Ökonomie gegen Ökologie
Die progressiven Regierungen betrachten die Ökologie-Debatten als Teil eines unvermeidlichen Widerspruchs zwischen Ökonomie und Ökologie, als Entwicklungshemmnis und als Hindernis für ihre Sozialpolitik. Diese Entgegensetzung ist ein Rückfall hinter die Debatten der 1970er Jahre, wie etwa in Die Grenzen des Wachstums (Meadows et al. 1972) diskutiert. Ende der 1980er Jahre wurde versucht, diese Gegensätzlichkeit aufzulösen und die Bewahrung der Umwelt als Grundvoraussetzung für Entwicklung zu verstehen. Mit anderen Worten: Es gibt kein Wirtschaften ohne eine ökologische Ausgangsbasis. Diese Vorstellung war nicht unproblematisch: Einflussreiche Sektoren, die Entwicklung nur als ökonomisches Wachstum verstehen, präsentierten die Bewahrung der Natur als zwingend notwendig, um Wachstum zu sichern und fortzusetzen. Am besten wird dies anhand der Bezeichnung »Nachhaltige Entwicklung« deutlich, die von der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung in ihrem Bericht Unsere gemeinsame Zukunft (CMMAD 1987) geprägt wurde. Der Gegensatz Ökologie versus Ökonomie der 1970er Jahre wurde in Richtung einer ökologischen Wachstumsökonomie aufgelöst.
Die Diskussion über diese Fragen kam in den 1990er Jahren und Anfang des 21. Jahrhunderts in Lateinamerika nur zögerlich in Gang. Die Marktreformen drängten das Umweltthema an den Rand und begünstigten einen sehr reduzierten Entwicklungsbegriff. Für die Umweltproblematik wurden unternehmerische und marktgerechte Lösungen gefunden und die Natur wurde selbst immer mehr zur Ware. Der Konflikt zwischen Ökologie und Ökonomie schien durch die Unterwerfung der Ökologie unter die Ökonomie des Marktes verschwunden. Ökologische Probleme werden heute nicht mehr geleugnet oder ausgeblendet, sondern es wird nach einer Lösung gesucht, mit der zugleich Geld verdient wird. Diese Botschaft wird derzeit überall verbreitet, wie z.B. im Bericht »Grünes Wachstum« des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP), der an den Umweltschutz angepasste Marktmechanismen fordert und eine »Ökonomie der Ökosysteme« ausruft (UNEP 2010). Es gibt hieran zwar Kritik aus der Umweltbewegung. Die Kritik der Linken am Reduktionismus des Marktes reicht jedoch nur bis zu dem Punkt, an dem das Ökologie-Thema aufgegriffen werden müsste. Letztlich wurde die marktförmige Inwertsetzung der Natur akzeptiert. Der globale Kapitalismus wird kritisiert, aber man will weiter am Weltmarkt teilhaben, z.B. am Emissionshandel mit CO2-Zertifikaten. Es wird von Alternativen geredet, aber tatsächlich wird eine Ökonomie gestärkt, die auf der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen beruht.
Einige Warnungen älteren Datums, vor allem aus den 1970er Jahren, sind heute noch aktuell. So publizierte z.B. Hans Magnus Enzensberger 1973 einen Schlüsseltext zur Ökologiepolitik. Dabei stellte er u.a. den technologischen Optimismus der marxistischen Tradition in Frage und zögerte nicht, trotz aller Kritik am Kapitalismus, darauf hinzuweisen, dass in den staatssozialistischen Ländern sich das ökologische Debakel wiederhole (Enzensberger 1976, dt. 1973). Die Regime dieses real existierenden Sozialismus verschwiegen die ökologischen Probleme und unterdrückten umweltpolitische Forderungen der Bürger. Jedwede Form eines neuen südamerikanischen Sozialismus darf diese historische Wahrheit nicht ignorieren. Ein weiteres Argument von Enzensberger passt, wenn auch etwas modifiziert, ebenfalls auf die heutige Situation: Die Kritik der Linken und teilweise sogar der fortschrittlichen Regierungen an den transnationalen Konzernen, die sich unserer Ressourcen bemächtigen, oder der Werbeindustrie, die den Konsum befördert, führt nicht per se zu einer Verbesserung der Umweltbedingungen. Die Kritik stoppt weder die Entwaldung noch reduziert sie den Konsumismus. Viele der Debatten führen eher dazu, wie Enzensberger es beschreibt, »die subversive Macht und die Kritik des Marxismus zu kommerzialisieren«, um sie letztendlich in eine »Serie von stereotypen Phrasen, die, in ihrer Abstraktion, so unumstößlich wie unnütz sind«, umzuwandeln. Dieser Eindruck wiederholt sich heute: Einige Regierende und progressive Intellektuelle geben sozialistische Schönfärbereien und harte Kritik am herrschenden Kapitalismus von sich – in vielen Fällen durchaus gut begründet –, setzen aber weder eine konzeptionelle Erneuerung noch eine effektive Regierungsführung um. Die globale Ökonomie wird kritisiert, und doch arrangiert man sich mit ihr. Der Kapitalismus wird kritisiert, aber in der Praxis wird das extraktivistische Wirtschaftsmodell gestärkt. Eine erneuerte Linke darf nicht aufhören, Kritik zu üben, aber diese allein ist nicht ausreichend. Auch muss das Umweltthema neu aufgenommen werden, anstatt diejenigen, die sich dafür stark machen, auszugrenzen.
Der Protest und die durch Umweltorganisationen angestrengten Gerichtsverfahren legen die Beschränktheit der gegenwärtigen Politik der progressiven Regierungen offen: Das Ziel »Soziale Gerechtigkeit«, eine der klassischen Forderungen der Linken, wird nicht konsequent verfolgt. Die Kritik ist für diejenigen, die aktuell regieren, teilweise schmerzlich, und es ist gut möglich, dass hierin die heftigen Reaktionen Rafael Correas, Lula da Silvas und Evo Morales’ gegen Umweltaktivisten gründen. Es sind jedoch die sozialen und ökologischen Folgen des Extraktivismus, die die Kritik, den Protest oder die Desillusionierung gegenüber der regierenden Linken befördern. In intellektuellen Auseinandersetzungen, aber auch unter sozial Engagierten und im alltäglichen Miteinander hört man immer wieder: Wenn diese Regierungen Erneuerung ankündigen, wenn sie Gerechtigkeit und Solidarität ausrufen, warum zerstören sie dann weiter die Natur?
Ökologie und politische Erneuerung
Im 21. Jahrhundert kann keine linke Alternative, sozialistisch oder nicht, das Umweltthema außen vor lassen. Es gehört zu jedwedem neuen Denken dazu und ist nicht nur ein Teilaspekt einer allgemeinen Kritik am Kapitalismus. Eine andere Haltung ist notwendig, die Missachtung der Ökologie muss beendet werden. Die Umweltverschmutzung, die Entwaldung, der Müll in den Städten etc. sind reale Probleme und betreffen viele Menschen. Eine Linke, die die Diskurse von vor mehr als zehn Jahren wiederholt und die Verschlechterung der Umweltbedingungen bagatellisiert oder gar verschweigt, ist nicht tolerierbar. Die ökologischen Grenzen müssen anerkannt werden. Wir können nicht endlos auf ökonomisches Wachstum setzen, weil der Planet die Folgen dieser Politik nicht aushält. Die Vorstellung vom Überfluss muss durch das Wissen um die reale Knappheit ersetzt werden. Das heißt nicht, dass es keine ernsthaften Probleme der Verteilung und der Teilhabe gibt, aber wir dürfen die Grenzen der Natur nicht ignorieren. Eine Gesellschaft des Überflusses zu propagieren, ist nicht mehr möglich (z.B. Ovejero Lucas 2005).
Die Linke hat mit ihrer Tradition moralischer Ablehnung von Ungleichheit stets die Ärmsten, die Lohnabhängigen, die Marginalisierten in den Vordergrund gestellt. Genau diese Gruppen sind es, die fast immer von den Verschlechterungen der Umweltbedingungen betroffen sind, deren Lebensraum vergiftet wird, die unter schlechten Arbeitsbedingungen leiden müssen und die hohen ökologischen Risiken ausgesetzt sind. Insofern muss jedes Programm der Linken im 21. Jahrhundert einen wirkungsvollen Aktionsplan zur ökologischen Gerechtigkeit beinhalten – doch den progressiven Regierungen fehlt ein solcher fast vollständig. Für ein Gleichheitsideal, das darauf zielt, die gleichen Konsum- und Verbrauchsraten wie in den industrialisierten Ländern zu erreichen, reichen die zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht aus. »Wenn es nicht genug für Alle und von Allem gibt, wenn wir keine Gesellschaft des Überflusses haben, tauchen die Probleme der Verteilung auf: Was soll verteilt werden? Mit welchen Kriterien? An wen?« (Ovejero Lucas 2005). Die kulturelle Vielfalt Lateinamerikas drückt sich auch in divergierenden Vorstellungen von Lebensqualität und den Beziehungen zwischen Mensch und Natur aus. Eine neue Reflektion über Gerechtigkeit muss die ökologischen Beschränkungen mit einbeziehen und sich zudem demokratisch neu orientieren, um dieser Vielfalt von Werten und Wahrnehmungen gerecht zu werden. Für die gegenwärtige Linke heißt das, der ökologischen Gerechtigkeit muss der gleiche Stellenwert eingeräumt werden wie der sozialen Gerechtigkeit. Die Erpressung, bei der etwa der Extraktivismus als unverzichtbar zur Reduzierung von Armut verteidigt wird, ist sinnlos. Soziale Gerechtigkeit kann ohne ökologische Gerechtigkeit nicht realisiert werden.
Biozentrismus und Entwicklung
Ein weiterer substanzieller Wertewandel muss auf dem Gebiet der Ethik erfolgen. Auch wenn in vielen Diskussionen der Linken Wertedebatten angerissen werden, geschieht dies oft nur rudimentär und beschränkt auf Fragen der Moral. Zwar wird in einigen Überlegungen zum Ökosozialismus die Bedeutung des Gebrauchswertes, also die Bedeutung für die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse, betont (z.B. bei Riechmann 2006). Doch auch der Fokus auf den Gebrauchswert macht die Natur zu einem Warenkorb und stellt ihren Nutzen für die Menschen in den Mittelpunkt. Diese anthropozentrische Herangehensweise bildet das Rückgrat der verschiedenen Ausprägungen der Fortschrittsideologie – auch derjenigen der progressiven Regierungen. Die Zerstörung der Umwelt wird toleriert, weil sie als Mittel zum Zweck der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse angesehen wird. Es gilt, die Natur zu erobern und zu dominieren. Dieses Mandat hat seinen Ursprung in der europäischen Moderne und ist in unterschiedlichen Prägungen seit dem Beginn der Kolonialisierung reproduziert worden. Für eine Ethik, verstanden als Debatte über die Formen der Wertzuschreibung, wäre notwendig, den moralischen Anthropozentrismus, für den der Mensch das wichtigste ist, hinter sich zu lassen und die der Natur immanenten Werte zu akzeptieren. Das bedeutet die Hinwendung zum Biozentrismus. Weder der Gebrauchswert noch die Wichtigkeit gesellschaftlicher Veränderung werden dadurch verneint. Es wird aber zusätzlich anerkannt, dass der Umwelt und den vielfältigen Lebensformen unabhängig von ihrer Nützlichkeit für den Menschen ein eigener Wert innewohnt. Die Bewertungsskala wird vielfältiger und es wird mit der Inwertsetzung der Natur gebrochen.
Diese Debatte setzt gerade ein, wie etwa die Anerkennung eigenständiger Rechte der Natur in der neuen Verfassung von Ecuador zeigt. Sie bereitet den Weg für einen Biozentrismus, der mit der anthropozentrischen Sichtweise bricht. Ein alternatives Entwicklungsmodell mit post-extraktivistischem Charakter, das sich vom instrumentellen Materialismus verabschiedet, nimmt bereits Fahrt auf. Es rückt die Qualität des Lebens als Gutes Leben (Buen Vivir) wieder in den Mittelpunkt und fördert eine neue Sensibilität für soziale und ökologische Gerechtigkeit. Wenn man sich im 21. Jahrhundert als progressiv, sozialistisch, revolutionär oder alternativ bezeichnet, muss man damit aufhören, die Natur zu zerstören, und damit beginnen, sie zu schützen – heute, ohne Ausreden, pausenlos.
Aus dem Spanischen von Stefan Thimmel