Als Christian Lindner, Finanzminister der rot-grün-gelben Bundesregierung, im Sommer 2022 heiratet, gibt es einen Skandal nach dem anderen: Friedrich Merz (CDU) fliegt mit seinem Privatjet ein, ein Journalist wird von einem Gast als „elender Arsch“ bezeichnet; allerseits Aufregung über die Zurschaustellung des Fressens und Saufens der „Reichen“, die über drei Tage hinweg Hummer, Champagner, Kaviar und andere „Delikatessen“ in sich hineinstopfen, während ein Viertel der deutschen Bevölkerung in Armut lebt. Bei aller Empörung rückt ein bemerkenswerter Sachverhalt in den Hintergrund: Die Hochzeitsrede für das frisch getraute Paar hält der Philosoph Peter Sloterdijk[1].

In Deutschland existiert eine – vor und nach 1945 kolportierte und hegemonial gewordene – Erzählung von der Unvereinbarkeit liberalen Denkens mit dem faschistischen Regime. Sie soll verdecken, dass es einen Zusammenhang von wirtschaftsliberalen Übereinstimmungen von Theorie und Praxis mit faschistischer Ideologie und Wirtschafts- sowie Sozialpolitik gibt. Ishay Landa bringt diesen Zusammenhang auf den Punkt, wenn er schreibt: „Um den Kapitalismus zu retten, waren die Wirtschaftsliberalen nicht selten bereit, die überflüssige Last liberaler politischer Institutionen und Ideale über Bord zu werfen“ (2021, 21); zudem hätte der „Wirtschaftsliberalismus dem politischen Experiment des Faschismus sehr viel näher“ (ebd., 27) gestanden als der politische Liberalismus. Die ideologische Figur der absoluten Trennung zwischen einer wirtschaftsliberal formierten Gesellschaft auf der einen und dem Faschismus und Sozialismus auf der anderen Seite ermöglicht deren Gleichsetzung und damit die Dichotomie von Gut (Kapitalismus) und Böse (sozialistische und faschistische Planwirtschaft).[2]

Wenn Sloterdijk als „Philosoph“ betrachtet wird, der „die Faschisierung Deutschlands mit vorbereiten hilft [und der dazu beiträgt], dass das gewalttätige Klima in diesem Land noch gewalttätiger wird“ (Weber 2022a, 170), dann mag sich manche*r fragen, ob und wie die FDP sich mit diesem philosophischen Vorbeter von AfD-Parolen verträgt. Sloterdijks Ressentiment gegen emanzipierte Frauen, Schwarze, Juden, ökonomisch Deklassierte und andere (konstruierte) Minderheiten negiert zu hundert Prozent den politischen Liberalismus, den es bei der FDP unter Hildegard Hamm-Brücher und Gerhart Baum noch in Ansätzen gab. Trotzdem (oder deswegen?) werden seine staats- und steuerpolitischen Vorschläge (die Reichen sollen selbst entscheiden, wie viel und wem sie Geld geben) seitens der Liberalen begierig aufgegriffen.

Sloterdijk – Volksgemeinschaft und Freiheit

Kann Sloterdijk der Vorwurf gemacht werden, der Faschisierung Vorschub zu leisten – gar im Metier der Philosophie? Nun: Erstens ist es Sloterdijk, der sich mit Heideggers philosophischen Positionen zusammenschließt und dessen philosophische Produktionen sich aneignet (ohne auch nur irgendetwas über die Rolle des Autors Heidegger bei der politisch-philosophischen Unterstützung des Nazismus zu sagen).

Zweitens heizt Sloterdijk die von ihm so bezeichnete und gewollte „Thymosspannung“ an, qua Interviews in der BILD-Zeitung oder Veröffentlichungen in Medien, die eine Brückenfunktion zwischen CDU und der völkisch-nationalen AfD haben (FAZ, Cicero, NZZ u.a.) auf.[3]

Drittens: An seinem ehemaligen Doktoranden Marc Jongen, der als Bundestagsabgeordneter zum „Philosoph der AfD“ geworden ist, zeigt sich, wie Sloterdijk personell die neuen Nazis unterstützt (bei gleichzeitigen lockeren und unglaubwürdigen Distanzierungsversuchen, die schon immer zum Repertoire der Mitläufer und Täter gehörten). Jongens und Sloterdijks inhaltliche Positionen liegen nicht weit auseinander; vor allem in Bezug auf die Propagierung des „männlich-heroischen Kampfes“ eines „thymosorientierten Volks“ gegen die Faulenzer, „Weicheier“ und Schwachen dieser Republik (siehe Weber 2022b und Zander 2022). Sloterdijk verhöhnt, zersetzt und zerstört, was historische, soziale und psychologische Erkenntnisse materialistischer Forschung erbracht haben; zugunsten einer Philosophie willkürlicher Analogieschlüsse, die in der Lage ist, für den aufkommenden Faschismus eine tragfähige theoretische Grundlage zu liefern. Anhand einer Analyse der Texte kann gezeigt werden, wie seine „Philosophie“ in aktuelle politische und philosophische Debatten eingreift - nämlich so, dass Nietzsches und Heideggers Ideen vom aristokratischen, der Volksgemeinschaft verpflichtenden und für das Volk kämpfenden Menschen zu der Folie wird, auf welcher der „Philosoph“ die Zerstörung einer vernünftig-demokratischen Ordnung betreibt.[4]

Sloterdijk spricht am 6. April 2011 zu Mitgliedern und Sympathisant*innen der FDP auf Einladung der Friedrich-Naumann-Stiftung. Der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle ist da (noch) [5] Vizekanzler sowie Außenminister der BRD und (noch) Vorsitzender der Partei des Monopol- und Finanzkapitals. Am Tag von Sloterdijks Rede ertrinken 250 nordafrikanische Flüchtlinge vor Lampedusa – die deutschen und europäischen Geschäfte, die da sind Ausraubung und Plünderung der für den europäischen Markt benötigten Luxusgüter und Nahrungsmittel (Kaffee, Kakao, Bananen, Orangen etc.) sowie die Förderung von Krieg, Folterdiktaturen und Hungersnöten gehen weiter – in Sloterdijks Rede spielen sie keine Rolle. Er spricht über Stress und Freiheit, also zu den Folgen kapitalistischen Wirtschaftens, ohne die Ökonomie auch nur einmal zu erwähnen. Beendet wird seine Rede mit der „Verteidigung“ eines „Liberalismus“, in dem die Reichen es sich leisten können, „generös“ zum Gemeinwesen je nach eigenem Gutdünken ihren Teil beizutragen, und mit einer Kampfansage gegen alle Regimes, welche die Freiheit derer, die es sich leisten können, frei zu sein, einschränken. In Sloterdijks Worten: „Wir verteidigen die Sache der Freiheit, indem wir daran arbeiten, das Wort Liberalismus, das leider zur Stunde eher auf der Galeere der Habsucht steht, wieder zu einem Synonym für Generosität zu machen – und das Wort Liberalität zu einer Chiffre für die Sympathie mit allem, was Menschen von Despotien jeder Art emanzipiert“ (2011, 60). Die Herrschaft der Reichsten in kapitalistischen Ländern (qua Ausbeutung der ärmsten im eigenen und vor allem in „fremden“ Ländern) ist ihm der Normalzustand, das Aufbegehren der Subalternen gegen diese Herrschaft bedeutet für Sloterdijk „Despotie“, die es im Namen von Leistungsträger*innen wie ihm [6] zu bekämpfen gibt.

„Es ist ein altehrwürdiger Gemeinplatz, dass Philosophie und Wissenschaft aus dem Staunen entsprungen seien“, beginnt Sloterdijks Rede (veröffentlicht als Streß und Freiheit, 2011). Er bemüht Sätze von Platon und Aristoteles, um zu zeigen, dass ihm „in all der Zeit, vielleicht bis auf eine Ausnahme, nie eine Person zu Gesicht gekommen [ist], von der man im Ernst hätte behaupten dürfen, der Anfang ihrer geistigen Tätigkeit habe im Staunen gelegen“ (ebd., 7). Es bleibt Sloterdijks Rätsel, wie er aus einem Gesicht ablesen kann, ob jemand durch sein Erstaunen über was auch immer damit begonnen hat, über sich und die Welt nachzudenken. Das in den Satz eingefügte „man“ macht deutlich, dass er seine durch nichts belegte Aussage zu einer verallgemeinerten Maxime gegenüber dem „Hauptstrom der nicht-staunenden Politologie und Soziologie“ (ebd., 10) erhebt. Es gibt für ihn einzig und allein einen Philosophen, der in der Lage ist, das moderne „Nicht-Staunen“ der „zur Institution geronnenen Philosophie“ (ebd., 9) zu überwinden: Sloterdijk!

Seine Abwertung der „Sozialwissenschaften“ und ihrer „Experten“ gründet darauf, dass sie eben nicht mehr staunen könnten und sinnlose Begriffe wie „Gesellschaft“, „Kapitalismus“ etc. verwendeten, um den aktuellen Zustand der „großen politischen Körper, die man früher die Völker nannte“ zu bezeichnen. Die Methode Sloterdijks kann an diesem Beispiel nachgezeichnet werden: Er greift in seinen Sprach-Zauberhut und bietet uns als Alternative zur „Gesellschaft“: die Gemeinschaft. Weil „Volksgemeinschaft“ (noch) nicht gesagt werden soll, nennt er diese Volksgemeinschaft einen „nationalen psychopolitischen Großkörper“ und eine „Sorgengemeinschaft“ (ebd., 38). Damit nennt er einem Begriff, der politisch äußerst umstritten ist und zuletzt durch die Nazis und ihre Ideologeme zur staatstragenden Formel werden konnte,. Er verhilft ihm aufs neue zu einem unhinterfragbaren Stellenwert, während er gleichzeitig den Begriff „Gesellschaft“ als altmodisch und „verblüffungsresistent“ denunziert: „Wir haben allen Grund, uns auf ein Umdenken im Hinblick auf das reale Fabeltier »Gesellschaft« vorzubereiten“ (2011, 11); „Nach meiner Auffassung sind die politischen Großkörper, die wir Gesellschaften nennen, in erster Linie als stressintegrierte Kraftfelder zu begreifen, genauer als selbst-stressierende, permanent nach vorne stürzende Sorgen-Systeme“ (ebd., 12). Volk und „Menschen in ihren nationalkulturellen Hüllen“ sollen als das Neue einer staunenden Philosophie gepriesen werden, wogegen die „modernen“ – aus der Sicht Sloterdijks veralteten – Kategorien mit ihren Theorien auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen seien: „Die [neue] Theorie der Großkörper bildet ein Kompositum aus Stresstheorie, Medientheorie, Kredittheorie, Organisationstheorie und Netzwerktheorie“ (ebd., 11/12). Alle Begriffe sind wahllos aus beliebigen „Karteikästen“ verschiedener Disziplinen geklaut, damit sich Sloterdijk als „Sprachgenie“ verkaufen, gleichzeitig aber den Gesellschafts-Begriff verunglimpfen kann, ohne ihm argumentativ etwas entgegensetzen zu können. Und weil für Sloterdijk marxistische Begrifflichkeit suspekt ist – sind doch ihre Vertreter*innen in seinen Augen „Linksfaschisten“ – müht er sich ab, um rhetorisch „elegant“ etwas Neues aufs Tablett zu bringen.


Der negativen Vision der rassistischen AfD-Anhänger*innen zur „Selbstabschaffung der Deutschen“ bereitet Sloterdijk mit den neuen – nationalistisch-völkisch konnotierten Begriffen – den Boden, wenn er schreibt: „Solange ein Kollektiv sich über die Vorstellung, dass es sich abschafft, bis zur Weißglut erregen kann, hat es seinen Vitalitätstest bestanden“ (ebd., 13). In einer Rede des Sloterdijk-Schülers Marc Jongen (AfD) beim neofaschistischen Think Tank Institut für Staatspolitik[7] finden sich diese Passagen – etwas verändert – wieder: „Es wurde die psychopolitische Integrität dieses sozialen Großkörpers, den wir das Volk oder die Nation nennen, verletzt. … Wie konnte eine Gruppe von Personen an die Regierung kommen …, deren Tun und Unterlassen … geradewegs auf die Abschaffung der eigenen Kultur, des eigenen Volkes hinausläuft?“. Hier erregt sich einer über das „rechtswidrige Eindringen kulturfremder Menschen in dieses Land“ und zeigt so, nach der Diktion des Doktorvaters, dass er den Stress- und Vitalitätstest (gemeinsam mit den anderen „Biodeutschen“) bestanden hat.


Welcher Freiheitsbegriff wird nun bei Sloterdijk postuliert? Es ist derjenige des vom Staat ausgehaltenen Intellektuellen, der „ein Recht auf Unbehelligtsein von Willkürherrschaft“ der gemeinen Menschen, des Staates und der „Rechtsgenossenschaft“ haben will. Die von Sloterdijk verachteten „Unproduktiven“, welche dafür arbeiten, die aristokratischen Denker mit Lebensmitteln, Kleidern und einer Unterkunft zu versorgen, kommen in seinen Texten nicht vor. Die Geprügelten, Ausgebeuteten und „Gequälten“ geraten dem Meisterphilosophen erst gar nicht in den Blick, weil verdrängt werden muss, dass „die Eroberung der Sorglosigkeit“, einzig auf deren Rücken stattfinden kann. Das zeichnet den „Angriffscharakter“ seiner Philosophie aus, die darauf ausgerichtet ist, die Versorgungsfrage nicht denken zu wollen, um sorglos im staatlich finanzierten Elfenbeinturm über den Dingen zu thronen.

Lindner zu Sloterdijk– Anbetung statt Kritik

Christian Lindner bescheinigt Sloterdijk – in einem Beitrag des Cicero[8] vom August 2021 – dass er „Muster und Zusammenhänge dort [erkenne], wo niemand anderes Muster und Zusammenhänge vermutet hätte“; seine Wortschöpfungen „blühen wie auf einem toskanischen Anwesen“. Ich habe zwar noch nie in toskanischen Gärten Wortschöpfungen blühen sehen; aber wenn Christian Lindner als Beispiel für den „unterhaltsamsten und gelehrtesten Stilisten der Gegenwart“ dessen Rede über den „Arsch als wahren Basisdemokraten und Kosmopoliten, der auf den Klos aller Herren Länder heimisch“ sei, zitiert, dann ist das nichts als ein netter Herrenwitz für verklemmte FDP-Politiker, wie sie bei Lindners Preisrede in Ascona – Sekt und Kaviar zu sich nehmend – herumsitzen.

Verteidigt wird Sloterdijks berühmt gewordene Rede „Regeln für den Menschenpark“, bei der er im Juli 1999 „Selektion“ und „Auslese“ von Kranken, Schwachen und „Einfältigen“ herbeischreibt bei gleichzeitiger Feier des aristokratischen Übermenschen (vgl. Weber 2022b). Für Lindner sind das zwar „provokante Züchtungsmetaphern“, doch Sloterdijk werde „missverstanden“. Er sei durch eine „Fatwa aus Starnberg“ (Habermas) zum Täter gemacht worden, wo er doch nur erklären wollte, dass die Reichen (und andere Leistungsträger der geistesaristokratischen Elite) nicht mehr weiter „Pumpwerke der Einkommen“ für die unteren Schichten sein sollten. Ihnen werde das wohlverdiente Geld durch die Arbeitslosen, Faulenzer und Müßiggänger aus den Geldbeuteln gestohlen. Die „Belastungsfähigkeit der gebenden Hand“ habe seine Grenzen – darauf habe der Philosoph und „Subversionskünstler“ Sloterdijk hinweisen wollen. Dass die Leistungsträger sich vermehren sollen und die „Unproduktiven“ (so Sloterdijk über ökonomisch schwache Menschen) am besten an der Fortpflanzung gehindert werden sollen, müsse man „ernst nehmen, vielleicht nicht immer wörtlich“. Überraschend angegriffen werde – so Lindner – durch Sloterdijk der „Mainstream“, der Ausländer*innen nicht an den Grenzen aufhalten wolle, zurückschrecke vor Auslese- und Selektionsgedanken sowie die Eingriffe des Staates in die unternehmerische Freiheit nicht kritisiere.

Liberalismus und Faschisierung

Was Lindner und Sloterdijk verbindet, sind die Fantasien sich aristokratisch dünkender Männer, die unter Freiheit nichts anderes verstehen als die unternehmerische Freiheit, alles zu tun und zu lassen, was den Gewinn schmälern könnte. Dass dazu „der Geldbesitzer … den freien Arbeiter auf dem Warenmarkt“ (MEW 23, 183) vorfinden muss, der so „frei“ ist, dass er über nichts als seine Arbeitskraft verfügt, die er „frei“ verkaufen muss, ist dem Politiker und dem „Philosophen“ nicht der Rede wert: Sind sie doch immer Empfänger staatlicher Leistungen (als Beamter oder als Politiker) gewesen und abstrahieren von den „Ketten des Broterwerbs“ bzw. vom Zwang zur Arbeit qua Bürgergeld, in welche sie nie gezwungen waren.

Das „philosophische“ Faschisierungsprojekt Sloterdijks kann Lindner deshalb würdigen, weil die Krisen des Neoliberalismus deutlich machen, dass wie nie zuvor die Ausbeutung von Mensch und Natur an ihre Grenzen gelangt und der Staat als „ideeller Gesamtkapitalist“ die Regulierung der Krisen autoritärer und diktatorischer bewerkstelligen sollte. Die polizeiliche und militärische Aufrüstung der kapitalistischen Staaten im Inneren und die Absicherung ihrer Ausbeutungsprojekte in „armen Ländern“ wird durch Sloterdijks Sprechen und Schreiben „entnannt“. Darin hat Lindner Recht: Wo Zusammenhänge von Ausbeutung und Unterdrückung, Profitproduktion und ökologischer Zerstörung der Erde deutlich gemacht werden, entdeckt der „Meisterdenker“ Sloterdijk neue Muster und Zusammenhänge: nämlich keine. Während die Welt von seinesgleichen in einen Trümmerhaufen verwandelt wird, sieht der Philosoph in toskanischen Gärten „Worte blühen".