Die Geschichte der Geflüchteten hat noch kaum begonnen. Konservativen Schätzungen zufolge wird noch dieses Jahr eine weitere Million Menschen über die Türkei einreisen – vielleicht auch mehr. Die von Deutschland vorgeschlagenen Verteilungsquoten, gegen die etliche Staaten Osteuropas Widerstand leisten, sind bereits Fiktion und werden sich mit dem Ankommen der nächsten „Welle“ erübrigen.
Deutschland selbst wird vor kritischen Entscheidungen stehen: Wenn man plötzlich ein Haushaltsdefizit akzeptiert, um die Bedürfnisse von Asylsuchenden abzudecken, wie rechtfertigt man dann, keine Ausgaben für die soziale Infrastruktur zu machen, die eigentlich den BürgerInnen der Bundesrepublik Deutschland dienen sollte, durch mangelnde Investitionen während der Ära Angela Merkel jedoch verfallen ist?
Doch diese Probleme sind Nebenschauplätze im Verhältnis zu den großen, existenziellen Fragen, die ein zweiter Sommer unkontrollierter Migration nach Griechenland mit sich bringen würde.
Zunächst ist da der diplomatische Angriff auf Griechenland. Letzte Woche erwog die Europäische Kommission, Griechenland durch den Bau eines Natodrahtzauns im Inneren der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien – die noch nicht einmal Mitglied der EU ist –unter Quarantäne zu stellen. Deutsche Quellen brachten die Idee in Umlauf, Griechenland die Schulden zu streichen, wenn es nur einwilligen würde, 400 000 MigrantInnen einzusperren. Ein belgischer Minister habe während einer EU-Verhandlungsrunde, so sein griechischer Kollege, von Griechenland gefordert, die aus der Türkei kommenden Boote „zurückzuschicken oder zu versenken“, ein klarer Bruch internationalen Rechts. Andere in Europa schlagen vor, jene NGOs zu kriminalisieren, die Geflüchteten bei ihrer Ankunft auf einer der Inseln helfen.
Geschieht auch nur eines davon, wird es die griechische Zivilgesellschaft wahrscheinlich zerreißen. Doch demonstrieren diese Forderungen dem Rest Europas auch, dass seine führenden Kräfte und Institutionen nicht in der Lage sind, die Fakten zu sehen wie sie sind: Die nächste Million von Geflüchteten könnte nur durch eine Politik der Abschottung und Zurückweisung aufgehalten werden, die mit allen Menschenrechten fundamental bricht.
Das Problem Nummer zwei ist die moralische Implosion der türkischen Regierung. Die Armee Recep Tayyip Erdoğans hat die kurdischen Regionen der Südtürkei bereits in ein Kriegsgebiet verwandelt. Nun versucht er, die lebenslange Inhaftierung zweier prominenter Journalisten der säkularen Tageszeitung Cumhuriyet durchzusetzen, weil sie mit einer Recherche versuchten zu belegen, dass seine Regierung den IS mit Waffen beliefert. Hier ist kein eigenbrötlerischer Richter am Werk – die Forderung nach einer 30-jährigen Haftstrafe kam von Erdoğan selbst, dem Oberhaupt eines Landes und einer Regierung, die immer noch denkt, sie könne sich der Europäischen Union anschließen, und das seine NATO-Mitgliedschaft aufrechthält, bisher ohne Einwände aus Brüssel.
Das dritte Problem ist die Paralyse der EU-Institutionen. Deutschland hat einseitig den Vertrag von Dublin suspendiert, welcher MigrantInnen gezwungen hätte, nach Griechenland zurückzukehren, um ihre Anträge bearbeiten zulassen. [1] Die meisten osteuropäischen Länder haben den von Deutschland vorgeschlagenen Verteilungsmechanismus abgelehnt und ziehen ein System vor, das von Natodraht und Polizeikräften mit Mundschutz reguliert wird. Schengen hat sich so gut wie erledigt.
