»Seit Jahren fehlen Altenpfleger – bei den Löhnen kein Wunder! Die müssen rauf, klar. Um den Notstand aber abzuwenden, sollten diejenigen helfen, die sonst nur warten« (Heine 2015). Dieser Zeitungskommentar ist nur eine von vielen Stimmen, die aktuell den Einsatz von Flüchtlingen in der Altenpflege fordern. Er bildet einen Ausschnitt der sozialpolitischen Suchbewegung nach neuen Arbeitskraftpotenzialen in der Care-Krise, die sich durch pflegepolitischen Handlungsdruck intensiviert. Ob ein solches Krisenmanagement tatsächlich zumindest übergangsweise eine ›Win-win-Situation‹ für Flüchtlinge und den Pflegesektor darstellen kann oder ob mit den Flüchtlingen eine sozial verwundbare Gruppe an der Schwelle zum Niedriglohnsektor für den Social-Investment-Statemobilisiert werden soll, ist angesichts laufender Informalisierungs- und Deprofessionalisierungstendenzen in der Pflege durchaus fraglich. 

Eine andere, schon länger verfolgte Strategie ist der staatlich geförderte Einsatz freiwillig Engagierter in der Pflege. Ein Blick auf die vergangenen Jahrzehnte zeigt: Sowohl Renaissance als auch Krise des FreiwilligenEngagements werden regelmäßig ausgerufen. Diagnostizieren ForscherInnen noch Mitte der 1980er Jahre eine Rekrutierungskrise »helfender Hände«, wird zur Jahrtausendwende mit »Freiwillige vor!« (Schlagzeile eines Zeit-Artikels) das neu entfachte Interesse für das Ehrenamt in eine Parole gegossen (Heuser/v. Randow 2000). Die Konjunkturzyklen der Aufmerksamkeit für das freiwillige Engagement folgen dabei ökonomischen und politischen Krisenrhythmen – ein Aspekt, der in der öffentlichen Debatte häufig von moralischen Appellen an den Bürger- und Gemeinsinn überlagert wird.

Das neue Ehrenamt im Kontext wohlfahrtsstaatlichen Wandels

Die Renaissance des Ehrenamts in der Pflege, deren Ausläufer wir gegenwärtig miterleben, beginnt daher nicht zufällig in den 1990er Jahren, als die Krise von Arbeitsgesellschaft, Wohlfahrtsstaat und Demokratie im Kontext des neoliberalen Siegeszuges die Gemüter erregte. Auch die soziale Reproduktion geriet in eine Krise: Die Bevölkerung altert, traditionelle Haushalts- und Familienstrukturen wandeln sich, die weibliche Erwerbsbeteiligung steigt global, die räumliche und zeitliche Flexibilisierung der Beschäftigungsverhältnisse nimmt zu und das Ernährermodell – mitsamt der alimentierten informellen Pflege durch Hausfrauen – erodiert. Daneben führten die seit den 1980er Jahren steigende Sockelarbeitslosigkeit und der Abbau gut bezahlter Industriearbeitsplätze zu sinkenden Beitrags- und Steuereinnahmen (bei gleichzeitig steigenden Sozialhilfeempfängerzahlen) und belasteten so die kommunalen Haushalte. Galt der Sozialstaat in der Nachkriegszeit noch als Garant sozialen Friedens und wirtschaftlicher Prosperität, geriet er nun zunehmend in den Verdacht, den Standort Deutschland durch mangelnde Flexibilität, Reformstau und zu hohe Lohnnebenkosten im globalen Wettbewerb zu benachteiligen (vgl. Lessenich 2008). Neben den vielbeschworenen demokratisierenden Potenzialen und haushaltspolitischen Vorzügen kam dem neuen Ehrenamt im deutschen Diskurs der 1980er und 1990er Jahre deshalb vor allem eine arbeitsmarktpolitische Bedeutung zu. Der zwischen Markt und Staat befindliche Dritte Sektor mit staatlich kofinanzierten und auch unentgoltenen Sozialdienstleistungen wurde zunehmend als Hoffnungsträger des gesellschaftlichen Zusammenhalts gehandelt. Die staatliche Förderung des Ehrenamts galt immer häufiger als probate Arbeitsmarktstrategie vor dem Hintergrund zunehmender sozialer Spaltungstendenzen. 

In dieser Übergangsphase, in welcher der Wohlfahrtsstaat ›alter Prägung‹ durch verschiedene Wandlungsprozesse unter Druck geriet, stellte sich die Frage, wie die vielbeklagten ›leeren Staatskassen‹ geschont werden sollten, wenn zugleich der Bedarf an pflegerischer Versorgung wächst. Das Rekrutierungsproblem von sowohl bezahlten als auch unbezahlten Pflegekräften treibt die Sozial- und Pflegepolitik in Deutschland seither um: Wer füllt die Lücke, die überforderte Familien, erwerbstätige Frauen, erschöpfte Pflegefachkräfte und ein sich »aktiv selbst zurücknehmender Staat« hinterlassen (Kommission für Zukunftsfragen 1997, 169)? Die Wahl sollte, soviel ist sicher, auf eine möglichst kostengünstige Gruppe fallen.

Die neue Konjunktur des ›Bürgersinns‹

Die politisch-philosophische Strömung des Kommunitarismus lieferte der »neuen Kultur des Helfens« (Fink 1990) zu Beginn der 1990er Jahre auch außerhalb akademischer Fachdebatten medienwirksame Schlagworte. Mit Appellen an Gemeinschaft und Gemeinsinn sowie mit der Betonung von ›Aktivierung‹ und Werteorientierung hebt sie unermüdlich die Bedeutung sozialen Zusammenhalts in Zeiten neoliberaler Vereinzelung hervor. Mit einer Studie zu Entwicklungspfaden italienischer Gemeinden zeigte der kommunitaristische Soziologe Robert Putnam (1993), dass die Effizienz lokaler partizipativer Entscheidungsprozesse mit der Anzahl der bürgerschaftlichen Vereine und dem ehrenamtlichem Engagement korreliert. Sein daraus entwickeltes Konzept des Sozialkapitals avancierte zu einem vielzitierten Gradmesser gesellschaftlicher Integration. Es soll helfen, den sozialen, kulturellen und ökonomischen Nutzen politischer Beteiligung und sozialer Netzwerkbildung zu vermessen – und zu akkumulieren. Entsprechend begann die Bundesregierung in den 1990er Jahren damit, großflächig Modellprojekte zur Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements zu finanzieren. Forschungsberichte über vorhandene »Humankapitalressourcen« (wie das erste Freiwilligen-Survey oder der erste EngagementBericht) wurden veröffentlicht, 1999 wurde die Enquete-Kommission »Zukunft des ehrenamtlichen Engagements« eingesetzt, die EU-Kommission erklärte 2011 zum »Europäischen Jahr der Freiwilligentätigkeit«, es folgten die Gründung des Bundesfreiwilligendiensts und 2013 ein Gesetz zur Stärkung des Ehrenamts. Der Nonprofit-Sektor wächst seither weltweit rasant: 1995 erreichte die Zahl der darin Beschäftigten allein in Deutschland mit 1,4 Millionen Vollzeitäquivalenten einen Anteil von fast 5 Prozent an der Gesamtbeschäftigung – jeder fünfte Erwachsene war zu dieser Zeit unentgeltlich aktiv (Priller/Zimmer 2001). Im Jahr 2009 erzeugten Freiwillige einen geschätzten Arbeitswert von 35 Milliarden Euro (Pinl 2013).

Das neue Ehrenamt in der Pflege

Das Ehrenamt in der Pflege ist jedoch kein neues Phänomen. Bevor der Beruf der Altenpflege in den 1960er Jahren offiziell eingeführt wurde, waren zumeist bürgerliche Frauen als sogenannte Diakonissen und Ordensschwestern unentgeltlich in der Alten- und Krankenpflege tätig. Das Normalarbeitsverhältnis war für den Pflegebereich, historisch betrachtet, nie maßgeblich prägend, die Abgrenzung zwischen professioneller Fach- und Laienpflege immer prekär und umkämpft. Diese Diffusität von beruflichen Tätigkeitsprofilen und qualifikationsbasierten Zuständigkeiten spielt auch heute eine zentrale Rolle, wenn Freiwillige für pflegerische Betreuungsleistungen mobilisiert werden. So erfasste die Wiederentdeckung des bürgerschaftlichen Engagements ab den 1990er Jahren auch den Pflegebereich, wo freiwillige Gratisarbeit durch die Professionalisierung der Sozial- und Gesundheitsberufe zwischenzeitlich an den Rand gedrängt worden war. Der Einsatz von Freiwilligen wird seither vor allem durch die Sozialgesetzgebung gestärkt und ausgeweitet. Das Pflegeleistungsergänzungsgesetz von 2001 zielte mit der finanziellen Förderung niedrigschwelliger Betreuungsangebote auf die Stärkung häuslicher Betreuung auch durch Ehrenamtliche ab. In diesem Jahr erhielt bereits jeder zehnte Pflegehaushalt Unterstützung durch Freiwillige (ZQP 2013). Das Pflegeweiterentwicklungsgesetz ergänzte sieben Jahre später Fördermöglichkeiten für Selbsthilfe und Ehrenamt auch für körperlich Kranke. In dieser Zeit wurde auch der Spitzenverband der Pflegekassen dazu verpflichtet, niedrigschwellige Betreuungsangebote und ehrenamtlich Pflegende mit 25 Millionen Euro jährlich zu unterstützen. Das Pflege-Neuausrichtungsgesetz von 2012 gestattete stationären Einrichtungen, Aufwandsentschädigungen an Ehrenamtliche zu zahlen. Diese Förderung des bürgerschaftlichen Engagements gewann mit der Verschärfung der Pflegekrise sukzessive an Fahrt und ist darüber hinaus schon länger Teil der »Demografie-Strategie der Bundesregierung« sowie der »Nationalen Engagement-Strategie«. Für die nächsten Jahre wird mit der Versorgung von Flüchtlingen eine weitere Etappe des neuen Engagement-Diskurses prophezeit, wobei »die Entwicklung hin zu einer Tätigkeitsgesellschaft« die Abgrenzung zwischen beruflicher- und unentgeltlicher Arbeit ohnehin zunehmend erschwert (Evers u.a. 2015). Die Engpässe in der professionellen Pflege sowie die Tatsache, dass die Pflegeversicherung auch in Zukunft eine Teilkaskoversicherungbleiben soll, legen nahe, dass sich dieser Trend fortsetzen wird.

Professionalisiertes ›weibliches‹ Engagement an der Schnittstelle zum Niedriglohn

Mit nur 2 Prozent der insgesamt ehrenamtlich Tätigen, gehört Engagement in der Pflege nicht zu den beliebtesten Bereichen freiwilliger Arbeit. Ein Blick auf die dort Engagierten ist dennoch aufschlussreich: Laut FreiwilligenSurvey engagieren sich dort häufig ältere, zu 80 Prozent weibliche, gut qualifizierte, materiell durchschnittlich abgesicherte Personen. Pflegende Angehörige sind in dieser Gruppe überdurchschnittlich oft vertreten (ZQP 2013). Von einer qualitativ neuen und geschlechtergerechten Arbeitsverteilung kann hier also offensichtlich nicht die Rede sein – das Engagement in Pflege und Gesundheit bleibt überwiegend ›weiblich‹. Weil das Ehrenamt jedoch weder eine konstante und verbindliche (geschweige denn professionelle) Versorgung von Pflegebedürftigen gewährleisten kann, wird es zunehmend als soziale Dienstleistung professionalisiert und über materielle Anreize gesteuert – etwa mittels pauschaler Entschä- digungen und Versicherungsleistungen. Häufig wird der ehrenamtliche Pflegeeinsatz über Leistungen der Pflegeversicherung für sogenannte niedrigschwellige Betreuungsund Entlastungsleistungen finanziert. Denn mit dem ersten Pflegestärkungsgesetz haben Pflegebedürftige und Personen mit »eingeschränkter Alltagskompetenz« erhöhten Anspruch auf zusätzliche Betreuung. Mit dieser ›Betreuungspauschale‹ stehen ihnen seit 2015 monatlich zusätzlich zum Pflegegeld zwischen 104 und 208 Euro an zweckgebundenen Beträgen für die Inanspruchnahme freiwilliger Helferinnen zur Verfügung. Auf diese Weise avanciert das Ehrenamt zu einer nebenberuflichen Beschäftigung mit Stundensätzen zwischen fünf und zehn Euro, die zum Teil weit unter dem gesetzlichen Pflegemindestlohn liegen und vor allem für diejenigen attraktiv werden, die von geringen Rentenleistungen und Altersarmut betroffen sind.

Das Ehrenamt als kostengünstiger Pflegedienstleister

Dass sich das Ehrenamt dabei mitunter zu einem konkurrierenden Anbieter pflegerischer Dienste mausert, zeigt das Beispiel einer ehemaligen Pflegehilfskraft. Die erwerbsunfähige Rentnerin engagiert sich nach einem erlittenen Burn-out ehrenamtlich als Demenzhelferin für fünf Euro die Stunde, um ihre dürftige Rente aufzubessern. In einem 2014 geführten Interviewberichtete sie stolz, ihr Verein sei wesentlich kostengünstiger als andere Anbieter. Und auch die Leiterin des Vereins hob hervor, dass sie aufgrund der geringeren Vergütung der freiwilligen Mitarbeiterinnen – im Vergleich zum Personal ambulanter Pflegedienste – mehr Zeit für die Pflegebedürftigen anbieten könne. Sowohl aufseiten der caregiver wie aufseiten der care receiver ist die Altersarmut der zentrale Treiber dieses Unterbietungswettbewerbs. Die Konkurrenz von ambulanten Pflegediensten und Freiwilligenvereinen um die niedrigschwelligen Betreuungsleistungen nimmt zu. Wenn hier Ehrenamtliche nicht selten selbst grund- und sogar behandlungspflegerische Aufgaben (wie Injektionen oder Wundversorgung) übernehmen, werden damit nicht nur Prozesse der Entprofessionalisierung in der Pflege fortgeschrieben, die das traditionelle Negativimage des Berufes als einer ›Jederfrautätigkeit‹ festigen. Auch die Engagierten selbst werden während ihrer Einsätze häufig überfordert.

Ein anschauliches Beispiel solcher Überforderung schilderte die bereits genannte Demenzhelferin. Es geht um einen Zwischenfall im Haushalt einer hochaltrigen Pflegebedürftigen, die während des Einsatzes einen Atemstillstand erlitt. Da die Angehörigen entschieden, keinen Arzt zu konsultieren, wohnte die Demenzhelferin dem Geschehen als hilflose Zeugin bei: »Das ging mir ganz schön nah. Die hätte mir ja auch unter den Händen wegsterben können.« Das Beispiel zeigt eindrücklich, mit welchen Anforderungen pflegende Angehörige und Ehrenamtliche in der Pflege alleingelassen werden – ein mehrwöchiger Crashkurs zum Thema Demenzbetreuung kann eine dreijährige Berufsausbildung zur Altenpflegekraft nicht ersetzen. Zugleich wird hier die essenzielle Bedeutung des Engagements in der maroden Pflegelandschaft deutlich, bieten doch freiwillige Demenzhelferinnen oftmals die einzige Betreuung neben den häufig überlasteten Angehörigen und den im engen Takt der Minutenpflege ächzenden Pflegediensten.

Lösungen jenseits von Staat und Markt?

Wurde die sozialpolitische Instrumentalisierung des Ehrenamts noch in den 1980er und 1990er Jahren von Arbeits-, Sozialwissenschaften und Gewerkschaften problematisiert, ist diese Kritik vielfach verstummt: Das Engagement wird mehr und mehr zu einer materiell entschädigten, mittels Passungsfähigkeit und Talentmanagement quasi personalpolitisch gemanagten und professionalisierten Sozialdienstleistung – eine Entwicklung, die selbst in Teilen der gesellschaftlichen Linken begrüßt wird. Die kollektiv-selbsttätige Organisation der Reproduktion »jenseits von Markt und Staat« wird vielerorts als Gegenstrategie zur privatwirtschaftlichen wie auch staatlichen Vereinnahmung begriffen (Lent/Trumann 2015, 105). Indem allerdings auch die Care-Commons den Sozialstaat von Reproduktionskosten entlasten, gleichen sie weniger »Inseln« (trouble everyday collective 2014, 69) als vielmehr innerkapitalistischen Kolonien (vgl. Werlhof et al. 1988). CaringCommunities oder Bürgerkommunen genießen dennoch nicht selten den Ruf, Manifestationen realutopischer Entwürfe einer solidarischen Zukunftsgesellschaft zu sein. Dass sie jedoch mitunter auch zu einer Entprofessionalisierung in der Pflege beitragen und freimütig Niedriglohnbeschäftigung organisieren, zeigt das Zitat des Bürgermeisters einer Caring-Community, der in einer Forschungsstudie den Gestaltwandel des Ehrenamts wie folgt bewirbt: »Die Engagierten, die wir vermitteln, unterstützen hilfe- und pflegebedürftige Mitbürger deutlich intensiver als in der traditionellen Nachbarschaftshilfe. Sie werden von uns geschult und nicht nur in der Alltagsbegleitung, sondern auch in der Grundpflege und in der Hauswirtschaft eingesetzt. Dafür erhalten sie eine Aufwandsentschädigung von sieben bis acht Euro netto pro Stunde« (ZQP 2013, 62). Eine solche vorauseilende und kostengünstige Umsetzung des Subsidiaritätsgedankenskann ein konservativer Wohlfahrtsstaat wie der deutsche nur begrüßen – er bürdet traditionell den Großteil der pflegerischen Versorgung kleinen Netzwerken auf, mehrheitlich unbezahlt.

Der staatliche Appell an die Freiwilligen und deren beinah euphorische Würdigung als »Elite der Gesellschaft« sollten zudem Skepsis hervorrufen, wenn es heißt: »Die Ehrenamtlichen kümmern sich viel persönlicher, als dies die beste staatliche Jobagentur kann […]. Das ist nicht nur positiv, das ist wunderbar. Die Ehrenamtlichen haben Fantasie. Die Ehrenamtlichen sind die Unbezahlbaren dieser Gesellschaft, sie sorgen dafür, dass aus Demokratie nicht Dekadenz wird« (Prantl 2010). Das Ehrenamt wird hier als ›unbezahlbare‹ Prävention gegen sozialstaatliche Generosität begrüßt, getragen von aktiven, für ihre Belange selbst verantwortlichen Bürgerinnen.

Ungehorsames Engagement

Aus einer kritischen Perspektive stellt sich die Frage, wie den bestehenden Versorgungslücken in der Pflege begegnet werden kann, ohne bereitwillig zu akzeptieren, dass die sozialstaatliche Daseinsfürsorge durch die Gratisarbeit sorgender Gemeinschaften substituiert wird. Die Losung »Es ist uns keine Ehre« des Berliner Medibüros (vgl. Schuh in diesem Heft), das eine unentgeltliche medizinische Versorgung für Flüchtlinge organisiert, stellt einen reflektierten Versuch dar, die eigene Tä- tigkeit als aus der Not geborene Hilfeleistung und die Gefahr der sozialpolitischen Instrumentalisierung öffentlich zu problematisieren. Darin artikuliert sich ein Selbstverständnis, das als »ungehorsames Engagement« bezeichnet werden könnte und das sich jenseits einer zynischen Generalabsage von linker Seite an praktische Unterstützung von Hilfebedürftigen verortet. Aber auch jenseits bürgerlicher Selbstaufopferung. Hier wird aufgezeigt, dass Care-Work unter den Bedingungen kapitalistischer Verwertung und sozialpolitischer Instrumentalisierung schlechterdings unmöglich ohne Ausbeutung zu haben ist (Van Dyk et al. 2016). Eine andere Form, auf die Instrumentalisierung des freiwilligen Engagements hinzuweisen, bestünde hingegen in einer demonstrativen Verweigerung – die Hausfrauenstreiks der 1970er Jahre könnten dafür Pate stehen. Ein Streik von Freiwilligen könnte sowohl auf die essenzielle Bedeutung unsichtbarer Arbeit als auch auf ihre Instrumentalisierung hinweisen. Die Entwicklung solcher Protestformen gehört auf die Agenda einer emanzipatorischen Politik, die sich den Fragen sozialer Reproduktion zuwendet.

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1 Mit dem Begriff Social-Investment-State wird der Strukturwandel des deutschen Sozialstaates im Zuge der 1990er Jahre bezeichnet, in dessen Folge Aktivität, Eigentätigkeit und Selbststeuerung der BürgerInnen sozialpolitisch an Bedeutung gewinnen (vgl. Lessenich 2008).

2 Die 1995 eingeführte deutsche Pflegeversicherung ist eine »beitragsfinanzierte Teilkaskoversicherung« in Abgrenzung zu einer »bedarfsorientierten Vollkaskoversicherung«, das heißt, die budgetierten Versicherungsleistungen decken lediglich einen Teil der entstehenden Kosten ab und sollen die informelle Pflege durch Angehörige, Nachbarn oder Freunde nur »ergänzen« (§4 SGB XI). Sie setzt die Bereitschaft zur unbezahlten Übernahme pflegerischer Tätigkeiten durch soziale Netzwerke immer schon voraus.

3 Dieses und andere Interviews mit überwiegend ›informellen‹ Pflegekräften wie Angehörigen, Ehrenamtlichen und migrantischen Pflegekräften führte ich im Rahmen meiner Dissertation zur sozialpolitischen Regulierung der deutschen Pflegekrise 2014.

4 Der deutsche Sozialstaat zeichnet sich durch seine am Subsidiaritätsprinzip ausgerichtete »privatistischfamilialistische Pflegekultur« aus (Lessenich 2003). Die jeweils kleinere soziale Einheit wie etwa die Familie ist die bevorzugte ökonomische und soziale Unterstützungsinstanz.

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