Die LINKE ist in der Krise und ihre Zukunft ungewiss. In dieser Situation ist es hilfreich, die Erfahrungen derjenigen in den Blick zu nehmen, die in den 1990er-Jahren unter schwierigen Bedingungen die PDS neu aufbauten und ihr gesellschaftliche Achtung und parlamentarische Präsenz erstritten. In Thüringen gehörte Dieter Strützel (1935 –1999) zu ihnen. Er rieb sich an den DDR- wie an den West-Verhältnissen und setzte auf deren Veränderbarkeit. Sein Credo war: Ideen und Strategien im Dialog mit denen entwickeln, die ein vitales Interesse daran haben, die bestehenden Verhältnisse zu ändern, um ihr eigenes Leben zu gestalten.

Ein undogmatischer Sozialist

Nach dem Germanistikstudium, einigen Jahren als FDJ-Funktionär an der Karl-Marx-Universität Leipzig und seiner Promotion über das »Typische« wurde Dieter Strützel 1966 Lektor des Mitteldeutschen Verlags. 1970 wurden er und sein Verlagsleiter vom Kulturminister abberufen, »verzerrte Darstellungen der Wirklichkeit« lautete der Vorwurf nach der Veröffentlichung von Christa Wolfs »Nachdenken über Christa T.« und Erik Neutschs »Auf der Suche nach Gatt«. Zurück an der Karl-Marx-Universität wandte sich Strützel als Kulturwissenschaftler der Arbeitswelt zu und erkundete die Arbeitsbedingungen und -verhältnisse in Gießerei- und Chemiebetrieben in Leipzig und Umgebung. Die empirische Erfassung der Realität war für ihn eine Möglichkeit, der Dogmatik mit Tatsachen zu begegnen und Vorschläge für Veränderungen vorzubringen. Freilich braucht man Abnehmer für dieses Wissen. Als das Interesse in Leipzig versiegte, ging Strützel nach Jena. Mit seinem unkonventionellen Vortragsstil, seiner Diskussionsfreudigkeit und der detaillierten Kenntnis von Debatten genoss er dort hohes Ansehen. Im Peter-Weiss-Kreis näherte er sich mit anderen anhand der »Ästhetik des Widerstands« den tabuisierten Problemen der Geschichte der Arbeiterbewegung, fragte nach dem fortwirkenden Glutkern der kommunistischen Utopie und den Keimen sozialistischer Erneuerung. Die von Strützel 1986 bis 1988 geleitete Untersuchung zu den kulturellen Bedürfnissen der Jenaer Bevölkerung machte deutlich, dass diese mit den alltäglichen Lebens- und Arbeitsbedingungen zunehmend in Widerspruch geriet, in der Auswertung wurden Veränderungen der betrieblichen Arbeit, des Wohnungsbaus und der Stadtentwicklung angemahnt. Mit Perestroika und Glasnost standen die Zeichen auf tiefgreifenden Wandel. Strützel, der Anfang der 1980er-Jahre noch eine Parteistrafe erhalten hatte, weil er nicht gegen ein gemeinsames Friedensfest von FDJlern und Mitgliedern der Jungen Gemeinde eingeschritten war, wurde 1987 zum Parteiorganisator seiner Sektion Literatur- und Kunstwissenschaft gewählt. Den Aufbruch des Herbstes 1989 erlebte er als Chance für eine Reform und einen demokratischen Sozialismus in der DDR. In einer öffentlichen Vorlesung stellte er seinen Text »Überlegungen zu Grundsätzen und Zielen einer erneuerten SED« zur Diskussion und übernahm in der umgebildeten SED-Bezirksleitung Gera im November 1989 die Funktion des Sekretärs für Öffentlichkeitsarbeit und Medien.

Neuanfang und »Partei von unten«


Als Vorsitzender des Aktionsausschusses der SED-PDS im Bezirk Gera und später stellvertretender Landesvorsitzender der PDS in Thüringen verantwortete er den Abbau des allmächtigen Parteiapparats und die Etablierung demokratischer Parteistrukturen. »Politik von unten« und »Partei von unten« waren die Leitbegriffe. Schon im Januar 1990 erkannte er, dass sich die DDR nicht würde halten können, und stritt für ein neues emanzipatorisches Denken und Handeln in dem veränderten gesellschaftlichen Umfeld. Es galt, den Abstieg der PDS in die Bedeutungslosigkeit zu verhindern, Glaubwürdigkeit und Vertrauen zurückzugewinnen und »den Ring um die PDS zu sprengen«, sie für die Impulse aus der Gesellschaft zu öffnen. Bei der Landtagswahl 1990 erreichte die Linke Liste/PDS 9,7 Prozent und zog mit neun Abgeordneten in den Landtag ein. Strützel wirkte als PDS-Verhandlungsführer am Zustandekommen dieser Listenverbindung aus PDS, Vereinigten Linken, der fdj, der KPD und den NELKEN mit. Er suchte engen Kontakt zu Gewerkschaften, Bürgerinitiativen, Kirchen, zu Wissenschaftler*innen, Künstler*innen, linken Sozialdemokrat*innen, um über die Positionen der PDS zu diskutieren, und folgte dabei der Einsicht Friedrich Schorlemmers: »Die Wahrheit, die mir fehlt, hat gewiss ein anderer.« Mit Kommunalpolitiker*innen war er im Gespräch über regionale Beschäftigungsprojekte, unterstützte streikende Belegschaften wie die der Bischofferoder Kalikumpel, den Widerstand der Betriebsräteinitiative gegen die Privatisierungspolitik der Treuhand genauso wie antifaschistische Bündnisse. Wahlbausteine und Landtagswahlprogramme trugen seine Handschrift. Er war Inspirator der Linken Schule Schnepfenthal, in der ab 1992 zweimal jährlich Bildungsveranstaltungen von PDS Thüringen, BWK Bayern und DKP Bayern durchgeführt wurden. In Kursen zu Geschichte, Wirtschaft und Philosophie wurden historische Erfahrungen und aktuelle Theorieansätze diskutiert, unter anderem von Rawls, Bourdieu, Habermas und Luhmann. Strützels Argumentationsstil prägte die offene, solidarische, konstruktive Atmosphäre des Lernens. Er trug so zur Weiterentwicklung und Verständigung linker Positionen in Ost und West bei und prägte auch langfristig PDS und LINKE in Thüringen – von ihm stammt die Idee zur Elgersburger Erklärung aus dem Sommer 1997, die ein linkes Reformprojekt für Thüringen vorschlug.

Lutz Kirscher
 

» Das Ziel der politischen Gegner ist deutlich – die Ausschaltung der PDS als eine im Maßstab des zusammengenagelten Deutschland relevante, im Parlament aktionsfähige Partei. […] Wir müssen deutlich machen, dass wir nicht für uns kämpfen, sondern für die Demokratie in diesem Land. […] Die entscheidenden Fragen sind dabei das Aufsprengen des Ringes um uns und überzeugende Antworten auf die brennenden Fragen der Gegenwart. […] Das macht es notwendig, dass wir uns nicht beschränken auf das Selbstverständnis als Opposition der Schwachen, sondern das unterstützen, was die Menschen in diesem Land brauchen, nämlich Selbstvertrauen und Augenmaß zur Meisterung ihres Lebens unter den gegebenen Umständen. Es nützt uns weder eine Haltung: ›Siehste, das habe ich dir gleich gesagt!‹, noch eine übliche Häme auf alle, die jetzt ihre März- oder Februar-illusionen heimtragen. Jetzt geht es um die Meisterung konkreter Aufgaben in jeder Familie, in jedem Betrieb, in jeder Kommune. Und die Frage, ob wir tatsächlich […] ein Teil dieses Volkes sind und dieses Volk das Gefühl gewinnt, dass es diese Partei braucht. Wo wir nicht andere dazu gebrauchen, dass sie uns wählen, sondern die Überzeugung wecken: ›Jawohl, es hat einen Sinn, dass die PDS da ist, dass uns jemand braucht.‹ Diese Umkehrung müssen wir schaffen. Und die verlangt ganz entscheidend die Zuwendung zu den praktischen Fragen. Die Fragen dessen, der heute erwerbslos geworden ist, die Fragen, welchen Beruf einer nun wählt, […] den Fragen, wie und wo Märkte, Produktions- und Verwertungsmöglichkeiten in Betrieben und Genossenschaften geschaffen werden, bis hin zur Frage, wie unter den Bedingungen der Zahlungsunfähigkeit der Länder und Gemeinden der Übergang zur kommunalen Selbstverwaltung zu erreichen ist. Und das verlangt, dass wir in der gegebenen Situation nicht einfach […] über den gesellschaftlichen Rückschritt klagen, sondern ein genaues und sauberes Augenmaß für das kriegen, was unter diesen Bedingungen Fortschritt ist.« 

(30.6./1.7.1990, Gründungsparteitag der PDS Thüringen)

 

» Für mich besteht die entscheidende Schwäche des linken Diskurses darin, dass mehr um die Richtigkeit theoretischer Positionen gestritten wird, statt die Kräfte auf eine Analyse des ›empirisch Konstatierbaren‹ zu lenken, wie es eigentlich das Anliegen der Marxschen Gesellschaftsanalyse gewesen ist. Wo Wirklichkeit auftaucht, dient sie meist als Beweis, der nicht mehr fragt, was denn gegen die gezogenen Schlussfolgerungen spricht. Und immer wieder wird der stillschweigende Anspruch erhoben, der, der gerade spricht oder schreibt, habe den Stein der Weisen gefunden. Viel zu wenig ist allgemein anerkannt, dass mit einer Erklärung, einem Ansatz, einem Zugang die Vielgestaltigkeit der Wirklichkeit niemals zu erfassen ist. Bestenfalls wird anderes Denken geduldet, statt in ihm die Chance wahrzunehmen, bei anderen das Wissen, die Fragestellung, die Antwort zu finden, die einem selber fehlt. Erst wenn der viel beschworene Pluralismus mehr ist als Duldsamkeit, mehr als der Verzicht, Andersdenkende zum Schweigen zu bringen, wenn er der Versuch ist, in der Vielfalt der anderen die eigenen Schranken zu überwinden, hört er auf, ein frommer Wunsch zu sein, eine unehrliche Parole oder ein bequemer Weg, sich vorm Hin- und Zuhören zu drücken.«

 (4.11.1995, 1. Theoretische Konferenz der PDS Thüringen)

 

»Diese Gesellschaft ist nicht in ihrem politischen System zu erschüttern. Sondern es geht darum, der Wirklichkeit außerhalb des Parteiensystems eine Wirkung in den Entscheidungen dieses Landes zu verleihen. Es reicht eben nicht, nur in das Parteiprogramm zu schreiben, dass Antonio Gramsci zu unseren Traditionen gehört. Das war ein großer Gedanke. Man greift nicht dort an, wo der Gegner ein fest gefügtes Festungssystem hat, und der Staat der Parteien ist ein solches System. Sondern man bringt die anderen dynamischen Kräfte der Gesellschaft, die sich nicht unter diese Kontrolle stellen lassen, mit in Bewegung und bewegt sich in ihnen. Das ist die Erfahrung, die wir wohl alle gemacht haben.«

(15.1.1995, PDS-Landesparteitag Thüringen in Erfurt)

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