlibs wieder in die Hände syrischer Regierungstruppen. Gespräche zwischen Ankara und Moskau bahnten sich an.
 

Türkische Niederlage in Idlib

Seit dem 6. März ist ein Waffenstillstand in Kraft, auf diesen einigten sich die türkische und die russische Regierung tags zuvor in Moskau in gerade einmal sechsstündigen Regierungsgesprächen. Einige Stimmen behaupten, die Türkei habe zwar Zugeständnisse machen müssen, dafür aber die syrisch-russische Offensive gestoppt – eine klassische Pattsituation also. Doch tatsächlich ist es mehr als zweifelhaft, inwieweit die Zentralregierung in Damaskus tatsächlich geplant hatte, bereits in diesem Frühjahr ganz Idlib einzunehmen. Mehrere Faktoren sprechen dagegen: Auf Grund der Schwäche der eigenen, durch fast zehn Jahre Krieg ausgezehrten Bodentruppen hat Damaskus bislang seine Militäroperationen in kleine, überschaubare Sequenzen gegliedert und so Risiken für sich selbst minimiert (daher auch der massive Einsatz von Artillerie und Luftwaffe, der jeder Bodenoperation vorangeht). Ein Bestreben das gesamte noch verbleibende Gebiet Idlibs in diesem Frühjahr auf einmal einzunehmen, hätte eine riskante Abweichung von dieser Regel dargestellt. Naheliegend war es vielmehr, begrenztere Ziele zu verfolgen: Die Eroberung der Fernstraße M5, die Aleppo an Damaskus anbindet, sowie Geländegewinne im Westen Aleppos, um die Frontlinie von der Stadt wegzurücken und den Flughafen wieder in Betrieb zunehmen. Beide Ziele wurden militärisch erreicht. 

Ein Sekundärziel könnte die Eroberung der Fernstraße M4 gewesen sein, um Aleppo an Latakia anzubinden. Im Lichte dieser Fakten betrachtet, wurde die jüngste Sequenz im Ringen um Idlib mit einer eindeutigen türkischen Niederlage besiegelt. Letztere fällt sogar unerwartet deutlich aus: Die Gebiete südlich der M4 und östlich der M5 fallen komplett unter die Kontrolle der Zentralregierung – obwohl es ihrer Offensive gar nicht gelungen war, auf breiter Front bis zur M4 vorzustoßen. Um die M4 herum wird sogar ein sechs Kilometer breiter Korridor errichtet und gemeinsame russisch-türkische Patrouillen sind dort vorgesehen. Mit der Kontrolle über die Fernstraßen M5 und M4 ist Damaskus nun allerdings in einer guten Ausgangslage, den Rest Aleppos komplett zurückzuerobern. Gleichwohl dürfte diese zunächst verschoben sein, denn die syrischen Regierungstruppen sind gezwungen, ihre eigenen Verluste der letzten Wochen auszugleichen. Zudem sind sie mit Rebellen im Süden Syriens konfrontiert – auch daher kommt ihnen der gegenwärtige Waffenstillstand sehr zu pass. Die von der Türkei abhängige HTS-Miliz besitzt kaum die Möglichkeit, gegen ihre Geberin offen zu opponieren: So weist sie in ihrem Statement darauf hin, dass die Vereinbarung primär russischen Interessen gerecht werde, nicht implementierbare Klauseln habe und eine gute Ausgangsposition für weitere russische Aggression bilde. Während sie der Frage, ob sie selbst die Waffen dagegen erhebt, ausweicht, hält sie sich bislang an den Waffenstillstand.
 

Humanitäre Katastrophe in Idlib und Versagen des Westens

Im Angesicht der Grenzöffnung zu Griechenland und Bulgarien haben die deutsche  Verteidigungsministerin, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses und die Vorsitzende der Grünen sich bereits für eine härtere Gangart gegenüber Russland stark gemacht. Unter anderem wird eine Verschärfung der Wirtschaftssanktionen gefordert. Die europäische Erpressbarkeit resultiert dabei wesentlich aus jenem rassistischen Alltag, dessen konkret staatsapparativer Ausdruck der sogenannte Flüchtlingsdeal ist. Während der gesamten letzten Wochen der syrisch-russischen Offensive hütete sich die offizielle europäische Politik folglich davor, eine Öffnung der türkisch-syrischen Grenze einzufordern. Denn dies hätte in letzter Konsequenz die Bereitschaft der EU zur Aufnahme weiterer Geflüchteter aus der Region bedeutet. Die Grenze musste geschlossen bleiben, weil es der Logik des Deals entsprach. Auch dies trug zur humanitären Katastrophe in Idlib bei. Allein die jüngste Offensive syrischer Regierungstruppen hat seit dem 1. Dezember 2019 über 900 000 Menschen zur Flucht veranlasst. Doch die eigentliche Ursache der humanitären Katastrophe liegt in dem seit Jahren geführten Stellvertreterkrieg in Syrien und dessen Dschihadisierung im Laufe der letzten Jahre. Die Zivilbevölkerung in Idlib ist dabei sowohl der Herrschaft der dschihadistischen Gruppen ausgesetzt als auch den Fraktionskämpfen, die sie untereinander in den letzten Jahren wiederholt gegeneinander ausgetragen haben. Die Gegnerschaft der diktatorischen syrischen Zentralregierung und ihrer russischen und iranischen Bündnispartner zu diesen von der Türkei abhängigen Gruppen ist der Grund für ihre Militäroffensive und deren konkrete Form: Während russische und syrischen Truppen seit Jahren bei ihrem Vorgehen hohe Zahlen ziviler Opfer in Kauf nehmen, verwischen die dschihadistischen Kräfte in Idlib bewusst die Unterscheidung zwischen Zivilisten und Kombattanten.[1] 

Dies soll zuletzt die Rolle der dschihadistischen Milizen als organisiert handelnde militärische Kraft aus dem Fokus der internationalen Berichterstattung rücken. Angestrebt wird das schwammige Narrativ „Regime versus Opposition“ beziehungsweise „Regime versus Rebellen“. Tatsächlich haben sich beide Seiten als aktive Kriegsparteien erheblicher Verbrechen schuldig gemacht. Die Verantwortung für unterschiedlich hohe Opferzahlen ist weniger dem demokratischen oder diktatorischen  Charakter der einen oder anderen Seite geschuldet, sondern vielmehr ein Ergebnis der ungleichen militärischen Kräfteverhältnisse. Auch die wenigen verbliebenen Gruppen einer demokratischen syrischen Opposition dürfen sich nicht zu machtpolitisch relevanten Gruppen formieren, sie werden in Idlib seitens der dschihadistischen Milizen bestenfalls begrenzt strategisch toleriert. Das ist nicht zuletzt eine taktische Lehre aus dem Beispiel des IS, der mit seinen Methoden der Kriegsführung und seiner Selbstinszenierung sich letztlich schadete. Das aber ändert wenig an der grundsätzlichen Wesensverwandtschaft zwischen dem IS und den dschihadistischen Gruppen, die Idlib beherrschen und übrigens auch ihre dortigen lokalen ideologischen Hauptgegner, „konventionelle“ islamistische Gruppen, mit brutaler Härte marginalisiert haben. 

Die sich lange abzeichnenden Eroberung durch Truppen der Zentralregierung gefährdet nichts, was politisch der Verteidigung wert wäre. Das aber rechtfertigt die Methoden der Kriegsführung dagegen in keiner Weise. Völkerrechtlich mag es zutreffen, dass russische und iranische Kontingente legal in Syrien auf Einladung der Zentralregierung kämpfen. Politisch ist diese jedoch von ihnen abhängig, und sie kämpfen dort aus eigenem strategischen Kalkül. De facto sind sie Interventionsmächte. Die geringe Bereitschaft der vor Ort kämpfenden Akteure mit Ernsthaftigkeit auf eine Verhandlungslösung hinzuwirken, mag einerseits ihrer Sorge vor Übergriffen syrischer Regierungstruppen und verbündeter Milizen geschuldet sein, andererseits entspringt sie der Tatsache, dass Idlib de facto türkisches Protektoratsgebiet ist. Ohne Ankaras Erlaubnis könnten sie weder einen Verhandlungsfrieden schließen noch aus ihrer militärischen Lage den Schluss einer Kapitulation ziehen. Auf eine solche Lösung hat die Zentralregierung in Damaskus über die letzten Jahre hinweg mit einem hohen Maß an Entschlossenheit hingearbeitet. Doch der permanente Strom an Waffen und Versorgungsgütern aus der Türkei in Richtung der dort herrschenden dschihadistischen Milizen hat einen im Grunde militärisch längst entschiedenen Konflikt immer wieder verlängert. Dafür zahlt die Zivilbevölkerung täglich einen hohen Preis, ohne eine emanzipatorische oder auch nur humanitäre Perspektive haben. Der türkische Beitrag zur humanitären Katastrophe in Idlib, ist also weit mehr als bloß die Schließung der eigenen Grenze für Fluchtwillige aus Idlib – er ist die politische, militärische und logistische Unterstützung für HTS.
 

Den sinnlosen Krieg beenden

Die humanitäre Katastrophe in Idlib ist folglich nicht das Ergebnis „westlicher Untätigkeit“ gegenüber „dem syrischen Regime“, sondern vielmehr der Aufladung des syrischen Bürgerkrieges zu einem internationalen Stellvertreterkrieg geschuldet. Der Verweis auf die humanitäre Katastrophe sollte auch nicht dazu verwendet werden, dem Stellvertreterkrieg immer neue Ressourcen zuzuführen oder um für eine Verschärfung des Sanktionsregimes gegenüber Syrien zu werben. Derlei Forderungen dienen der Schwächung der Zentralregierung in Damaskus. Sie dienen keiner abstrakt definierten Humanität, sondern stellen im Kontext des Stellvertreterkrieges eine Einflussnahme auf die Kräfteverhältnisse zu Gunsten der Türkei dar. Ohnehin lastet das maßgeblich von westlichen Staaten auf dem Weg gebrachte Sanktionsregime schwer auf der Bevölkerung, und selbstverständlich sind davon auch die Gebiete betroffen, die zur Demokratischen Konföderation Nord- und Ostsyrien zählen. Im Effekt stärken sie also die HTS-Strukturen relativ zu anderen Akteuren und tragen so zur Verlängerung des Krieges bei. Das Narrativ von der „westlichen Untätigkeit“ kommt dabei zudem den Interessen der Türkei zu pass, die ihr de facto Protektoratsgebiet in Idlib aufrechterhalten möchte; es bietet geradezu einen legitimatorischen Rahmen für die Aufrechterhaltung des türkischen Okkupationsregimes in Idlib und die Eskalation militärischer Gewalt durch die Türkei. 

Die Türkei mag sich vom Sturz der syrischen Baath-Diktatur stillschweigend verabschiedet haben, doch sie benötigt Idlib, um den Beginn einer Nachkriegsordnung in Syrien so lange wie möglich hinauszuzögern. Nur deshalb gab es die Zeitfenster, die ihr überhaupt ermöglichten, die kurdischen Selbstverwaltungsstrukturen in Nordsyrien/Rojava anzugreifen und dort Okkupationszonen einzurichten. Zudem bildet Idlib einen wichtigen Rekrutierungsort für weitere Milizen, die zur Invasion Rojavas aber auch in Libyen eingesetzt werden. So lange der Krieg in Syrien nicht beendet ist, können weitere türkische Invasionen in Nordostsyrien nicht ausgeschlossen werden. Dies schwächt die Verhandlungsposition der Autonomen Administration Nordostsyrien gegenüber der Zentralregierung in Damaskus. Damit stärkt die Türkei nicht zuletzt den Zentralismus eben jener Baath-Diktatur, die sie vorgibt zu bekämpfen. Doch die Verhinderung eines Konföderalismus kurdischer Provenienz hat in Ankara Vorrang. Alternativ kann Idlib aber auch eine Verhandlungsmasse mit Russland bilden, wenn es darum geht, weitere kurdisch besiedelte Gebiete in Rojava zu Protektoraten zu machen. Dies setzt aber voraus, dass sich Idlib zunächst weiter unter türkischer de facto Kontrolle befindet. 

Durch Ankaras jüngste Teilkapitulation wird dies perspektivisch aber immer unwahrscheinlicher. Eben damit ist auch erklärt, warum erhebliche Teile der politischen Linken hierzulande kein westliches militärisches Eingreifen in Idlib fordern – innerhalb der türkischen und kurdischen Linken werden solche Forderungen ohnehin als vollkommen abwegig angesehen. Es mag Stimmen im Diskurs geben, die in der Baath-Diktatur in Verkennung der Vorkriegs- und Kriegsrealität eine antiimperialistische Akteurin erblicken und leugnen, dass die inneren Widersprüche dieses Regimes in die Revolte führten. Doch wenn dieser Diskurs kollektiv der gesamten interventionskritischen Linken unterstellt wird, ist das Ergebnis nicht die Beendigung der humanitären Krise in Idlib. Vielmehr öffnet es den Weg in Richtung einer De facto-Legitimierung der dort seit Jahren laufenden türkischen Intervention, indem Kritik daran zu einem Statement für die Baath-Diktatur denunzieret wird. Während der kurzen Phase der türkischen Teilerfolge im Drohnenkrieg wurden Stimmen laut, demnach die Türkei etwas in Idlib geschafft habe, woran die internationale Staatengemeinschaft in fast zehn Jahren immer wieder gescheitert sei: durch einen gezielten militärischen Eingriff Schutzverantwortung für die Zivilbevölkerung übernehmen. 

Die türkische De facto-Kapitulation in Moskau brachte diese Stimmen rasch zum Verstummen. Grundsätzlich ist das Prinzip der Schutzverantwortung ohnehin nur in Konstellationen realisierbar, in denen es eine klare, auf globalem wie regionalem Level, etablierte Hegemonie gibt. Die Aufladung des syrischen Bürgerkrieges zum internationalen Stellvertreterkrieg ist allerdings der Tatsache geschuldet, dass es diese gerade nicht gibt, sondern ein verschärfter Antagonismus zwischen der großen Mächten vorliegt. Ob gewollt oder nicht: Der Ruf nach Schutzverantwortung tendiert in einem derartigen Kontext dazu, dem Krieg im Ergebnis weitere Ressourcen von außen zuzuführen. Ohne die permanente Intervention von außen wäre der Krieg dort längst beendet. Das Ende der Intervention und der Unterstützung der HTS zu fordern, ist daher kein Verkauf der Humanität an das Baath-Regime, den Iran und Russland. Vielmehr ist sie die letztinstanzliche Konsequenz einer kritisch-vernunftethischen Haltung angesichts einer klaren und jahrelang hinausgezögerten Niederlage. Auch das Hinauszögern an sich steigert die Zahl der Opfer. 

Den vollends sinnlos gewordenen Stellvertreterkrieg zu beenden, bietet zudem die Möglichkeit, weitere militärische Machtprojektion durch die Türkei zumindest einzuschränken. Solange die Baath-Diktatur Krieg gegen dschihadistische Rebellen führt, ist dieser zudem Teil ihrer legitimatorischen Reproduktionsgrundlage in den von ihr beherrschten, weit überwiegenden Teilen Syriens. Mit dem Ende des Krieges und dem Übergang zu einer zivilen Ordnung, wird Syrien keineswegs automatisch zu einer Demokratie, im Gegenteil die Sieger werden ihre Macht festigen wollen. Zudem lösen sich die inneren Widersprüche der Diktatur auch nach ihrem militärischen Sieg nicht in Luft auf, denn sie wird mit gehörigen ökonomischen, sozialen und politischen Problemen konfrontiert sein. Allerdings ist der Übergang zu einer zivilen Nachkriegsordnung eine unabdingbare Voraussetzung dafür, überhaupt die inneren Widersprüche der Baath-Diktatur thematisieren zu können. Genau dieser Handlungsrahmen ist mit der Militarisierung des Konfliktes und seiner Aufladung zum Stellvertreterkrieg zersprungen. Sie jetzt noch zu adressieren, ist schwerer denn je.