Das „Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate“ war laut Karl Marx eines der wichtigsten Themen der politischen Ökonomie. Als ein System, das auf dem Streben nach Profit und der „endlosen Akkumulation von Kapital“ (Wallerstein 2009) beruht, benötigt der Kapitalismus eine Profitrate auf einem gewissen Niveau, um erfolgreich und stabil funktionieren zu können. Sollte sich der tendenzielle Fall der Profitrate nicht aufhalten lassen, würde er zu einer unüberwindbaren Grenze der kapitalistischen Akkumulation werden und könnte die Überlebensfähigkeit des Kapitalismus als Wirtschafts- und Gesellschaftssystem gefährden (Marx 1894, 270).
Viele marxistische Ökonominnen und Ökonomen haben das „Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate“ diskutiert und beurteilt, aber empirisch ließ es sich nicht eindeutig beweisen und einige theoretische Fragen blieben ungeklärt. In diesem Text präsentiere ich zunächst aktualisierte empirische Daten zur langfristigen Bewegung der Profitrate in sechs wichtigen Ökonomien des kapitalistischen Weltsystems (das Vereinigte Königreich, Frankreich, Deutschland, die Vereinigten Staaten, Japan und China) für den Zeitraum 1855/1870 bis 2015 sowie deren gewichteten Durchschnitte. Im Anschluss daran erörtere ich die Beziehung zwischen der Profitrate und der Grenzprofitrate. Diese Untersuchung zeigt, dass das langfristige Niveau der Profitrate von dem Verhältnis der langfristigen Rate des Wirtschaftswachstums zur Nettoinvestition in produktives fixes Kapital als Anteil am Profit bestimmt wird. Daraus folgt, dass die Profitrate nur dann gegen null fällt, wenn die Wachstumsrate des Profits gegen null fällt.
Fallende Profitrate: Marx‘ Hypothese und der empirische Befund
Marx erörterte das „Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate“ im 3. Band des Kapital (Marx 1894, 221-277). Laut Marx tendiert der kapitalistische technologische Fortschritt stark zur Mechanisierung (der Ersetzung von Arbeitskraft durch fixes Kapital). Wenn die kapitalistische Produktion zunehmend kapitalintensiver wird, steige die „organische Zusammensetzung des Kapitals“ (das Verhältnis des „konstanten Kapitals“ zum „variablen Kapital“ oder das Verhältnis des in Produktionsmittel investierten Werts zum Wert der Arbeitskraft). Wenn der Anstieg der organischen Zusammensetzung des Kapitals nicht durch eine noch stärkere Steigerung der Mehrwertrate kompensiert wird, würde die Profitrate tendenziell fallen. Was Marx als „Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate“ bezeichnet, sollte am besten als eine Hypothese betrachtet werden, denn einige der mit diesem „Gesetz“ verbundenen theoretischen Fragen sind ungeklärt und ebenso fehlt es an beweiskräftiger empirischer Evidenz. In der neueren marxistischen Wirtschaftstheorie wird die Profitrate oftmals in die Profitquote (den Anteil des kapitalistischen Profits an der nationalen Wirtschaftsleistung) und die Kapitalproduktivität (output-capital ratio) (das Verhältnis der Wirtschaftsleistung zum investierten Kapitalstock) zerlegt; d.h. die Profitrate lässt sich als Produkt aus Profitquote und Kapitalproduktivität ausdrücken. Der Kehrwert der Kapitalproduktivität, der Kapitalkoeffizient (capital-output ratio), also das Verhältnis des Kapitalstocks zum Produktionsergebnis, steht in einem engen Zusammenhang zu Marx‘ Begriff der „organischen Zusammensetzung des Kapitals“. Er entspricht grob dem Verhältnis des Werts der investierten Produktionsmittel zu dem von der gegenwärtigen produktiven Arbeit geschaffenen Neuwert. Solange die Schwankungen des Anteils der Arbeitseinkommen an der Wirtschaftsleistung (das Verhältnis des Werts der Arbeitskraft zum neu geschaffenen Wert) begrenzt bleiben, bewegt sich der Kapitalkoeffizient im Allgemeinen in dieselbe Richtung wie die organische Zusammensetzung des Kapitals. Die Hypothese einer tendenziell steigenden organischen Zusammensetzung lässt sich damit als Hypothese einer tendenziell sinkenden Kapitalproduktivität formulieren (zu den Diskussionen in den 1980er und 1990er Jahren siehe Devine 1987; Dumenil und Levy 1993; Laibman 1987; Moseley 1991; Shaikh 1987; Shaikh und Tonak 1996). Auf der theoretischen Ebene besteht das grundlegende Problem darin, wie sich die langfristige Tendenz einer steigenden organischen Zusammensetzung des Kapitals oder einer sinkenden Kapitalproduktivität begründen ließe. Die Kapitalproduktivität sinkt tendenziell dann und nur dann, wenn die gesamtwirtschaftliche Kapitalintensität (capital-labor ratio) tendenziell schneller anwächst als die Arbeitsproduktivität. Für diese Tendenz konnte jedoch im Rahmen der marxschen Theorie kein allgemein anerkannter Beweis gefunden werden. Auf der empirischen Ebene konnten Untersuchungen zur langfristigen Entwicklung der Kapitalproduktivität und der Profitrate in den führenden kapitalistischen Volkswirtschaften keinen eindeutigen säkularen Trend ausmachen (siehe Dumenil und Levy 1993; Li, Xiao und Zhu 2007). Im folgenden Abschnitt werden aktualisierte empirische Befunde zur langfristigen Entwicklung der Kapitalproduktivität, der Profitquote und der Profitrate in sechs großen Volkswirtschaften im kapitalistischen Weltsystem vorgestellt.
Die langfristige Entwicklung der Profitrate: Sechs große Volkswirtschaften, 1855/1870-2015
Das Vereinigte Königreich war im 19. Jahrhundert die hegemoniale Macht des kapitalistischen Weltsystems. Frankreich und Deutschland gehörten seit dem 19. Jahrhundert zu den führenden kapitalistischen Volkswirtschaften. Die Vereinigten Staaten wurden ab Mitte des 20. Jahrhunderts zur hegemonialen Macht des kapitalistischen Weltsystems. Japan gehört seit Mitte des 20. Jahrhunderts zu den führenden kapitalistischen Volkswirtschaften, und China ist gegenwärtig gemessen an der Kaufkraftparität die größte, gemessen am Marktwechselkurs die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt. Seit 1870 entfielen 40 bis 47 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung auf diese sechs Volkswirtschaften.