Vor diesem Hintergrund sind die Demonstrationen vom 23. und 27. Juni und vom 23. Juli zu sehen. Sie sind Ausdruck der kollektiven Frustration, die beginnt, sich als politische Forderungen zu artikulieren. Ich würde diese Demonstrationen als »pseudorevolutionär« einschätzen. Sie beziehen sich mit dem Slogan »Y’en a marre« (Uns reichtʼs) zwar auf die konkreten Probleme des Alltags der Jugendlichen, ohne allerdings hierzu konkretere Forderungen zu stellen. Diese machen derzeit bei einem Nein zu Verfassungsänderungen halt, die dem jetzigen Präsidenten Wade die Wiederwahl garantieren sollten. Zu den Protesten riefen vor allem die Jugend und Bewegungen der Zivilgesellschaft wie die M23-Bewegung auf. Heißt dies, dass die politischen Parteien versagt haben? Es stimmt, dass die oppositionellen Parteien vor dem 23. Juni wenig mit den alltäglichen Kämpfen der Menschen in den Dörfern und Städten und ihren zivilgesellschaftlichen Organisationen zu tun hatten. Mit ihrer bemerkenswerten Fähigkeit, aus sozialer Mobilisierung Vorteile zu ziehen, ist es den Politikern gelungen, sich die Erfolge der Zivilgesellschaft anzueignen. Dies prägte den 19. März. Zunächst war es eine Person aus der senegalesischen Zivilgesellschaft, die zu einem Protest anlässlich des 11. Jahrestages der Amtsübernahme von Präsident Wade aufrief. Das Ereignis haben schließlich die Oppositionsparteien für sich vereinnahmt und für ihre eigenen Interessen genutzt. Hierin liegt eine große Gefahr der Schwächung der Bewegung. Die Oppositionsparteien haben sich auch die M23-Bewegung faktisch angeeignet, nachdem es ihnen zuvor nicht gelungen war, die Themen und Slogans zu finden, mit denen sie die Bevölkerung mobilisieren konnten. Die Medien und der Mangel an Organisation und Homogenität der Zivilgesellschaft haben diesen Prozess befördert. Die M23-Bewegung sollte zum Ausdruck eines Zusammenschlusses der Kräfte der Zivilgesellschaft und der politischen Parteien werden. Aus ihr sollte eine gemeinsame Plattform entstehen, von der aus um die Übernahme der politischen Macht und die Stärkung von Interessenvertretung und demokratischen Beteiligungsformen gekämpft wird. Es ist nicht Aufgabe der Zivilgesellschaft, die Opposition bei der Übernahme politischer Macht zu unterstützen. Vielmehr muss sie klare und transparente Bündnisse mit politischen Kräften schmieden und ihre Fähigkeit zu mobilisieren für die Artikulation der Interessen der Menschen nutzen. Die politische Landschaft im Senegal hat sich verändert. Keine politische Partei kann den Senegal allein regieren, ohne sich mit zentralen Figuren aus anderen Parteien und der Zivilgesellschaft zu verbünden. Was muss heute getan werden, um das Parteiensystem im Senegal zu rehabilitieren? Wir brauchen politische Parteien, die die Situation des Landes und den Alltag der Menschen analysieren können. Mit dem amateurhaften und unreflektierten Handeln muss Schluss sein. Parteien sollten die Forderungen der Bevölkerung stärker aufgreifen und mit der Zivilgesellschaft bei der Bewältigung der öffentlichen Aufgaben zusammenarbeiten. Die Interessen und Bedürfnisse der Mehrheit der Bevölkerung müssen aufgegriffen werden und partizipatorische Entscheidungsprozesse eingeführt werden. Sonst wird die Bevölkerung weiter für Alternativen und Wege aus der krisenbedingten Verschärfung ihrer wirtschaftlichen und sozialen Lage protestieren. Interview von Ousmane Niang, aus dem Französischen von Claus-Dieter König