Die FDP hatte vor den Wahlen klare Bedingungen für eine Regierungsbeteiligung formuliert: keine Steuererhöhungen und die Schuldenbremse muss in Kraft bleiben. Damit hat sie erfolgreich die Leitplanken für die Finanzpolitik der Ampelkoalition gesetzt. Bereits Ende Oktober verkündete Olaf Scholz bei Anne Will, sekundiert von Robert Habeck, dass die im Wahlkampf in Aussicht gestellte Entlastung von kleinen Einkommen doch nicht stattfinden werde, da sowohl auf eine stärkere Besteuerung von hohen Einkommen als auch auf die Wiedererhebung der Vermögenssteuer auf Wunsch der FDP verzichtet werden müsse. Damit fehle die nötige Gegenfinanzierung. Eine Umverteilung zugunsten kleiner Einkommen war damit ausgeschlossen. Mit Spannung konnte man dann erwarten, wie die Ampel das Problem lösen würde, einerseits die Schuldenbremse unangetastet zu lassen und andererseits die enormen Investitionen zu stemmen, die seit langem überfällig sind. Zur Einordnung: Der Deutsche Gewerkschaftsbund und der Bundesverband der deutschen Industrie hatten 2019 in einer viel beachteten Allianz vorgeschlagen, in zehn Jahren bis 2029 457 Mrd. Euro zu investieren – also rund 45 Mrd. pro Jahr. Diese Rechnung stützte sich auf die wissenschaftliche Expertise des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung und auf die des unternehmernahen Instituts der deutschen Wirtschaft. Auch Annalena Baerbock hatte zuletzt immer wieder betont, man benötige rund 50 Milliarden Euro pro Jahr an zusätzlichen Investitionen.
Die Lösung der Ampel: die Schuldenbremse bleibt in Kraft, wird aber umgangen. Hierzu werden die Instrumente benannt, die Höhe der Investitionen aber nicht festgelegt. Man liest also in diesem Koalitionsvertrag auf vielen, vielen Seiten über die Notwendigkeit von vermehrten Investitionen in Klimaschutz, Digitalisierung und andere Dinge, eine Festlegung, wie hoch die staatlichen Investitionen sein sollen, fehlt jedoch. Genau das bedeutet jedoch noch größere Macht für die kleinste Partei, die FDP. Sie besetzt das Finanzministerium, kann dadurch in allen Fachressorts mitreden und bei jedem sozialen oder ökologischen Vorhaben der beiden anderen Parteien auf die Bremse treten. Oder anders gesagt: Christian Lindner bekommt viel Gewicht bei allen entscheidenden Fragen der nächsten vier Jahre.
Geht es nach der FDP, soll vor allem privates Kapital, auch aus Lebensversicherungen und Pensionskassen, für Investitionen mobilisiert werden. Der Staat solle solche privaten Initiativen lediglich absichern. Entsprechende Formulierungen finden sich auch im Koalitionsvertrag. Dazu passt auch, dass für einzelne Projekte und Beschaffungen Öffentlich-Private Partnerschaften anvisiert werden.
Umgehung der Schuldenbremse
Mit unterschiedlichen Instrumenten will die Ampel die Schuldenbremse umgehen.
Erstens sollen öffentliche Banken wie die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) oder die Europäische Investitionsbank (EIB) genutzt werden, um kreditfinanzierte Investitionen zu organisieren. Die KfW soll als „Innovations- und Investitionsagentur“ wirken und Investitionen von Unternehmen in neue Technologien und Klimaschutzmaßnahmen ebenso fördern wie die Hochwasser- und Starkregenvorsorge privater Haushalte, das altersgerechte Wohnen, den Barriereabbau oder die energetische Sanierung von Gebäuden. Sie kann sich an den internationalen Finanzmärkten zu zinsgünstigen Konditionen Geld verschaffen, weil sie als staatseigene Bank Anleihen mit der Bestnote Triple A ausgeben kann. Im vergangenen Jahr lag ihr Anleihevolumen bei rund 65 Milliarden Euro, für 2021 rechnete die KfW mit 70-80 Milliarden Euro. Dieser Wert könnte sich nun deutlich erhöhen. Die KfW-Anleihen zählen nicht als Staatsschulden, so dass auf diesem Weg Mittel für Investitionen bereitgestellt und die Bedingungen der Schuldenbremse sowie die EU-Fiskalregeln formell eingehalten werden können.
Zweitens könnte sich die Koalition im Jahr 2022 sozusagen „auf Vorrat“ für die gesamte Legislatur verschulden, da die Schuldenbremse wegen der Pandemie bis Anfang 2023 ausgesetzt ist. Für 2022 hatte die alte Regierung neue Kredite in Höhe von 100 Milliarden Euro eingeplant. Einige Ökonomen, etwa DIW-Chef Marcel Fratzscher und ifo-Chef Clemens Fuest, haben dafür plädiert, 2022 eine kreditfinanzierte Rücklage in Höhe von 500 Milliarden Euro zu bilden, um damit – streng kontrolliert – die notwendigen Investitionen der kommenden Jahre in Klimaschutz und Digitalisierung zu stemmen. Parteichef Lindner hatte dieses Vorgehen während der Sondierungen im ZDF noch als „nicht seriös“ bezeichnet. Auch die Union oder marktliberal orientierte Medienvertreter*innen machten Stimmung gegen solch ein angeblich grundgesetzwidriges Vorhaben. Sie beziehen sich dabei unter anderem auf ein aktuelles Urteil des Hessischen Staatsgerichtshofs, demzufolge das im hessischen Landeshaushalt gebildete „Corona-Sondervermögen“ verfassungswidrig ist. Allerdings zeigt der Staatsrechtler Joachim Wieland mit Blick auf das Urteil Wege auf, wie eine Rücklagenbildung durchaus verfassungskonform ausgestaltet werden könnte. Wie immer sind solche Maßnahmen politisch und damit auch rechtlich umkämpft. Im Koalitionsvertrag ist diese Möglichkeit nun, wenn auch etwas verklausuliert, unter dem Stichwort "Sondervermögen" festgehalten . Demnach soll die Haushaltsbilanzierung so angepasst werden, dass eine spätere Entnahme aus einer 2022 gebildeten Rücklage mit der Schuldenbremse kompatibel wäre. Kurz gesagt sollen die dazu nötigen Buchvorgänge nur im kommenden Jahr anfallen, wenn die Schuldenbremse noch notlagenbedingt ausgesetzt ist. Angesichts der Tatsache, dass die Ampel an der Schuldenbremse festhält, wäre die Bildung von großzügigen Rücklagen der beste aller schlechten Wege, um große Kreditsummen für überfällige Investitionen zu mobilisieren, denn er ist transparenter und hat weniger mögliche Nebenwirkungen, von denen weiter unten noch die Rede ist.
Das dritte Instrument, um die Schuldenbremse zu umgehen, bieten öffentliche Unternehmen oder Infrastrukturgesellschaften. Auch hier gilt wie bei der KfW: Die Kreditaufnahme öffentlicher Unternehmen wird nicht als Staatsverschuldung im Sinne der Schuldenbremse und des Stabilitätspaktes der EU gewertet. Diese Möglichkeit zur Umgehung der Schuldenbremse wurde auf Landesebene bereits durch die rot-rot-grüne Koalition in Berlin genutzt. Sie wollte in die landeseigene Infrastruktur investieren, konnte aber die Einnahmesituation des Bundeslandes nicht nennenswert verbessern, da die Steuergesetzgebung im Wesentlichen Sache des Bundes ist. Eigenkapitalzuführungen an öffentliche Unternehmen tauchen im Staatshaushalt zwar einerseits als Ausgaben auf, andererseits in gleichem Umfang aber auch als zugewonnener Sachwert. Daher ist eine Eigenkapitalzuführung an öffentliche Unternehmen in der Haushaltsbilanz neutral. Mit mehr Eigenkapital können die Unternehmen dann mehr Schulden aufnehmen. Auf Bundesebene könnten also Investitionen im Bereich Mobilität von der Deutschen Bahn theoretisch in gigantischem Ausmaß vorgenommen werden, ohne dass es Probleme mit der Schuldenbremse gibt. Im Koalitionsvertrag werden konkret die Deutsche Bahn und die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA) genannt – letztere soll verstärkt Wohnungsbau betreiben.
Jenseits der Umgehung der Schuldenbremse hält sich die Ampel weitere Möglichkeiten offen, Mittel für Investitionen zu mobilisieren. So will sie Gelder, die noch nicht ausgegeben wurden, sowie schon genehmigte Kreditermächtigungen für 2021 per Nachtragshaushalt in den bereits existierenden Energie- und Klimafonds überführen und diesen zu einem Klima- und Transformationsfonds umbauen. Dieser wird beim Klima- und Wirtschaftsministerium unter Führung von Robert Habeck angesiedelt werden. Die Kreditermächtigungen für 2021 beliefen sich auf 240 Milliarden Euro, davon werden nach jetzigem Stand 150 Milliarden Euro in Anspruch genommen. Es könnten also bis zu 90 Milliarden Euro an den Klima- und Transformationsfonds fließen.[1]