Anlass genug, ein paar Geschichten aus ihrer Geschichte zu erzählen: Geschichten, die in einem ersten Schritt in die Zeit unmittelbar vor dem Mai 68, in einem zweiten zu den kulturrevolutionären Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts und dann zurück in die Epoche der Romantik führen. Im ersten Schritt geht es um das, was Luc Boltanski und Ève Chiapello die polare Ausspannung der Kapitalismuskritik in eine Sozial- und eine Künstlerkritik genannt haben. Im zweiten geht es um die Radikalisierung der Kapitalismuskritik zu einer Totalkritik der Wirklichkeit als Wirklichkeit und im dritten Schritt um den subjektiven Faktor der Kritik in den romantischen Anfängen des »dichterischen Lebens« Benjamins in der »Ästhetik der Existenz«.

Sozial- und Künstlerkritik

Der Mai 68 war ein globaler Transformationsprozess, der sich ab den späten 1950er Jahren abzeichnete und Ende der 1970er Jahre abbrach. Die Fokussierung auf den Mai erinnert das Geschehen in Paris beziehungsweise in Frankreich, wo die Protestbewegung der jungen Generationen in einem Generalstreik von zehn Millionen Menschen gipfelte. Gekämpft wurde damals überall auf der Welt, im ›freien Westen‹ wie im ›sozialistischen Osten‹, in den bereits unabhängig gewordenen wie in den noch kolonialisierten Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas. Gekämpft haben ArbeiterInnen, gekämpft haben ausnahmslos alle people of colour, gekämpft haben die Frauen, die Schwulen und Lesben, die in Gefängnissen oder Heimen Internierten sowie all diejenigen, die mit den autoritären Bildungsanstalten unzufrieden waren. Gekämpft haben ganz verschiedene Subjekte, die sich in einem einig waren: alltäglich hier und jetzt anders leben zu wollen, in radikal veränderten Selbst- und Weltverhältnissen, in neuen sozialen Beziehungen und Weisen des Zusammenwohnens, Zusammenarbeitens und Zusammenlebens wie Kommunen, Wohngemeinschaften und alternativen Produktionsstätten, in neuen kulturellen Ausdrucksformen, mit neuen Sitten und Tugenden. Begrifflich markiert wird die ab jetzt von den Auseinandersetzungen um Lebensweisen bestimmte Neuausrichtung aller sozialen Kämpfe durch die Unterscheidung, die seither zwischen der Arbeiterbewegung als alte soziale Bewegung und den neuen sozialen Bewegungen gezogen wird. Von ihr aus hat Michel Foucault vorgeschlagen, das Eigentümliche dieser Zeit im Begriff der Reformation zu fassen: Wie im 15. und 16. Jahrhundert sei es auch in den 60er, 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts eher um eine Umwälzung der alltäglichen Lebensweisen und ihre Subjektivierung im je eigenen wie im gemeinsam gelebten Leben als um eine Umwälzung der Staatsapparate gegangen. Dabei bleibt die Reformation der Lebensweisen und Selbstverhältnisse trotzdem auf das politische Spiel von Reform und Revolution und beiden voraus auf eine Alltäglichkeit der Revolte angewiesen, in der jede und jeder mit sich selbst den Anfang macht, ohne darin allein bleiben zu wollen. Boltanski und Chiapello schließen hier mit ihrer Unterscheidung von Sozial- und Künstlerkritik an: die eine in der Geschichte der Arbeiterbewegung, die andere in der Geschichte der Boheme und der künstlerischen Avantgarden begründet. Geht es beiden um eine Kritik des Kapitalismus, erfolgt sie in der Sozialkritik primär als Kritik an Armut, Ausbeutung und Ungerechtigkeit, in der Künstlerkritik primär als Kritik an Unterdrückung, an der fehlenden Authentizität oder Uneigentlichkeit des Lebens und an der »Entzauberung« der Welt zur verdinglichten Warenwelt. Im Blick vom Mai 68 auf die Gegenwart verweisen Boltanski und Chiapello allerdings auf den Umstand, dass die damals erreichte Durchmischung von Sozialund Künstlerkritik spätestens in den 1980er Jahren einer passiven Revolution zum Opfer fiel. Mit ihr wurden die Errungenschaften der Reformation der alltäglichen Lebensweisen in das verkehrt, was wir heute als die neoliberale und biopolitische Modernisierung des Kapitalismus bekämpfen, in der die reelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapital zur reellen Subsumtion des Lebens und letztlich der ganzen Welt unter das Kapital entgrenzt wurde, bis in die letzte Minute des Tages und den letzten Winkel der Welt hinein. Wie in anderen großen historisch Umbrüchen resultiert das Scheitern des Aufbruchs gerade aus seinem Erfolg: aus der Bewegung, in der das rebellische Begehren von Minderheiten von einer großen und deshalb relevanten Zahl von Menschen aufgegriffen wurde. Auf dem Weg seiner gesellschaftlichen Verallgemeinerung abgeschwächt, wurde das Neue zuerst Verhandlungssache eines historischen Kompromisses und zuletzt Konsens einer neu justierten Hegemonie, die den Fortbestand des modernisierten Alten sichert. Im Interesse der heute zu beginnenden Kämpfe um Lebensweisen gilt es darum, das Unabgegoltene, das nicht Eingelöste und deshalb zwischenzeitlich Vergessene eigens zu erinnern.

Die eigensinnigste Internationale der Geschichte

»Der Dadaist liebt das Leben, weil er es täglich wegwerfen kann, ihm ist der Tod eine dadaistische Angelegenheit.« Richard Hülsenbeck

Die Geschichte der Künstlerkritik beginnt im 18. Jahrhundert. Im Widerstand einerseits gegen die Akademisierung der kulturellen Produktion und in der Selbstverteidigung andererseits ihrer ›abweichenden‹ Lebensweisen schließen sich damals erst MalerInnen, dann DichterInnen in Zirkeln zusammen, die bald schon Keimzellen einer umfassenden Reformation nicht bloß der Kunst, sondern der Gesellschaft werden wollen. Die 1957 gegründete Situationistische Internationale (SI) steht am Ende dieser Geschichte: Sie will nur noch solche KünstlerInnen und DichterInnen sammeln, die mit Kunst, Literatur, Architektur, mit Theater und Film, mit Philosophie und Wissenschaft ebenso Schluss machen wollen wie überhaupt mit der Arbeitsteilung und allen sozialen Trennungen – auch mit der vom gesellschaftlichen Leben getrennten Politik. In ihrer Form imitierte die SI die Dritte und Vierte Kommunistische Internationale, organisierte ihre insgesamt 70 Mitglieder in neun nationalen Sektionen und einer Außensektion, koordinierte sich über Weltkonferenzen, einen internationalen Zentralrat und ein für Städtebau zuständiges »Büro für einen Unitären Urbanismus«. Die in den Bars der rive gauche eingefädelte Satire fiel allerdings ernster aus als geplant: Von den 70 Mitgliedern wurden 43 ausgeschlossen, 24 traten aus, die Auflösung 1972 wurde von den letzten drei Mitgliedern beschlossen, ganze sieben Mitglieder waren Frauen.

Einfluss gewann die SI zunächst doch künstlerisch, publizistisch und theoretisch: durch Bilder und Filme und deren skandalumwitterte Ausstellung beziehungsweise Vorführung, durch Flugblätter und Flugschriften, durch die zwölf Ausgaben ihres luxuriös gestalteten Zentralorgans, durch zwei kurz vor dem Mai 68 veröffentlichte Bücher: Guy Debords Gesellschaft des Spektakels und Raoul Vaneigems Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen. Einfluss gewann sie zuletzt durch ihre Beteiligung an der Besetzung der Sorbonne, während der sie eine eigene Vorfeldorganisation gründete, das »Komitee zur Aufrechterhaltung der Besetzungen«.

Einfluss bis auf den heutigen Tag gewann sie schließlich durch ihren Stil: den Stil einer kompromisslos gelebten Radikalität. Dazu gehörte das ebenso vielversprechende wie absichtsvoll vage Konzept einer zuerst im existenziell Kleinen und zuletzt im weltgesellschaftlichen Ganzen zu praktizierenden »Konstruktion von Situationen.« Ihr wurden die Taktiken des Umherschweifens und der Entwendung zugeordnet: die erste nicht nur, aber auch wortwörtlich zu verstehen als oft über Tage und Nächte sich hinziehendes Durchstreifen der Stadt; die zweite wortwörtlich zu verstehen als trickreiche Beschaffung der Ressourcen für ein arbeitsfreies Leben, im übertragenen Sinn zu praktizieren in der subversiven ›Aufhebung‹ des gesamten Erbes der Kunst, der Literatur, der Philosophie und der revolutionären Politik eben in der »Konstruktion von Situationen«.

Verstehen lässt sich der Einsatz der SI vielleicht am deutlichsten an Vorhaben, die sie nicht umzusetzen vermochte. So diskutierte die Londoner Weltkonferenz 1960 zwei Projekte, für die von einem reichen italienischen Sympathisanten ausreichend finanzielle Mittel zugesagt waren. Das erste war die im Guerilla-Stil geplante Besetzung der Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) mit Sitz in Paris. Das zweite war die auf einer Mittelmeerinsel geplante Anlage einer situationistischen Experimentalstadt als einer real existierenden befreiten Zone. Beide Projekte wurden wie die künstlerische und literarische Produktion einem immer kompromissloseren, dafür aber immer abstrakteren Radikalismus geopfert, der letztlich auf die Enthaltung von jeder Aktivität zielte, weil jedes konkrete Vorhaben, so der Verdacht, Opfer einer passiven Revolutionierung geworden wäre.

Das Zeitalter der Avantgarde

»Nun gibt es nicht mehr die Kette der Tatsachen: Fabriken, Häuser, Krankheit, Huren, Geschrei und Hunger. Nun gibt es ihre Vision.« Kasimir Edschmid

Zwischen der frühen Boheme des 18. und 19. Jahrhunderts und ihrer späten ›Internationalen‹ erstreckt sich das Zeitalter der kulturrevolutionären Avantgarden: Künstler-, Literaten- und Aktivistengruppen mit weltweit mehreren Hundert MitstreiterInnen. Legt man Max Webers an der historischen Reformation gewonnene Unterscheidung der »religiösen Virtuosen« von den »religiösen Laien« an die Avantgarden an, erscheinen sie als Virtuosen einer Bewegung, die Zehntausende, wenn nicht über Hunderttausend Laien bewegte: all die zum Beispiel, die sich zu dieser Zeit an der bürgerlichen ›Lebensreform‹ beteiligten, die aber auch am Rand der parteioffiziellen Arbeiterbewegung an der von Karl-Heinz Roth (1974) so genannten »anderen Arbeiterbewegung« teilnahmen.

»Ein aufheulendes Auto ist schöner als die Nike von Samothrake.« Filippo Marinetti

Im Rückblick lassen sich grob vier beziehungsweise fünf Hauptströmungen ausmachen: der Expressionismus, der in seinen italienischen und sowjetischen Flügel gespaltene Futurismus, der Dadaismus und der Surrealismus. Geboren im Ersten Weltkrieg, verstanden sie sich subjektiv als vorderste Frontlinie einer in der Industrie, den Wissenschaften, der Großstadt, den proletarischen Massen und in der eigenen Vereinzelung gipfelnden Totalkrise der Wirklichkeit selbst. Bezogen sie sich oft enthusiastisch auf die Oktoberrevolution, scheiterten sie alle am Faschismus und in der Hölle des Zweiten Weltkrieges.

Unter den Avantgarden erhoben die SurrealistInnen zweifellos den weitreichendsten reformatorischen Anspruch. Inspiriert von der ihnen vorangegangenen Dada-Bewegung ging es ihnen um eine dialektische Aufhebung von deren reiner Negativität. Walter Benjamin (1929, 201) schrieb ihnen zu, den »Bereich der Dichtung von innen gesprengt« zu haben, indem sie als »ein Kreis von engverbundenen Menschen« den Versuch unternahmen, ein »dichterisches Leben bis an die äußersten Grenzen des Möglichen« zu treiben. Dabei ging es den SurrealistInnen nicht nur um eine Kritik der bürgerlich-kapitalistischen Modernisierung, sondern ihr voraus um eine Kritik der ganzen christlich-abendländischen Zivilisation und ihrer Rationalität, damit aber um eine Kritik überhaupt des Ganzen der Wirklichkeit. Ihr setzten sie eine erst zu schaffende ›Über-Wirklichkeit‹, eben die ›SurRealität‹ entgegen, von der André Breton im Ersten Manifest des Surrealismus (1924) schrieb: »Der Surrealismus beruht auf dem Glauben an die höhere Wirklichkeit gewisser, bis dahin vernachlässigter Assoziationsformen, an die Allmacht des Traumes, an das zweckfreie Spiel des Denkens. Er zielt auf die endgültige Zerstörung aller anderen psychischen Mechanismen und will sich zur Lösung der hauptsächlichen Lebensprobleme an ihre Stelle setzen.« Noch ihre situationistische Erbin überbietend, schließt die Surrealität auch die ›Aufhebung‹ der Religion ein: »Alle großen Mystiker aller Religionen wären unser, wenn sie die Halseisen ihrer Religionen zerbrochen hätten, die wir nicht ertragen können.«

Der Weg zur Surrealität führte über das Malen von Bildern und das Schreiben von Gedichten hinaus, über die jeden Tag aufs Neue zu übende Subversion der Grenzen von Wachen und Träumen, von Ernst und Spiel, von Vernunft und Unvernunft in eine alltägliche Offenheit für den hasard objectif, den ›objektiven Zufall‹ des Wunders, des Ereignisses und der Gnade. Das mithilfe der Psychoanalyse benannte Ziel solch’ »dichterischen Lebens« bestand in der – so Breton – »Aufhebung des Ich im Es«, deren privilegierter Ort die Liebe sein sollte, »l’amour fou«, die verrückte, leidenschaftliche Liebe. Erreicht haben die SurrealistInnen dieses Ziel nur bedingt, und das gilt gleichermaßen für die Kunst, den Alltag, die Liebe, die Religion und die Politik. Dieses Scheitern war allerdings nicht einfach ihr Scheitern: Es hing am Scheitern der Oktoberrevolution und der sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeiterbewegung wie an der Quittierung dieses Scheiterns in der faschistischen Verwüstung der Welt.

»Die Avantgarde ergibt sich nicht. In ihr hat die klassenlose Gesellschaft ihre Kunst gefunden. Sie ist das Bewusstsein der Klasse, die die letzte gewesen sein wird.« Situationistische Internationale

Trotzdem haben die SurrealistInnen, anders als viele andere KünstlerInnen und Intellektuelle der Linken, ein noch heute beeindruckendes Zeugnis des aufrechten Gangs und freien Denkens abgelegt. Als sie Mitte der 1920er Jahre Ernst machen wollten mit der Politik, traten prominente SurrealistInnen, darunter Breton, der Kommunistischen Partei bei. Der Titel ihrer Zeitung wurde von La Révolution Surréaliste in Le Surrálisme au Service de la Révolution geändert. Knapp zehn Jahre später brachen sie, mitten im Spanischen Bürgerkrieg und im antifaschistischen Widerstand, mit der Sowjetunion und der stalinisierten französischen Kommunistischen Partei. Gemeinsam mit dissidenten KommunistInnen und AnarchistInnen gründeten sie die Allianz Contre-Attaque (Gegenangriff), die sich zugleich den Nazis, dem Stalinismus und dem Kapital widersetzen und die Surrealität – das zweckfreie Spiel des Denkens, Träumens und Begehrens in praktizierter Poesie – zur massenwirksamen Alternative machen wollte. Eine wichtige Rolle fiel dabei Colette Peignot zu, die unter dem Pseudonym Laure schrieb und mit Georges Bataille zusammenlebte, dem neben (und gegen) Breton einflussreichsten Surrealisten. Als Botschafterin der Surrealität reiste Laure nach Berlin, Moskau und Leningrad, rieb sich für Contre-Attaque auf und starb 1938 im Alter von nur 35 Jahren an Tuberkulose. Ihre Schriften verbreiteten sich erst in den 1960er Jahren und übten, ein objektiver Zufall, einen prägenden Einfluss auf die im Mai 68 erstarkende Frauenbewegung aus.

Andere entsetzliche ArbeiterInnen

Noch in einem späten Text hat Breton den Surrealismus in die Tradition einer weit verstandenen Romantik und den surrealistischen Dichterhalbgöttern Charles Baudelaire und Arthur Rimbaud ausdrücklich den romantischen Schriftsteller und Philosophen Novalis an die Seite gestellt. Stammt von Novalis der Satz »Die Welt muss romantisiert werden« und von Rimbaud der Satz »Man muss unbedingt modern sein«, instruieren beide Sätze die innere Dialektik des »dichterischen Lebens«, für das der 17-jährige Rimbaud (1871) die bald berühmt gewordenen Worte fand: »Ich ist ein Anderer. […] Der Dichter macht sich sehend durch eine lange, immense und überlegte Ent-Regelung aller Sinne. Alle Formen der Liebe, des Leidens, des Wahns; er forscht selbst, er schöpft in sich alle Gifte aus, um nur die Quintessenzen zu bewahren. […] Er gelangt zum Unbekannten, und wenn, ganz baff, er dann die Einsicht in seine Visionen verliert – er hat sie gesehen. Mag er bei seinem Springen durch die unerhörten und unbenennbaren Dinge krepieren: Es kommen andere entsetzliche Arbeiter, sie fangen bei den Horizonten an, wo der andere niedergesunken ist. […] Der Dichter ist also wirklich der Dieb des Feuers. Er ist für die Menschheit, ja selbst für die Tiere zuständig; er wird seine Erfindungen spürbar, greifbar, hörbar machen müssen. Wenn das, was er von dort mitbringt, Form hat, gibt er Form: Ist es ungeformt, gibt er Ungeformtes.«

»Leichte Bande sind mir Ketten, und die Heimat wird zum Kerker. Darum fort und fort ins Weite aus dem engen dumpfen Leben.« Karoline von Günderode

Wie Laure und einige andere DichterInnen fielen Novalis, Baudelaire und Rimbaud der rückhaltlosen Verausgabung ihrer Subjektivität zum Opfer: Novalis starb mit 29 Jahren an Tuberkulose, Baudelaire mit 46 Jahren verarmt und ausgezehrt von Alkohol- und Drogenkonsum. Rimbaud schrieb seine Gedichte und Prosa zwischen seinem 15. und 20. Lebensjahr, brach sein Schreiben und sein exzessives Künstlerleben dann zugunsten eines anderen Exzesses ab: Er reiste jahrelang kreuz und quer durch das kolonialisierte Afrika, wurde Händler, wurde wohlhabend, wurde krank, kehrte nach Europa zurück und starb mit 37 Jahren qualvoll in Marseille nach der Amputation seines rechten Beines.

Der Geschichte Novalis’, Baudelaires und Rimbauds ist die Geschichte der Karoline von Günderode hinzuzufügen: geboren 1780, Schülerin eines Darmstädter Damenstifts, die dort Philosophie, Geschichte und Literatur studiert und sich für die Französische Revolution begeistert. Sie liest Schelling, Fichte, Schlegel und Novalis, beginnt zu schreiben und unter dem männlichen Pseudonym Tian zu veröffentlichen: Gedichte über Freiheit und Gefangenschaft, über Liebe und Tod. Trotz prominenter Anerkennung bleibt ihr nur der mehrfach wiederholte Versuch, der bürgerlichen Frauenrolle durch Liebesverhältnisse zu entkommen. »Sie hat das Unglück«, schrieb Christa Wolf (1979, 13), »leidenschaftlich und stolz zu sein, also verkannt zu werden. So hält sie sich zurück, an Zügeln, die ins Fleisch schneiden. Das geht ja, man lebt. Gefährlich wird es, wenn sie sich hinreißen ließe, die Zügel zu lockern, loszugehen, und wenn sie dann, in heftigstem Lauf, gegen jenen Widerstand stieße, den die anderen Wirklichkeit nennen und von dem sie sich, man wird es ihr vorwerfen, nicht den rechten Begriff macht.« Nach dem Scheitern eines letzten Ausbruchsversuchs erdolcht sie sich im Alter von 26 Jahren.

»›Die Welt verändern‹, hat Marx gesagt; ›das Leben ändern‹, hat Rimbaud gesagt. Diese beiden Losungen sind für uns eine einzige.« André Breton

Spannt man die Epoche der Romantik frei bis auf die Zeit Rimbauds aus, der 1874 zu schreiben aufhört, dann fällt die junghegelianische Bewegung in ihre Mitte. Die Junghegelianer waren keine Künstler, sondern Philosophen, fielen aber ebenso aus den für ihre Bildungsgeschichte vorgesehenen bürgerlichen Karrieren heraus, schlossen sich der Boheme an, verkehrten in ihren Kreisen und in ihren Kneipen. Auch sie sind meistens Männer – aber eben nicht nur. Zu ihnen gehört Marie Dähnhardt, die Zigarren raucht und in Männerkleidern in der Berliner Hippelschen Weinstube verkehrt, wo sie sich 1843 von einem unter Vorwänden herbeigelockten, angesichts der betrunkenen Gesellschaft höchst verwirrten Priesters mit Max Stirner verheiraten lässt, der seinem philosophischen Hauptwerk Der Einzige und sein Eigentum (1845) die Widmung »Meinem Liebchen Marie Dähnhardt« voranstellt. Stirner ist heute primär durch die maßlos ungerechte, letztlich selbstdestruktive Polemik bekannt, mit der die Mit-Junghegelianer Karl Marx und Friedrich Engels ihn in der Kritik der Deutschen Ideologie (1846) überzogen, in der er als »Sankt Max« firmiert. Das zu ihren Lebzeiten gar nicht veröffentlichte Buch markiert den entscheidenden Bruch im Junghegelianismus. Dieser Bruch ist heute, anders als Marx und Engels damals glaubten, weniger als Bruch zwischen Materialismus und Idealismus denn als Bruch zwischen Sozial- und Künstlerkritik, als Bruch aber auch im Denken von Marx und Engels selbst zu lesen: ein Bruch, den erst der Mai 68 überbrückt hat. Von dort sind die heutigen, in verschiedener Weise ›postmarxistischen‹ Formen der Kritik zu verstehen, in denen Marx und Stirner, Marx und Rimbaud, Marx und Nietzsche mehr oder minder zwanglos aufeinander bezogen werden, getreu der Einsicht Bretons: »›Die Welt verändern‹, hat Marx gesagt; ›das Leben ändern‹, hat Rimbaud gesagt. Diese beiden Losungen sind für uns eine einzige.«

Überarbeitete und gekürzte Fassung der Luxemburg Lecture, gehalten am 27. Juni 2014 zum Auftakt der III. Transformationstagung der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Literatur

Benjamin, Walter, 1929: Der Sürrealismus, Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz, in: Angelus Novus, Frankfurt 1966, 201ff Rimbaud, Arthur, 1871: Brief an Paul Demeny vom 15. Mai 1871, in: Die Zukunft der Dichtung: Rimbauds Seher-Briefe, Berlin 2010, 25ff Roth, Karl-Heinz, 1974: Die »andere« Arbeiterbewegung und die Entwicklung der kapitalistischen Repression von 1880 bis zur Gegenwart, München Wolf, Christa, 1979: Kein Ort. Nirgends, Berlin/Weimar