Von der internationalen Linken stark beachtet, fanden am 12. und 19. Juni die beiden Wahlgänge der französischen Parlamentswahl statt. Dabei stellte sich die Frage, ob es dem im April gewählten Staatspräsidenten Emmanuel Macron gelingen würde, sich die für die Fortsetzung seiner Agenda notwendige parlamentarische Mehrheit zu sichern. War dies in der Vergangenheit meistens reine Formsache, stellte sich die Situation dieses Mal völlig anders da. Dem knapp am Einzug in die Stichwahl gescheiterten Jean-Luc Mélenchon, Kandidat der Bewegung von „La France insoumise“(LFI), war es gelungen, die Parlamentswahl zur „Dritten Runde“ der Präsidentschaftswahlen aufzuwerten. Denn auf seine Initiative schlossen sich alle wichtigen Linksparteien Frankreichs zum Bündnis „La Nouvelle Union populaire ecoloqique et sociale“ (NUPES) zusammen. Ein gemeinsames Wahlprogramm, dass 650 Punkte umfasste, wurde erarbeitet, und bereits im 1. Wahlgang trat NUPES mit Einheitskandidaturen an, um so die Qualifikation für die Stichwahlen durch zu große interne Konkurrenz nicht zu gefährden. Im Falle eines Wahlsieges des NUPES-Bündnisses verpflichteten sich alle beteiligten Parteien Jean-Luc Mélenchon zum Premierminister zu wählen. Dieser kandidierte allerdings selbst nicht für ein Mandat in der französischen Nationalversammlung, welcher er zwischen 2017 und 2022 angehört hatte. Folglich kann Mélenchon die Arbeit des NUPES-Bündnisses seit dem 19. Juni 2022 nur noch von außen begleiten.

Durch NUPES kann die Linke ihre Sitzzahlen im Parlament mehr als verdoppeln

Auch wenn NUPES das Ziel, eine eigene Regierungsmehrheit zu erhalten, deutlich verfehlte, muss das Ergebnis dieser Parlamentswahl als Erfolg der vereinigten Linken bewertet werden. So trug die Politisierung der Wahlkampagne nicht nur dazu bei, dass sich das macronistische Lager einer Debatte über die eigenen Ziele für die nächsten fünf Jahre ausgesetzt sah, während Macron eigentlich geplant hatte, wie schon bei der Präsidentschaftswahl einen Nichtwahlkampf zu führen. Im Ergebnis hat sein Lager die eigene parlamentarische Mehrheit verloren und um ganze 43 Mandate verfehlt. Dagegen gelang es mit der Einigung der Linken in Form von NUPES, dass die Anzahl der linken Mandate in der Nationalversammlung sich mehr als verdoppelte. Dazu kommen noch Abgeordnete aus den Überseeterritorien, wo die Linke die Wahlen deutlich gewann (Dejan/Graulle 2022). In der neu konstituierten Nationalversammlung verfügt NUPES über 151 Abgeordnetenmandate. Davon entfallen 75 Mandate auf LFI, 31 auf die sozialdemokratische „Parti Socialiste (PS), 23 auf die Grünen (EELV), sowie 22 auf die Kommunistische Fraktion (PCF). 

Die Wahlergebnisse aus den Überseegebieten sind tatsächlich bemerkenswert. Hier existierte zwar kein NUPES-Bündnis. Linke Kandidat*innen konnten hier aber 18 von 27 Mandaten gewinnen. Alle diese gewählten Parlamentsmitglieder hatten spätestens vor dem zweiten Wahlgang ihre Unterstützung für das Linksbündnis bekannt gegeben. Zentrale Themen waren hier die Forderung nach Schaffung bzw. Stärkung der politischen Autonomie der einzelnen Regionen. Aber auch die dort zum Teil miserablen sozialen und ökonomischen Verhältnisse waren für die Wahlergebnisse ausschlaggebend. In Europa kaum bemerkt, kam es auf Guadeloupe und Martinique im letzten Winter zu teils heftigen Protesten gegen die Covid-Politik der französischen Regierung im Mutterland. Beklagt wurde die rein repressive Logik, mit der die harten Einschränkungen des öffentlichen Lebens durchgesetzt wurden, während die Mängel im öffentlichen Gesundheitssystem eklatant blieben. In Französisch-Guyana wurde so zum Beispiel ein Streikführer, der 2017 an der Spitze einer Bewegung gegen Arbeitslosigkeit, hohe Lebenshaltungskosten und Kriminalität stand, für die Linke ins Parlament gewählt. In Französisch-Polynesien gewann zu ersten Mal die Linke alle drei Mandate (Sartre 2022).

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Neben den Erfolgen in Übersee punktete das NUPES-Bündnis vor allen Dingen in vielen traditionellen Hochburgen der Linken. Dazu gehört auch der Pariser Osten und in weiten Teilen des alten „roten Gürtels“ der sich einst um die französische Hauptstadt gelegt hatte. Hier dominierte die Kommunistische Partei über Jahrzehnte die Kommunalpolitik. Dennoch scheiterte NUPES daran, auch in den ländlichen Räumen und der Peripherie in großem Stil Erfolge zu erzielen.

Ein Grund, weshalb der ganz große Durchbruch letztendlich ausblieb, dürfte die niedrige Wahlbeteiligung gewesen sein. Besonders die Jüngeren blieben den Wahlen fern: Gerade einmal 34 Prozent der 18- bis 34-jährigen Wahlberechtigten gaben ihre Stimme ab. Und dies obwohl, Jean-Luc Mélenchon diese Wählergruppe bei den Präsidentschaftswahlen am stärksten unterstützt hatte. Auch bei Angestellten und Arbeiter*innen war die Wahlbeteiligung sehr niedrig, was ebenfalls ein Nachteil für das Bündnis gewesen sein dürfte. Offensichtlich wird der Politik allgemein nur noch wenig Glaubwürdigkeit beigemessen und die Hoffnung auf schnelle Veränderung ist gering. 

Die gefestigten ideologisch und personell verankerten Parteien sind in Frankreich faktisch zerfallen und an ihre Stelle drei Blöcke getreten, die sich aktuell um Persönlichkeiten, wie Macron, Mélenchon oder Le Pen gruppieren (Escalona 2022). Das politische Erfolgsmodell Mélenchons bestand in den letzten Jahren darin, für eine nationale, aber solidarische und relativ weltoffene politische Strategie zu werben, während gleichzeitig ein „Bruch“ mit der repressiv und zentralistischen Funktionsweise der Fünften Republik popularisiert wurde. Besonders bei der jungen Generation wurde die Bedeutung der Parlamentswahlen nicht deutlich genug. Sie sah in den in ihnen oft nur einen formalen Bestätigungsakt.  Die Phasen, in denen „gaullistische“ oder „sozialdemokratische“ Präsidenten mit politisch anders gefärbten Parlamenten zusammenarbeiten mussten, liegen schon mehr als ein Vierteljahrhundert zurück und somit außerhalb ihrer eigenen Erfahrung. Zudem macht es das Mehrheitswahlrecht, welches die Bürger*innen zwingt, Kandidat*innen vor Ort in den Wahlkreisen zu wählen, die oftmals keinen Bezug zur Region oder Gemeinde haben, schwer sich mit der Nationalversammlung zu identifizieren.

Und nicht zuletzt führte die Blockbildung dazu, dass in Stichwahlen kaum Stimmentransfers zwischen den Lagern zu verzeichnen waren. NUPES hatte darauf gehofft, dass das präsidiale Lager angesichts der Bedrohung durch die ultrarechte Partei „Rassemblement national (RN) punktuell zur Bildung einer „republikanischen Front“, jener Übereinkunft aller etablierten Parteien von links bis rechts, die von den späten 1980ern bis in die 2000er Jahre selbstverständlich war, aufrufen werde. Doch man musste zur Kenntnis nehmen, dass das Macron-Lager stattdessen die Extremismusthese auspackte, und das angeblich linksextremistische NUPES-Bündnis mit dem RN gleichsetzte. Dies führte dazu, dass sich ein Großteil der Wähler*innen Macrons in Stichwahlduellen zwischen NUPES und dem RN enthielt und sich dieser in mehr als der Hälfte der Fälle gegen die NUPES-Kandidat*innen durchsetzen konnte.

„La France insoumise“ ist Taktgeber von NUPES 

Die Verortung von NUPES im linksradikalen Spektrum hat allerdings wenig mit der Realität zu tun. Sicherlich hat mit LFI die politisch schärfste und den bestehenden Strukturen am kritischsten gegenüberstehende Formation die Führungsposition innerhalb des Bündnisses übernommen. Doch wer sich mit Mélenchons Schriften befasst, wird relativ schnell feststellen, dass weder dieser noch LFI für eine kurzfristige Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung durch einen militanten Umsturz stehen. Vielmehr finden sich bei Mélenchon Überlegungen, wie sehr ethische und moralische Kategorien eine zentrale Rolle für politisch verantwortlichen Akteure spielen sollen. Für ihn muss sich Politik am Allgemeinwohl orientieren. Dieses beginne mit einer konsequenten Demokratisierung des öffentlichen Lebens. LFI geht es um die Schaffung einer Sechsten Republik, die neben starken basisdemokratischen Zügen parlamentarisch legitimiert wird. War es ursprünglich die Idee, nach deutschem Vorbild alle linken Kräfte in einer gemeinsamen Linkspartei zu vereinen, änderte sich die Strategie in den letzten Jahren. Für die LFI galt es nun, die vereinzelten Aktivist*innen und Bürger*innen in einer „parti hors murs“ (Partei ohne Mauern) zu vereinigen. Dies lag in Einklang mit Mélenchons Analyse, dass die Arbeiter*innenbewegung nicht mehr in der Lage sei, eine Massenorganisierung wie einst die Arbeiter*innenparteien oder aber die Gewerkschaften zu gewährleisten. An die Stelle der Massenorganisationen sei eine Gesellschaft der Individuen getreten, die sich einerseits vermehrt für das Recht auf die Gewährung des Rechts auf Selbstbestimmung einsetze, demzufolge aber auch kollektive interessengeleitete Akteure innerhalb der Massengesellschaft agieren könne. Diese gelte es zu vernetzen (Salles Papou 2021).

Vor diesem Hintergrund entstand 2016 „La France insoumise“, das sich als Vorfeldorganisation der „Parti de gauche“ (Linkspartei) verstand und Aktivist*innen gewinnen wollte, die sich jenseits der Linksparteien überparteilich und auf persönlicher Basis engagieren wollten. Damals dominierte allerdings innerhalb der LFI die Logik einer totalen Distanz zu Staat, Macht und anderen Linksorganisationen, weshalb das „aufständige Frankreich“ nach Jean-Luc Mélenchons erstem Erfolg bei den Präsidentschaftswahlen 2017 nicht wirklich in zählbares umsetzen konnte, denn die solitäre Strategie zahlte sich politisch nicht aus. Zudem brachte die formlose Struktur Probleme mit sich. Aufgrund nicht existenter formaler Entscheidungsgremien wurde die Basis allein darauf begrenzt ausführende Tätigkeiten zu übernehmen. Andererseits wurde ihr vor Ort in diesem Rahmen völlige Aktionsfreiheit überlassen.

Die Strategie der Abgrenzung wurde mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen 2022 verändert. Zwar schlossen Mélenchon und LFI weiterhin eine Zusammenarbeit mit den Gremien der übrigen Linksparteien aus, doch jenseits von LFI, die Linkspartei hatte inzwischen jede Funktion verloren, wurde nun erneut eine Vorfeldstruktur geschaffen. Die „Union populaire“ („Volksunion“) wurde aus der Taufe gehoben. Diese gab sich ein „parlement“, in welches erfolgreich Akteure aus der Zivilgesellschaft und den sozialen Protestbewegungen der ersten Präsidentschaft Macrons integriert wurden. Eine Mitarbeit in diesem Parlament der „Volksunion“ war allerdings nicht mit der Erwartung verbunden, sich auch politisch innerhalb der LFI zu engagieren. Vielmehr diente dieses Gremium als intellektuelle Legitimierung der neuerlichen Kandidatur Mélenchons. Freilich gelang es durch diese offene Form allerdings auch, führende Aktivist*innen der Klimabewegung für die „Union populaire“ zu gewinnen und den französischen Grünen damit einen relevanten Teil ihrer potenziellen Unterstützer*innenschaft zu entziehen.

Zudem öffneten sich in den französischen Banlieues für die LFI viele Türen, nachdem sich die Bewegung und Mélenchon öffentlich lautstark gegen den immer weiter um sich greifenden rechten Diskurs gewehrt hatten, der die Bewohner*innen der Vorstädte zu separatistischen Staatsfeinden erklärte und als alleinige Antwort auf die Segregation kulturelle und polizeiliche Repression anbot. Selbst die französische Sozialwissenschaft wurde aufgrund ihrer Versuche, die Entwicklungen und Zustände zu beschreiben, dem Verdacht ausgesetzt mit „Islamisten“ zu kooperieren. Mélenchon setzte dem die These der „Kreolisierung“ entgegen. Zwar sei Frankreich auch weiterhin eine einheitliche Nation. Nur unterliege diese einer ständigen ethnischen und kulturellen Neudefinition. Viele Basiskomitees unterstützten LFI in der Folge im Wahlkampf, reagierten auf die Gründung des NUPES allerdings enttäuscht. Denn etliche für die Parlamentswahl bereits aufgestellte Kandidat*innen aus den Vorstädten mussten auf ihre Kandidaturen aufgrund interner Absprachen und der Wahlkreisverteilung wieder verzichten. Die Frage, ob die etablierte Politik gegenüber den Vorstädten weiterhin nur paternalistisch agiere, wurde heftig diskutiert. Ein Konflikt, der bis heute nicht gelöst ist.

Die Spaltung der Linken führt zur Niederlage – NUPES soll eine Antwort sein

Im Angesicht der eigenen, äußerst schlechten Wahlergebnisse bei den Präsidentschaftswahlen im April wurde auch innerhalb der Grünen und der Sozialdemokratie intensiv diskutiert, wie bei den Parlamentswahlen eine weitere deutliche Niederlage verhindert werden könnte. Klar war, dass eine erneute feindselige Kampagne der Linksparteien gegeneinander, wie sie sich im Präsidentschaftswahlkampf entwickelt hatte, nicht zielführend sein würde.[1] Es war letztlich die Angst vor einer erneuten Niederlagen bei den Parlamentswahlen, welche die drei linken Parteien das Angebot für eine vertiefte Zusammenarbeit mit der LFI annehmen ließ. Nur die Dynamik, die Mélenchon erneut in seinem Wahlkampf hatte entfachen können, würde es ermöglichen, dass auch Grüne, Kommunisten und Sozialdemokraten (wieder) mit Fraktionen in der Nationalversammlung vertreten sein könnten, so hoffte man. Die politische Eigenständigkeit der Formationen sicherten sich alle Beteiligten gegenseitig zu.

Von Anfang an regte sich allerdings auch Widerstand, der in der Sozialdemokratie am lautesten ausfiel und sich bis heute fortsetzt. Es sind vor allen Dingen der ehemalige Staatspräsident Hollande und einige seiner engsten Vertrauten, die sich der Linksentwicklung der Partei entgegenstellen und keine Infragestellung des stufenweisen Rechtsrucks der Partei zulassen wollen. Dabei wird Hollandes Präsidentschaft immer mit Steuersenkungen für Vermögensbesitzer*innen, der Deregulierung des Arbeitsrechts und der Verhängung des Ausnahmezustands verbunden bleiben. Zudem machte Emmanuel Macron als Konstrukteur der neoliberalen Reformen seine ersten politischen Schritte. Macron ist ein Produkt Hollandes. Dieser Debatte allerdings möchten sich die „Hollandisten“ nicht stellen.

Das gemeinsam verabschiedete Programm der NUPES beinhaltet zahlreiche soziale Sofortforderungen, wie die Deckelung der Preise für Energie und Lebensmittel. Ebenso soll der Mindestlohn deutlich steigen und eine Grundsicherung für junge Menschen in Ausbildung eingeführt werden, die keinen Anspruch auf Sozialleistungen haben. Radikal soll gegen den Klimawandel vorgegangen werden. Der „sozial-ökologische“ Wandel soll nicht nur hunderttausende neue Arbeitsplätze schaffen. Auf diese Weise soll auch eine größere Autonomie Frankreichs in Ernährungs- und Energiefragen ermöglicht werden. In die gleiche Richtung zielt die formulierte EU-Kritik. Zwar rückte LFI davon ab, dass auch ein Austritt aus der EU politisch möglich bleiben müsse, dafür gestanden Grüne und Sozialdemokratie allerdings den neoliberalen Charakter der Europäischen Union ein (reporterre.net 2022).

Zwar haben die NUPES-Fraktionen inzwischen ein gemeinsames Koordinierungsgremium gegründet. Die wahren Schwierigkeiten stehen für NUPES allerdings erst noch bevor. Denn die eigentliche Rolle des Bündnisses bleibt erst einmal unklar, nachdem Emmanuel Macron und Premierministerin Élisabeth Borne nach wie vor auf der Suche nach politischen Mehrheiten sind. Die Versuche vonseiten der Regierung, NUPES zu spalten, indem inzwischen nur noch LFI als „linksradikal“ bezeichnet wird, sowie die Gefahr der Profilierungsversuche der einzelnen Partner*innen, könnten zur Bedrohung für NUPES werden. Allerdings haben Grüne und PS weit besser abgeschnitten, als es ohne NUPES zu erwarten gewesen wäre. Deshalb wird in diesen beiden Parteien offener Widerstand gegen das Projekt erst einmal gering ausfallen. Zumal im Angesicht des Erfolges des RN, der sich von 8 auf 89 Mandate steigern konnte, eine gewisse Erwartung einer geeinten Linken als alternativer Pol zur „faschistischen Gefahr“ von der linken Zivilgesellschaft erwartet wird. Dieser Druck führte bereits vor den Wahlen dazu, dass nicht nur auf nationaler Ebene das Parlament der „Union populaire“ um Verteter*innen der anderen Parteien erweitert wurde, sondern auch lokal derartige Diskussionszusammenhänge geschaffen wurden. Eine Vertiefung „von unten“ und auch durch Intellektuelle und Kulturschaffende scheint möglich. 

Ein Vorbild für Deutschland?

Die Übertragbarkeit der Erkenntnisse von NUPES sind sicherlich begrenzt. Die Bedeutung politischer Parteien in der personalisierten Fünften Republik ist deutlich geringer als in Deutschland, was sich in der ständigen Neugründung um Umbenennung politischer Formationen zeigt. 

Zudem führt mit LFI der am weitesten links stehende Beteiligte das Bündnis an. Schon der überstürzte Versuch, in Reaktion auf das Entstehen von LFI mit „Aufstehen“ eine ähnliche Bewegung in Deutschland im Vorfeld des „Mitte-Links“-Lagers ins Leben zu rufen, schlug bekanntlich fehl. „La France insoumise“ wurde im Gegensatz zu „Aufstehen“ aus der französischen Linkspartei heraus geschaffen. Damit verbunden war auch eine klare politische Begleitung der Bewegung durch politisch erfahrene Aktivist*innen. Somit gab es niemals die Problematik, welches Verhältnis zwischen Partei und Bewegung nun eigentlich bestand. 

Zudem verfügt die französische Linke über eine starke gemeinsame Identität, welche die Ideen der Aufklärung mit den sozialen Kämpfen und deren Köpfen des 19. und 20. Jahrhunderts verbindet und die in der starken Affinität für eine soziale, aber durchaus national konnotierte Republik kulminiert. Die deutsche LINKE sollte deshalb eine Debatte darüber führen, welche auch symbolischen Anknüpfungspunkte an die radikal demokratische Tradition gewählt werden können. Auch die Proteste von 1848 in den deutschen Staaten entstanden als Ausdruck der Empörung über Autoritarismus und soziale Not. Die LINKE sollte solche progressiven Momente der deutschen Geschichte viel offensiver nutzen und bewusstmachen, dass die deutsche Linke stets ein Ort war, der soziale und demokratische Gegenöffentlichkeit ermöglicht hat. In der französischen Linken ist das Geschichtsbewusstsein Kernmerkmal des Selbstverständnisses, daran kann auch die LINKE anknüpfen und als sich als moderne Triebfeder dieser historischen Entwicklungslinie sichtbar machen.

Darüber hinaus bedarf es einer klareren Debatte, welche sozialen Gruppen auf welche Weise erreicht werden sollen. Es wird nötig sein, gezielter und langfristiger auf die besonders von sozialer Ausgrenzung betroffenen gesellschaftlichen Gruppen zuzugehen. LFI begann mit seiner Kampagne in den Banlieus für die Präsidentschaftswahlen schon im Oktober des vergangenen Jahres. Soziale Empörung in den Quartieren muss durch die Unterstützung von Aktivist*innen zum Ausdruck gebracht werden. Hierbei geht es um ganz alltagspolitische Probleme, wie Mängel und Schäden an der Wohnsubstanz, unzureichende Müllentsorgung und ähnliches. Ohne Frage müssen auch die migrantischen Milieus stärker angesprochen werden und als neue Arbeiter*innenklasse konsequent vertreten werden. Auch hier gilt es, Akteure aus diesen Reihen stärker in die Parteiarbeit einzubinden. Menschen mit Migrationserfahrung bleiben auch in Deutschland oft genug unsichtbar und werden von der etablierten Politik als Sündenböcke missbraucht, um Spaltungen innerhalb der Unterklasse zu erreichen. Dagegen hatte die mélenchonistische Linke den Mut, strukturellen Rassismus, Armut und Polizeigewalt offen zu thematisieren, was in Frankreich in dieser Form ein Novum war. 

Es wird auch darauf ankommen, Freiräume für aktivistische Arbeit zu schaffen, die nicht durch die Enge der alltäglichen parteipolitischen „Bürokratie“ erstickt werden. Über sie muss es gelingen, zu einer wirklichen Verankerung vor Ort zu kommen und die erarbeiteten Themenfelder zu vertiefen. 

[1] Hier war Mélenchon nicht nur eine zu nachgiebige Haltung gegenüber Russland vorgeworfen worden, sondern auch seine nuancierte Position im Umgang mit den „Nicht-weißen“ Bevölkerungsgruppen von Vertreter*innen der Grünen bzw. der Sozialdemokratie immer wieder vorgehalten worden. Vonseiten des PCF grenzte man sich als konsequentere Arbeiter*innenpartei von der LFI ab und vertrat zudem als einzige linke Kraft die Forderung nach einem Ausbau der Kernkraft.

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