Le Guin selbst charakterisierte „The Dispossessed“ (weitere deutsche Titel Planet der Habenichtse, Die Enteigneten und Freie Geister) als eine „Variante des pazifistischen Anarchismus“. Sie verhandelt in diesem Buch auf einer für das Genre radikalen Weise die Frage nach Eigentum und Besitz: Habenichtse, Enteignete und Freie Geister finden sich auf zwei Himmelskörpern: Urras und Anarres. Auf Urras herrschen Kapitalismus, Ausbeutung, Kriege, Luxus, Reichtum und Armut. Der Mond Anarres dagegen ist arm, karg, unwirtlich und isoliert. Er fungiert als eine abhängige Bergbaukolonie, deren Rohstoffe über einen Raumhafen einmal im Jahr nach Urras transportiert werden. Die Bewohner*innen von Anarres existieren isoliert, gleichsam in Quarantäne. Doch Anarres ist der einzige Ort im ganzen Sonnensystem, wo sie als Nachkommen einer gescheiterten Revolution wirklich frei sind – frei von Unterdrückung und Zwang. Der anarresische Physiker Shevek reist nach Urras und gerät dabei in beiden Gesellschaften zwischen alle Fronten.
Shevek erklärt einer Botschafterin, warum er nach Urras gekommen ist und was für ihn der Unterschied zwischen Urras und Anarres ist.
»Der Unterschied liegt in der Idee«, erklärte er. »Und auch wegen dieser Idee bin ich hierhergekommen. Wegen Anarres. Da meine Leute sich weigern, den Blick nach außen zu wenden, dachte ich mir, dass ich die anderen dazu bringen könnte, ihre Blicke auf uns zu richten. Ich dachte, es wäre besser, sich nicht hinter einer Wand zu verbarrikadieren, sondern eine Gesellschaft unter anderen, eine Welt unter anderen zu sein, zu geben und zu nehmen. Aber darin habe ich mich getäuscht, habe ich mich schwer getäuscht.« »Wieso? Bestimmt haben Sie doch …« »Weil es nichts, aber auch gar nichts auf Urras gibt, das wir Anarresti brauchen könnten! Wir sind vor einhundertsiebzig Jahren mit leeren Händen abgezogen, und damit haben wir recht getan. Wir haben nichts mitgenommen, weil es hier nichts anderes gibt als Staaten und ihre Waffen, Reiche und ihre Lügen, Arme und ihr Elend. Auf Urras gibt es keine Möglichkeit, mit reinem Herzen recht zu tun. Man kann nichts tun, ohne dass Profit dabei eine Rolle spielt, und Furcht vor Verlust, und der Wunsch nach Macht. Man kann nicht guten Morgen sagen, ohne zu wissen, wer von euch dem anderen >überlegen< ist oder versucht, das zu beweisen. Man kann sich anderen Menschen gegenüber nicht wie ein Bruder verhalten, sondern muss sie manipulieren, kommandieren, ihnen gehorchen oder sie hintergehen. Man darf einen anderen Menschen nicht berühren, und dennoch lassen sie einen nicht in Ruhe. Es gibt keine Freiheit. Es ist eine Schachtel – Urras ist eine Schachtel, ein Paket, mit der wunderschönen Verpackung des blauen Himmels, der Wiesen und Wälder, der großen Städte. Und wenn man diese Schachtel öffnet – was ist darin? Ein dunkler Keller voller Staub und Unrat und ein toter Mann. Ein Mann, dem man die Hand abgeschossen hat, weil er sie anderen reichen wollte. Ich bin endlich in der Hölle gewesen. Desar hatte ganz recht: Es ist Urras; Urras ist die Hölle.«
Shevek berichtet über Anarres.
»Aber erzählen Sie uns doch von Anarres!« sagte Vea. »Wie ist es dort wirklich? Ist es tatsächlich so wunderbar?«
Irgendetwas Dunkles breitete sich in Sheveks Kopf aus, verdunkelte alles. Sein Mund war trocken. Er leerte das Glas, das ihm der Diener gerade gefüllt hatte. »Ich weiß es nicht«, antwortete er; seine Zunge war wie gelähmt. »Nein. Es ist nicht wunderbar. Es ist eine hässliche Welt. Nicht wie diese. Anarres besteht nur aus Staub und trockenen Bergen. Alles öde, alles trocken. Auch die Menschen sind nicht schön. Sie haben große Hände und Füße, wie ich und der Diener dort. Aber keine großen Bäuche. Sie werden sehr schmutzig und baden zusammen, das tut hier niemand. Die Städte sind sehr klein und langweilig, richtig trostlos. Keine Paläste. Das Leben ist langweilig und besteht aus harter Arbeit. Man kann nicht immer bekommen, was man möchte, nicht einmal das, was man braucht, denn es ist einfach nicht genug da. Ihr Urrasti habt von allem genug. Genug Luft, genug Regen, Gras, Meere, Nahrung, Musik, Häuser, Fabriken, Maschinen, Bücher, Kleider, Geschichte. Ihr seid reich, ihr besitzt. Wir sind arm, wir leiden Mangel. Ihr habt, wir haben nicht. Hier ist alles schön. Nur die Gesichter nicht. Auf Anarres ist gar nichts schön, nichts außer den Gesichtern. Die anderen Gesichter, die Männer und Frauen. Etwas anderes haben wir nicht, wir haben nur uns. Hier sieht man den Schmuck, dort sieht man die Augen. Und in den Augen sieht man die Pracht, die Pracht des menschlichen Geistes. Weil unsere Männer und Frauen frei sind; da sie nichts besitzen, sind sie frei. Und ihr, die Besitzenden, ihr seid besessen. Ihr lebt alle im Gefängnis. Jeder für sich allein, mit einem Haufen all dessen, was er besitzt. Ihr lebt im Gefängnis, sterbt im Gefängnis. Das ist alles, was ich in euren Augen sehe – die Mauer, die Mauer«. Alle starrten sie ihn an.
Vor einer großen Demonstration der Urrasti spricht Shevek über Anarres.
Wir wissen, dass es für uns keine Hilfe gibt außer der Hilfe, die wir einander leisten, dass uns keine Hand retten wird, wenn wir einander nicht die Hand reichen. Und diese Hand, die ihr ausstreckt, ist ebenso leer wie die meine. Ihr habt nichts. Ihr besitzt nichts. Euch gehört nichts. Ihr seid frei. Alles, was ihr habt, ist das, was ihr seid, und das, was ihr gebt. Ich bin hier, weil ihr in mir ein Versprechen seht, das Versprechen, das wir vor zweihundert Jahren in dieser Stadt abgelegt - und gehalten haben. Wir haben es gehalten, auf Anarres. Wir haben nichts als unsere Freiheit. Wir können euch nichts geben als eure eigene Freiheit. Wir haben keine Gesetze als das eine und einzige Prinzip der gegenseitigen Hilfe. Wir haben keine Regierung als das eine und einzige Prinzip der freien Gesellschaftsbildung. Wir haben keine Staaten, keine Nationen, keine Präsidenten, keine Premiers, keine Häuptlinge, keine Generäle, keine Bosse, keine Bankiers, keine Hausbesitzer, keine Löhne, keine Wohlfahrt, keine Polizei, keine Soldaten, keine Kriege. Und auch sonst haben wir nicht viel. Wir sind Teiler, nicht Besitzer. Wir sind nicht wohlhabend. Keiner von uns ist reich. Keiner von uns ist mächtig. Wenn es Anarres ist, was ihr wollt, wenn es die Zukunft ist, die ihr sucht, dann sage ich euch, dass ihr mit leeren Händen zu uns kommen müsst. Ihr müsst allein kommen, und nackt, wie das Kind auf die Welt, in seine Zukunft kommt, ohne Vergangenheit, ohne Besitz, ganz und gar abhängig von anderen Menschen. Ihr könnt nicht nehmen, was ihr nicht gegeben habt, und ihr müsst euch selber geben. Ihr könnt die Revolution nicht kaufen. Ihr könnt die Revolution nicht machen. Ihr könnt nur die Revolution sein. Sie ist entweder in euch, oder sie ist nirgends.« Als er endete, übertönte der ratternde Lärm näher kommender Polizeihubschrauber seine Stimme.
Wir veröffentlichen diese Auszüge mit freundlicher Genehmigung von © S. Fischer Verlag GmbH (Frankfurt am Main), wo das Buch von Ursula K. Le Guin zuletzt 2017 unter dem Titel „Freie Geister“ erschien und von Karen Nölle aus dem Amerikanischen übersetzt wurde. Zitiert wurde aus der 4. Auflage des Wilhelm Heyne Verlags München von 1993 [1976] , bei dem der Roman in einer Übersetzung von Gisela Stege unter dem Titel “Planet der Habenichtse” erschien.