Die gesellschaftliche Linke in Deutschland steht heute vor einer Situation, die mit jener von 1990 vergleichbar ist: Sie läuft Gefahr, ihre parlamentarische Präsenz zu verlieren und damit die Möglichkeit, gesellschaftliche (Massen-)Bewegungen mit parlamentarischem Gewicht zu verbinden. Diejenigen, die »es schon immer gewusst haben«, die sich in Kleingruppen einigeln oder meinen, bis zu einer besseren Zeit »überwintern« zu können, wird dies gar freuen. In Wirklichkeit ist das eine politische Katastrophe.

Angesichts der tiefen Krise der LINKEN wird gelegentlich auf die alte PDS und ihre Rolle als »Kümmererpartei« verwiesen. Dies könne – so die Hoffnung – ein Erfolgsrezept insbesondere für die ostdeutschen Bundesländer sein, wo die Verluste an Wähler*innenstimmen und an aktiven Mitgliedern besonders dramatisch sind. Tatsächlich lässt sich aus der Praxis der frühen PDS für heute einiges lernen, auch wenn sie aus einer einzigartigen politischen Situation heraus entstanden ist. Es lohnt sich, genauer hinzusehen, wie es damals gelang, »Partei für den Alltag« zu sein und deshalb zu überleben. Zu fragen wäre, was heute äquivalente Praxen wären und warum die Idee einer »Partei von unten« im Laufe der letzten Jahrzehnte eher verkümmert ist.

Das Besondere an der Situation 1990

Im Mai 1989 wurde klar, dass die Ergebnisse der Kommunalwahlen in der DDR gefälscht waren. Diese unsinnige Manipulation – ob die Zustimmung zu der einzig verfügbaren Liste nun bei 99 oder bei 60 Prozent lag, war nicht entscheidend, – wurde zusammen mit der Massenflucht zum Katalysator für eine Entwicklung, in der lange angestaute Widersprüche und Spannungen sich entluden. Das Vertrauen in die Staatsmacht ging verloren und im Laufe des Jahres 1989 entstanden unzählige neue Organisationen, Initiativen und Parteien. Die bisher dominierenden zerfielen.

Als Ende Dezember 1989 klar wurde, dass ein Beitritt der DDR zur BRD kaum mehr zu verhindern war, standen die Mitglieder der zerfallenden SED vor der Alternative, die Partei aufzulösen oder sie neu auszurichten und gemeinsam in die politische Opposition zu gehen. Ein Sonderparteitag entschied sich für den Weiterbestand unter der Voraussetzung eines radikalen »Bruchs mit dem Stalinismus als System«. Dieser Neustart war verbunden mit einer konsequenten Kritik bisheriger Praxen und Theorien sowie mit dem Bruch mit der bisherigen Organisationslogik. Die »Avantgarde-Partei« mit Stützen in allen staatlichen Strukturen musste zu einer offensiven Oppositionspartei umgebaut werden. Obwohl massenhaft Mitglieder die Partei verließen, gelang es, ihre breite gesellschaftliche Verankerung zu erhalten und neu auszurichten. Das allein war die Chance für das Überleben der neu geschaffenen SED/PDS.

Ihre Mitglieder waren mehrheitlich getrieben vom Enthusiasmus einer Zeit, in der die Welt veränderbar schien (vgl. Tröger in diesem Heft). Sie kamen aus einem Milieu, das bereit war, im Hier und Heute zu leben und gleichzeitig über die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse hinauszudenken. Die Partei stützte sich auf einen Kern der von sozialistisch-kommunistischen Idealen Überzeugten. Ihr Umfeld war hinreichend groß, qualifiziert sowie fachlich und organisatorisch erfahren, um ein neues politisches Projekt zu wagen. In diesem Erneuerungsprozess kristallisierten sich vier Eckpunkte für die erfolgreiche Entwicklung einer sozialistischen Partei heraus:

  • eine selbstkritische Reflexion der eigenen Geschichte im Kontext der Entwicklung der sozialistischen Linken (Anti-Stalinismus);
  • eine organisationspolitische und kulturelle Verknüpfung von Partei und sozialer Bewegung sowie eine kulturelle Aufgeschlossenheit gegenüber anderen emanzipatorischen Akteuren (Bewegungspartei);
  • die Koordination analytischer, programmatisch-strategischer und konzeptioneller Arbeit von unten (das heißt aus den basisnahen Strukturen) als besondere Aufgabe der Vorstände (Parteidemokratie);
  • ein aktives Bemühen um politische Bündnisse pro Demokratie, Gerechtigkeit, Solidarität und Ökologie (Bündnisorientierung). 

Vor allem die alte Idee der Arbeiter*innen­bewegung, als Partei auch gesellschaftliche Kraft, also Bewegung zu sein, gewann in dieser historischen Situation an Bedeutung. Es ging den Protagonist*innen nicht darum, eine »Partei links der SPD« zu schaffen, sondern darum, an den sozialistischen Idealen festzuhalten, aber einen radikalen Bruch mit der hierarchisch autoritären Parteikultur der SED zu vollziehen. Dazu gehörte, offen gegenüber jenen zu sein, die sich mit anderen politischen Biografien für Gerechtigkeit und Solidarität oder für einen demokratischen Sozialismus engagierten. Der Umbau der Organisationskultur sollte es ermöglichen, die Ziele und Praxis der Partei aus dem politischen Alltag heraus zu bestimmen. Da die Akteure dieses Neustarts vor allem in den ostdeutschen Bundesländern lebten, war der Bezug der jungen PDS auf Ostdeutschland organisch, keine äußere Zuschreibung und auch kein konstruiertes Alleinstellungsmerkmal. Es ging nicht um eine Politik für Ostdeutsche, sondern um sozialistische Politik in und aus Ostdeutschland, um die Gesellschaft der Bundesrepublik und Europa zu verändern – weil eine andere Welt möglich und nötig war.

Neue Strukturen, neue Praxen

In dem 1991 per Urabstimmung beschlossenen Parteistatut nahmen Fragen innerparteilicher Demokratie sowie die Rolle der Mitglieder und ihrer Selbstorganisation breiten Raum ein. Die strategischen Richtungsbestimmungen sollten über Interessen- und Arbeitsgemeinschaften erfolgen, die auch für Nicht-Mitglieder offen waren. Lokale und alltägliche Fragen, strategische Überlegungen und konkrete Projekte sollten durch das Gleichgewicht von Wohnort- und fachlichem Bezug verbunden werden. Das in der SED bestehende Verbot von Plattformen wurde aufgehoben, die Selbstorganisation der Mitglieder in eigenen Strukturen als wünschenswert erklärt. Diese sollte durch den Vorstand und die Geschäftsstelle der Partei organisatorisch unterstützt werden. In diesem Prozess entwickelte die PDS auch ein neues Repräsentationsverständnis. »Interessen zu vertreten« bedeutete eben nicht, das Politikmachen für andere zu übernehmen, sondern Politik mit jenen gemeinsam zu entwickeln, die man zu vertreten meinte, und dies auch organisationspolitisch zu ermöglichen.

Im Alltag der frühen 1990er-Jahre bedeutete das zuvorderst, in den sich rasant vollziehenden gesellschaftlichen Zerfalls- und Entsolidarisierungsprozessen Orientierung und einen gemeinsamen Handlungsraum anzubieten. »Kümmererpartei« hieß entsprechend, eine kollektive politische Bearbeitung sozialer Probleme zu ermöglichen. Es hieß, einen Raum zu bieten, in dem politische Alternativen zu den Privatisierungs- und Entlassungswellen entworfen werden konnten, und zwar in solidarischem Miteinander und im Gegensatz zum »Hauen und Stechen«, das die meisten in ihrem Alltag erlebten.

Viele der damaligen Parteimitglieder waren gleichermaßen in sozialen Bewegungen und in den Arbeitsgemeinschaften der PDS aktiv. Sie wollten die Arbeit zu konkreten Politikfeldern nicht an Berufspolitiker*innen oder »Hauptamtliche« delegieren. Parteipolitik sollte eine aktive Suche nach Gemeinsamkeiten mit anderen demokratischen und humanistischen Akteur*innen sein. Es ging darum, Wege der Milderung und Lösung zu suchen, sowohl für die konkreten Probleme vor Ort als auch für die Krisen im globalen Maßstab.

Neues bewährt sich: Hilfe für die Initiative von Betriebs- und Personalräten

Aus diesem neuen Organisationsverständnis ergab sich auch die Unterstützung der Abwehrkämpfe gegen den Anschluss der DDR an die alte Bundesrepublik. Es ging um solidarische Alternativen zur bloßen Unterwerfung und Abwicklung. Diese Auseinandersetzungen  reichten vom Widerstand gegen den Abbau von Arbeitsplätzen und die Schließung von Polikliniken bis hin zur Kritik an der allgemeinen sozialen Benachteiligung Ostdeutscher, auch und insbesondere über die Renten. Eine besondere Bedeutung hatte die Frage nach der wirtschaftlichen Zukunft der ostdeutschen Bundesländer, standen die Menschen dort doch ab 1991 vor einer Welle von Entlassungen und Betriebsschließungen.

Die Unterstützung der zunächst Berliner, dann ostdeutschen gewerkschaftlichen Initiative von Betriebs- und Personalräten war für das neue Politikverständnis und die neue politische Praxis eine Art Feuerprobe. Bereits in den letzten Monaten der DDR waren hier und da Betriebsräte entstanden. Vor die Wahl gestellt zwischen Anpassung und Widerstand fanden sich in Berlin einige von ihnen zu politischen Aktionen und einer offensiven Auseinandersetzung mit den Herrschenden und Regierenden, insbesondere mit der Treuhandanstalt, zusammen. Sie wurden nun zu Organisator*innen des Widerstands der Belegschaften und Gewerkschaftsmitglieder. Für viele von ihnen war die PDS nicht unbedingt die erste Adresse, standen sie doch der SED als Vorgängerpartei der PDS eher gleichgültig oder skeptisch gegenüber. Jedoch gingen einige PDS-Funktionär*innen, unter anderem der gewerkschaftspolitische Sprecher des Parteivorstands, Jakob Moneta, auf sie zu, um nicht nur politische, sondern auch technisch-organisatorische Hilfe anzubieten. So kam aus dem Karl-Liebknecht-Haus nicht nur verbale Solidarisierung, sondern es wurde geholfen, Lautsprecher und Tribünen zu finden, Flugblätter einzutüten, Presseerklärungen zu redigieren oder zu verbreiten und vieles mehr.

Die ostdeutsche Initiative von Betriebs- und Personalrät*innen und ihre gewerkschaftlichen Unterstützer*innen organisierten zahlreiche Aktionen und drei Konferenzen. So kamen bei der zweiten Konferenz etwa 250 gewählte Belegschaftsvertreter*innen zusammen, die rund 112 000 Beschäftigte repräsentierten. Viele waren gegen den erklärten Willen der IG Chemie aus dem ostdeutschen Chemie-
dreieck BUNA, Leuna, Bitterfeld-Wolfen angereist und zeigten selbstbewusst ihre Gewerkschaftsfahne: »Wir sind die Gewerkschaft!«. Die meisten Gewerkschaftszentralen warfen den gewerkschaftlich Aktiven, die sich erstmalig in der Geschichte der Bundesrepublik über die Grenzen von Branchen- und Bundesländern hinweg organisierten, Spaltung vor. Der Berliner Landesvorsitzende der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV), Manfred Müller, hingegen unterstützte die Initiative von Beginn an.

Mit ihren parlamentarischen Initiativen begleitete die Gruppe PDS/Linke Liste bzw. später die PDS-Gruppe die Kritik der Initiative an der Bundesregierung und der Treuhandanstalt. Im Zusammenwirken von Parlamentarier*innen in Bund und Ländern, den Arbeitsgemeinschaften Betrieb und Gewerkschaft, Wirtschaftspolitik sowie der Interessengemeinschaft Arbeit, Gesundheit und Soziales wurden Konzepte erarbeitet, die darauf zielten, den Kahlschlag in allen wirtschaftlichen und sozialen Bereichen zumindest abzumildern. Gleichzeitig bildeten sich im Umfeld der Partei viele Initiativen, die Sozialberatung anboten.

Die Partei begleitete außerdem den Streik der IG Metall zur Verteidigung des Stufenplans für die Annäherung der Löhne im Osten an die im Westen und gegen den Versuch, über Öffnungsklauseln das Tarifsystem auszuhebeln. In den Jahren 1992/93 spitzten sich die Kämpfe um die Berliner Batteriefabrik BELFA und das Bischofferoder Kaliwerk »Thomas Müntzer« zu. Der Betriebsratsvorsitzende von BELFA, Peter Hartmann, gehörte zu den Protagonisten der Betriebs- und Personalräte-Initiative, die zu Aktionstagen nach Bischofferode aufrief. Sie wollte einen Erfolg dieser so engagiert kämpfen­den Belegschaft nach Kräften ermöglichen. Und ausgerechnet aus Bischofferode wurde Gregor Gysi um Beistand angerufen, den er auch leistete.

Eine ähnliche Bereitschaft zur politischen und praktischen Hilfe zeigten auch die PDS-Aktiven aus dem Betriebsräte-Aktionsbündnis »Thüringen brennt«, das sich für den Erhalt von dortigen Arbeitsplätzen starkmachte. Die Landesvorsitzende Gabi Zimmer war bei den zahlreichen Demonstrationen präsent und der parteilose Chef der Thüringer PDS-Landtagsfraktion, Roland Hahnemann, nahm sogar am Hungerstreik der Bischofferoder Kalikumpels teil. Lothar Adler und andere arbeiteten rund um die Uhr, um zu beschaffen, was gerade gebraucht wurde. Alle Aktivitäten der Partei sowohl im Thüringer Landtag als auch im Deutschen Bundestag wurden mit den Betroffenen abgesprochen. Diese Praxis überzeugte auch den damaligen Thüringer Landesvorsitzenden der HBV, Bodo Ramelow, mit der PDS zu kooperieren.

Viele der Kämpfe der damaligen Zeit wurden verloren, die politischen Erfahrungen und Kooperationen aber blieben. Die PDS erzielte in Thüringen und Berlin unerwartete Wahlerfolge: Manfred Müller gewann ein Direktmandat für die PDS in Berlin, der zunächst stellvertretende Betriebsratsvorsitzende des Kali-Werks Gerhard Jüttemann, der BELFA-Betriebsratsvorsitzende Hans-Peter Hartmann und Pfarrer Willibald Jacob zogen über die offenen Listen der PDS in den Deutschen Bundestag ein. Bodo Ramelow kandidierte als Parteiloser für ein PDS-Mandat im Thüringer Landtag und wurde wie Jüttemann und Jacob später Mitglied der PDS.

Verluste 

Viele Ideen und Praxen der damaligen Parteipolitik ließen sich jedoch nur schwer über diese Zeit hinaus retten. Das betrifft unter anderem die Rolle und das Selbstverständnis des Parteitages als »arbeitendes Gremium«. Der Vorstand sollte zu einem »Exekutivorgan« werden, wobei an den »Kommissionen« des Vorstands Delegierte des Parteitages thematisch mitwirken sollten. Dass dies nicht gelang, lag vor allem daran, dass sich die meisten Delegierten damit in zeitlicher Hinsicht überfordert sahen. Während die Quotierung weitgehend Realität wurde, scheiterten Ansätze der Rotation und Amtszeitbegrenzung. Das Anliegen, die PDS-Geschäftsstellen flächendeckend als soziale und kulturelle Begegnungspunkte zu gestalten, konnte aus finanziellen Gründen nur begrenzt realisiert werden. Letztlich konnte die Dynamik des Aufbruchs in den »Mühen der Ebene« nicht verstetigt werden. Im Zuge von Finanz- und Stasiskandalen und angesichts der Turbulenzen in den individuellen Lebensverhältnissen verlor die Partei viele jüngere Mitglieder, die den Wandel von der SED hin zur PDS vorangetrieben hatten. Und im Westen fanden sich viel zu wenig Linke, die bereit waren, diesen demokratischen Aufbruch mitzutragen. Nur eine zahlenmäßig starke bundesweite Mitglieder- und Bewegungspartei hätte ein solches Parteimodell erfolgreich umsetzen können.

Die PDS versagte in dem Maße, in dem sich die parlamentarische Präsenz konsolidierte und Wahlbeamt*innen zunehmend die Politik steuerten. Sie waren einer anderen administrativen Logik unterworfen, die oft für eine politische gehalten wurde. Das Leben der »Parteiinstanzen« und das der Parteibasis entfernten sich voneinander. Damit aber schwanden vielfach solidarische Beziehungen. Das »Wir« an der Basis wurde eher zum Ausdruck von Unzufriedenheit mit Vorständen, Fraktionen und Hauptamtlichen, es führte nicht zu neuen Laboratorien lebendiger Arbeitszusammenhänge und einer solidarisch ermutigenden Parteikultur (Dellheim et al. 2020, 3f) Außerdem änderte sich das Verhältnis der Partei zu ihren Wähler*innen. Ging es in den ersten Jahren um eine gemeinsam gelebte Praxis in gesellschaftlichen Turbulenzen, trat mit der soliden parlamentarischen Präsenz eine Stellvertreterpolitik in den Vordergrund. Parlamentarier*innen suggerierten, Probleme für die Menschen lösen zu können, auf die sie aber tatsächlich kaum Einfluss hatten. Diese uneinlösbaren Versprechen führten über die Zeit zu erheblicher Enttäuschung. Der parlamentarische Erfolg der Anfangsjahre wurde so – vor allem im Osten – auch zu einem Problem. 

Was bleibt?

Stand die PDS vor der Frage, wie sie sich als Massenpartei in Ostdeutschland eine der Zeit entsprechende Form geben konnte, steht die LINKE heute vor der Frage, wie sie wieder eine Partei mit Masseneinfluss werden kann und ob sie eine moderne sozialistische Partei werden will oder sich primär als »links von der SPD« versteht. Trotz radikal unterschiedlicher Ausgangspositionen geht es um ähnliche Probleme: um das Verhältnis zwischen sozialistischer Idee, »Parteiinstanzen«, Parteibasis und Parteianhänger*innen, um den Umgang mit den Interessen und Erfahrungen der Parteimitglieder und die Attraktivität einer Parteimitgliedschaft für praktisch orientierte »Gesinnungssozialist*innen«. Ein Schlüssel zum damaligen Erfolg lag im aktiven Kampf der Parteibasis sowie der Partei­funktionär*innen und Mandats­träger*innen um das Überleben der PDS als pluralistisch-sozialistische Partei. Das wäre auch für die LINKE noch eine Option.