Was als mögliche Mehrheit der bisherigen Opposition gegen die Union für eine Legislaturperiode auf die parlamentarische Bühne geschickt wurde, ist nicht durch eine Mehrheit der abgegebenen Stimmen gedeckt. Das wichtigste Ergebnis der Wahl lautet: Der (partei-) politische Wandel in Deutschland setzt sich beschleunigt fort. Für alle Parteien entstehen neue politische Situationen mit neuen Gelegenheiten und Risiken.
Die Wähler: auf der Suche die einen, risikoscheu die anderen Mit knapp 43 Prozent der gültigen Stimmen reichte es für SPD, Grüne und LINKE zusammen nur zum schlechtesten Wahlergebnis seit 1990. Der Abstand zwischen den beiden großen Parteien erreicht mit fast sechzehn Prozentpunkten wieder Ausmaße wie in der Frühzeit der alten Bundesrepublik. Die Opposition gegen eine große Koalition besäße ähnlich geringe parlamentarische Rechte wie 1966–1969 die FDP. Im Unterschied zu damals träte eine außerparlamentarische Oppositionsbewegung derzeit vermutlich rechtspopulistisch gefärbt auf.1
Die Volatilität – die saldierte Wanderungsbewegung – im Wählerverhalten war bei dieser Wahl mit fast 16 Prozent so hoch wie nie zuvor. Einschließlich der NichtwählerInnen veränderten 30 Prozent der Wahlberechtigten ihr Abstimmungsverhalten und 35 Prozent der Wähler von 2009 entschieden sich 2013 anders. Die Zahl der Bürger und Bürgerinnen, die auf der Suche nach einer angemessenen parlamentarischen Repräsentation sind, wächst offenbar stetig. Diese Suchbewegungen drückten sich im Wahlerfolg der Linkspartei 2009, im zwischenzeitlichen Umfragehoch der Grünen und ihren Erfolgen bei Landtagswahlen 2010/11 wie auch in Aufstieg und Fall der Piratenpartei 2011/12 aus. Dieser Blick zurück zeigt, dass die Abwendung von der gewählten Partei bereits zeitig nach dem Wahltag einsetzen kann und nicht erst am Ende einer Legislaturperiode mit Blick auf den Wahltag erfolgt. So hatte die Linkspartei im Sommer laut Umfragen bis zu zwei Drittel ihrer Stimmen von 2009 verloren, sodass die erzielten 8,6 Prozent als Erfolg gewertet wurden, obwohl sie noch unter dem Ergebnis von 2005 liegen.2 Zu den Indizien für politische Suche und Bereitschaft zum Wechsel unter den Wahlberechtigten zählt weiterhin, dass lediglich zwei Drittel der WählerInnen angeben, ›ihre‹ Partei aus Überzeugung gewählt zu haben. Bei der LINKEN (51 Prozent) und der AfD (37 Prozent) war der Anteil der überzeugten WählerInnen deutlich niedriger, der Anteil derjenigen, die ihre Stimme aus Enttäuschung über andere Parteien gaben, mit 43 Prozent bzw. 57 Prozent (AfD) deutlich überdurchschnittlich.
Offenheit, auch Brüche im Alltagsbewusstsein, die letztlich den Wahlerfolg von Angela Merkel erklären, offenbaren weitere Wahltagsbefragungen. Die häufigste Nennung, worum sich eine neue Regierung kümmern sollte, ist der »soziale Ausgleich«. Bei der Frage nach den »wahlentscheidenden Themen« wurden mit jeweils 57 Prozent »angemessene Löhne und Arbeitsbedingungen« favorisiert sowie »eine gute Absicherung im Alter«, mit 31 Prozent folgte »die Zukunft des Euro«. Soziale Ungerechtigkeiten werden gegenwärtig vor allem als Bruch mit den Wohlstandsversprechen der alten Bundesrepublik wahrgenommen, als Unbehagen an einer sich vertiefenden sozialen Spaltung, als zunehmende alltägliche Spannungen und Unsicherheiten infolge wachsender sozialer Ausgrenzung. Was fehlt, ist eine handlungsrelevante Empörung über Verhältnisse, die angesichts des erarbeiteten gesellschaftlichen Wohlstands nur als skandalös und als zivilisatorischer Rückschritt zu begreifen wären. Und obwohl weit über 70 Prozent ihre eigene persönliche wirtschaftliche Lage als gut oder sehr gut einschätzen, blickt ein hoher Anteil mit Sorge in die Zukunft: Es läuft einiges schief, vermutlich wird es nicht besser, hoffentlich nicht schlechter. Merkel wird als Pragmatikerin der Macht, der Verwaltung des Status quo wahrgenommen, die in ihren Entscheidungen nicht ordnungspolitischen Grundsätzen oder Ideologien folgt, sondern abwägt, die Konflikte aufnimmt wie den Atomausstieg oder den Mindestlohn, die auf Umfragen, also auf ›Volkes Stimme‹ reagiert, die eben tut, was nötig ist, damit es ohne großen Schaden weiter geht. Die Merkel-Wahl spiegelt, dass um veränderte Bedingungen des Regierens gewusst wird: Nicht zuletzt nach dem 11. September 2001, vor allem aber mit der Finanzkrise seit 2007 sind alte politische Gewissheiten geschwunden, politische Entscheidungen werden unter zunehmender Unsicherheit, Komplexität und steigendem Nichtwissen getroffen. Pragmatismus, Risikoscheu scheint da eher das Erfordernis der Zeit, nicht der Mut, zu neuen Ufern in unbekannten politischen Gewässern aufzubrechen.
Anhaltende Defensive der gesellschaftlichen Linken
Das ›Wohin‹, ob Merkel das Land in eine lebenswerte Zukunft führt, bleibt dabei zweitrangig: Denn schaut man sich um, so geht es vielen auch nicht besser, vor allem aber ist es in der Nachbarschaft noch schlimmer. Unzufriedenheit und Resignation halten sich die Waage. Das Wichtigste ist den Befragten am Ende dann doch »die Wirtschaft« und »die Arbeitsplätze«, von denen alles andere abzuhängen scheint. Auf diesem Gebiet haben die Kompetenzzuschreibungen für die MerkelUnion gegenüber 2009 und der SPD deutlich zugenommen. Als wirtschaftskompetent gilt die CDU, weil von ihr keine Maßnahmen zu erwarten sind, die die wirtschaftlichen »Wachstumskräfte drangsalieren«, »die Märkte verunsichern« oder gar die »deutsche Wirtschaft zur Flucht nötigen« könnten. Wirtschaftskompetenz ist dort, wo die Interessen der Ökonomie Priorität genießen. Bei den Wirtschaftsvertretern wiederum gilt die Union als kompetent, weil und solange es ihr gelingt, für diese Perspektive immer wieder demokratisch legitimierte Mehrheiten herzustellen, also Klassenbündnisse zu schmieden. Der Wahlsieg Merkels drückt somit auch die Ohnmachtsgefühle gegenüber der Macht der Banken und großen Konzerne aus. Oder anders ausgedrückt, die deutliche Mehrheit für das ›bürgerliche‹ Lager bei den gültigen Stimmen verdankt sich dem seit 1990 wachsenden Ungleichgewicht zwischen Kapital und Arbeit im Alltagsbewusstsein: Die Auffassung dominiert, dass die Unternehmen, die Wirtschaft oder das Kapital den Reichtum schaffen und eben nicht (mehr), wie im Klassenkompromiss der alten Bundesrepublik abgebildet, Kapital und Arbeit gleichberechtigt. ›Die‹ brauchen uns nicht, aber wir brauchen ›die‹ – diese Einstellung dominiert mittlerweile weit bis in sozialdemokratische Schichten hinein.
Die drei Oppositionsparteien haben im Wahlkampf um Zustimmung für Vorhaben geworben, mit denen die langjährige Umverteilung von unten nach oben umgekehrt werden sollte. Die Armut der öffentlichen Kassen bei steigendem Reichtum der privaten Kassen wurde thematisiert. Indes fehlte aufgrund der Ächtung der Linkspartei durch die SPD eine glaubwürdige Regierungsalternative, sodass es für die bürgerlichen Kräfte ein leichtes Spiel war, diesen Angriff auf die Verteilungsverhältnisse zurückzuweisen und die bürgerlichen Reihen gegen das Eindringen der Grünen zu schließen. SPD und Grüne signalisierten vor dem Wahltag, dass sie eine rechnerische Mehrheit mit der LINKEN auf keinen Fall für Rot-Rot-Grün nutzen würden, und bereits vor den Sondierungsgesprächen mit der CDU/CSU, dass ihnen eine höhere Besteuerung der oberen Klassen auch nicht so wichtig sei und die Union schon recht habe mit dem Diktum, wenn es der Wirtschaft gut geht, gehe es auch den öffentlichen Kassen gut. Dass nach diesem Grundsatz die öffentliche Infrastruktur über zwei Dekaden hinweg gegen die Wand gefahren wurde, dass die gesellschaftliche wie die individuelle Reproduktion in die Krise gerieten, ja dass selbst die Aufgaben des ›ideellen Gesamtkapitalisten‹ vernachlässigt wurden, vergessen SPD und Grüne nur zu leicht wieder, weil in ihren Reihen der Einfluss der »Agenda«-Generation noch mächtig ist. Auch das zweite Standbein einer linken gesellschaftlichen Mehrheit ist mit dieser Wahl ins Wanken geraten: dass mit dem wachsenden Bruttosozialprodukt auch die öffentliche Infrastruktur besser werden sollte. Weder bei den Löhnen noch bei den öffentlichen Einrichtungen ist der zusätzlich produzierte Reichtum geblieben – wo dann? Diese Frage wurde im Wahlkampf nicht zu einer zentralen Konfliktlinie thematisiert, obgleich hier und dort Antworten gegeben wurden.
Zur politischen und gesellschaftlichen Defensive der linken Kräfte, genauer: der Kräfte jenseits der Union, zählt schließlich, dass sie der herrschenden Kriseninterpretation als einer Krise zwischen Nationalstaaten und Nationen nichts entgegensetzen konnten. Die Nationalisierung der europäischen Währungs- und Institutionenkrise als Schuldenkrise wurde von weiten Teilen der SPD und der Grünen mitgetragen. Eine wirksame Gegen-Interpretation der Krise als sozialer Konflikt, als Konflikt zwischen den Reproduktionsansprüchen bestimmter sozialer Schichten über die Ländergrenzen hinweg mit den länderübergreifenden europäischen Wirtschaftseliten und Vermögenseignern steht noch aus. Vor der emanzipatorischen Veränderung kommt die Interpretation. Welche Sprengkraft eine andere Interpretation der Wirklichkeit hätte, zeigte sich, als der Vorsitzende der Linkspartei, Bernd Riexinger, im Oktober 2012 an einer Demonstration gegen die europäisierte Austeritätspolitik in Athen teilnahm, die anlässlich des Besuches von Angela Merkel stattfand. Er demonstriere gegen »deutsche Interessen« und überhaupt ergreife man als guter deutscher Politiker im Ausland nicht öffentlich gegen die eigene Regierung Partei, hieß es in deutschen Medien und aus dem Politikbetrieb.
Die Angriffe zeigen das Korsett der herrschenden Auffassung: Nationale Interessen gehen vor gemeinsame soziale Interessen der ArbeitnehmerInnen, RentnerInnen und Studierenden. Und: Im Zweifel ist Griechenland eben nicht ›Europa‹ und damit innerhalb des Bereichs von Innenpolitik, was bei einer gemeinsamen Währung naheläge, sondern wie China ›Ausland‹ und damit Bereich ›auswärtiger‹ Politik. Mit der ›Alternative für Deutschland‹ scheiterte eine gerade gegründete Partei, die die Nationalisierung der europäischen Krise auf die Währungsfrage zuspitzte, nur knapp an der Sperrklausel. Bei den kommenden Wahlen zum Europäischen Parlament wird es daher nicht so einfach sein, das Thema »Wie halten wir es mit Europa?« zu umschiffen.
Ende der Ausschliesseritis
Das Verhältnis der Parteien zueinander wird sich in den kommenden Jahren neu ordnen. Die Sozialdemokraten werden sich von ihrer Strategie der bundespolitischen Ächtung der Linkspartei verabschieden. Die Grünen werden die Möglichkeit von Bündnissen mit der Union testen und sich vom Feld der sozialen Gerechtigkeit wieder zurückziehen, allein schon, weil sie sich nicht auf ewig an Erfolge und Misserfolge der SPD binden wollen. Das gleiche gilt umgekehrt für die Union, der ihr ›natürlicher‹ Koalitionspartner abhandengekommen ist. Die Grünen könnten nicht nur die wichtige Position der ›Funktionspartei‹ von der FDP erben, sie wären auch für die Union eine bürgerliche Alternative zu einer womöglich wiedererstarkten FDP. Eine Erneuerung der FDP wird entweder dazu führen, dass sie mit der AfD zusammengeht oder den Sozialliberalismus wiederbelebt und damit Offenheit gegenüber der SPD signalisiert. Die Konstellationen, die die Wahlen herbeigeführt haben, sind so, dass auch auf der Ebene der Parteien eine Auflösung des Denkens in politischen Lagern forciert wird.
Für die LINKE bedeutet dies, dass sie Oppositionspolitik so betreiben muss, dass eine heutige Regierungspartei, voraussichtlich die SPD, übermorgen lieber eine Koalition mit ihr bilden würde: Abgrenzung bei Ausbau der Fähigkeit zur Zusammenarbeit. Die Voraussetzungen dafür sind einerseits schlechter geworden, weil SPD und Grüne neue Optionen haben werden. Sie sind andererseits besser geworden, weil die Partei trotz aller inneren Krisen wieder ins Parlament gewählt wurde und als etablierte, d.h. nicht mehr primär als Protest-Partei angesehen wird. Wichtig dabei ist, dass rund die Hälfte der Wähler von 2009 die LINKE erneut gewählt haben, diese ›Wiederwählerschaft‹, vielleicht schon Stammwählerschaft, ist groß genug, um mit knapp sechs Prozent das Überspringen der Sperrklausel zu sichern. Dies könnte Grundlage für eine politisch souveräne Eigenständigkeit als ›kleine Partei‹ sein. Kleine Parteien fungieren als Seismographen gesellschaftlicher Entwicklungen, als Repräsentanten minoritärer Schichten und Klassen, als Produzenten innovativer Lösungen für gesellschaftliche Probleme. »Kleine Parteien« kämpfen in der Regel nicht um Mehrheiten, sondern binden überzeugte Minderheiten über Themen und Haltungen, die in politischen Gelegenheitsfenstern die Mehrheit bewegen. Sie taugen auch als kleinerer Partner, als ›Mehrheitsbeschaffer‹ für Mitte-Links-Regierungen, der veränderten Perspektiven und Lösungsansätzen für neue bzw. blockierte alte Konfliktlinien in der Gesellschaft zum Durchbruch verhilft. Die ›Ausschließeritis‹, die bundespolitische Ächtung der LINKEN, als politische Strategie ihrer Konkurrenten ist gescheitert. Eigenständigkeit und Bündnisfähigkeit basieren auf dem Wissen um die sozialen Schichten und ihre Anliegen, die man repräsentiert, auf guten, über die eigene Wählerschaft hinaus attraktiven Lösungen und auf intellektueller und alltäglicher Diskursfähigkeit in unterschiedliche gesellschaftliche Sphären hinein. Sie speisen sich nicht aus den Versäumnissen und Fehlern anderer Parteien in der Vergangenheit, sondern aus den Perspektiven für eine lebenswerte Gesellschaft morgen und übermorgen. Manche nennen dies die ›Sinnfrage‹, die in den Jahren der neoliberalen Hegemonie, zumal in einer ›älter werdenden Gesellschaft‹ heimatlos geworden sei. In der Tat haben die scheinbare Ziel- und Sinnlosigkeit der dominierenden ökonomischen Entwicklung, der betriebswirtschaftliche Blick aufs Ganze und der Verlust einer schichtenübergreifenden Idee von Wohlstand in Freiheit und Gleichheit in großen Teilen der Wählerschaft alte Bindungen an Parteien und Milieus gelockert und neue Suchbewegungen ausgelöst, die auch die Linkspartei hervorgebracht haben. Bei aller Stabilität, die die LINKE als Parlamentspartei erreicht hat: Sie ist keine Gewähr, dass ihre WählerInnen bereits am Ende ihrer Suche angekommen sind.
Anmerkungen
1 Alle Zahlen auf der Basis des vorläufigen amtlichen Endergebnisses und der Infratest Dimap Wahlanalyse für die ARD, Stand 23.09.2013. Für ausführlichere statistische Auswertungen siehe www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/sonst_publikationen/BTW13_Kahrs_Wahlnachtbericht.pdf.
2 Mit der Parteibindung schwindet auch die Bindung an politische Lager als Orientierungsmaß für politische Wechsel, bleibt aber hoch: Etwa je ein Viertel wechselte bei Union und FDP innerhalb des ›bürgerlichen‹ Lagers, also zwischen Union, FDP und AfD. Innerhalb des ›linken‹ Lagers (SPD, Grüne, LINKE) war dieser Anteil etwas niedriger. Lagerwechsel wurden mit jeweils 45 Prozent von ehemaligen Wählern von Union und SPD vollzogen, während es bei den kleinen Parteien zwischen 20 Prozent bei den ehemaligen FDP- und 30 Prozent bei den Grünen-Stimmen waren. Ehemalige WählerInnen der Linken wählen zu 40 Prozent im »linken« Lager (SPD 30 Prozent, Grü- ne 10 Prozent), 25 Prozent wechselten ins »bürgerliche« Lager (10 Prozent Union, 15 Prozent AfD). JedeR achte ehemalige LINKE-WählerIn wählte eine kleine »sonstige« Partei und fast jedeR vierte blieb der Wahl fern. Im Vergleich mit den anderen Parteien hat die LINKE prozentual die größten Verluste ans »Nichtwählerlager« gehabt und zusammen mit der Union die höchsten an die AfD. Die Verluste der einen Partei sind die Gewinne der anderen: Wenn die Wiederwählerquote für die LINKE im Osten bei 60, im Westen bei 40 Prozent liegt, kann man sich einerseits über die höhere Stammwählerschaft im Osten freuen, man kann andererseits aber auch die höhere Attraktivität der Partei für neue Wähler im Westen hervorheben.