In vielerlei Hinsicht erinnert die heutige Krise an die der 1930er Jahre, wie Karl Polanyi sie in Die große Transformation beschrieben hat. Damals wie heute werden mit unnachgiebigem Druck Märkte ausgeweitet und dereguliert. Überall entsteht Chaos, die Lebensgrundlagen von Milliarden von Menschen werden zerstört, solidarische gesellschaftliche Beziehungen zerbrechen. Damals wie heute resultiert diese Entwicklung in einer multidimensionalen Krise, die nicht nur ökonomische und finanzielle, sondern ebenso ökologische und gesamtgesellschaftliche Dimensionen hat. Darin hat die aktuelle Krise eine bestimmte tiefenstrukturelle Logik, die der von Polanyi analysierten Situation ähnelt. Beide scheinen in einer gemeinsamen Dynamik zu wurzeln, die er »fiktive Kommodifizierung« (Warenwerdung) nannte. In beiden Perioden haben Marktfundamentalisten versucht, alle notwendigen Voraussetzungen der Produktion (Arbeit, Natur und Geld) in Waren zu verwandeln – zum Verkauf auf sich »selbst regulierenden« Märkten. Tatsächlich aber war und ist dieses Projekt in sich selbst widersprüchlich. Der Wirtschaftsliberalismus droht, die Mechanismen des Kapitalismus zu untergraben, auf denen er selbst beruht. Angesichts dieser strukturellen Ähnlichkeiten sprechen viele in Anlehnung an Polanyi von einer zweiten großen Transformation, gleichwohl: Die politische Antwort auf die Krise ist eine völlig andere.

Die sozialen Kämpfe in der Krise der 1930er Jahre beschreibt Polanyi als Doppelbewegung: Entlang einer klaren Trennungslinie formierten sich Parteien und Bewegungen und schlossen Bündnissen. Auf der einen Seite standen politische Kräfte und wirtschaftliche Interessen, die deregulierte Märkte und eine Ausdehnung der Inwertsetzungsprozesse unterstützten; ihnen gegenüber stand eine breite klassenübergreifende Front, die die Gesellschaft vor den Verheerungen des Marktes bewahren wollte – sie umfasste städtische Arbeiter und Landbesitzer, Sozialisten und Konservative. Als sich die Krise vertiefte, gewannen die Anhänger gesellschaftlicher Wohlfahrt und sozialer Sicherung vermehrt politische Kämpfe: An so unterschiedlichen Orten wie dem Amerika des New Deal, dem stalinistisch regierten Russland oder den faschistisch beherrschten Teilen Europas und später auch in den europäischen Nachkriegsdemokratien verständigten sich die politischen Klassen darauf, dass sogenannte selbstregulierende Märkte nicht sich selbst überlassen werden dürfen; sollen sie Gesellschaft und Natur nicht zerstören, ist politische Regulation notwendig.

Heute gibt es einen solchen Konsens nicht. Die politischen Eliten sind neoliberal. Dem Schutz von Investoren verpflichtet, fordern fast alle, einschließlich sogenannter Sozialdemokraten, Austerität und den Abbau von Haushaltsdefiziten – trotz der Gefahren, die derartige Politiken darstellen. Trotz intensiver kurzfristiger Aufbrüche wie in der Occupyoder Indignados-Bewegung sammelt sich im Zeichen einer gemeinsam formulierten solidarischen Alternative keine übergreifende Opposition. Den Protesten fehlt im Allgemeinen ein klares politisches Programm. Die sozialen Bewegungen bestehen fort, sind stärker institutionalisiert, aber auch sie leiden unter Fragmentierungen und vereinen sich nicht zu einem kohärenten Gegenentwurf.

Die Krise des 21. Jahrhunderts begreifen

Es fehlt ein gegenhegemoniales Projekt, die Gesellschaft und die Natur vor dem Neoliberalismus zu schützen. Doch warum zeichnet sich aktuell keine Doppelbewegung im Polanyischen Sinne ab? Warum überlassen die politischen Klassen unserer Zeit das Politikmachen den Zentralbanken? Warum gibt es keine breite Unterstützung eines neuen »New Deals«, kein Bündnis von GewerkschafterInnen, Arbeitslosen oder prekären ArbeiterInnen, Feministinnen, UmweltschützerInnen und AntiimperialistInnen, SozialdemokratInnen und demokratischen SozialistInnen? Warum keine gemeinsame Front, die darauf besteht, dass die Kosten der fiktiven Inwertsetzung nicht von der Gesellschaft oder der Natur bezahlt werden sollten, sondern durch die, deren unersättliches Akkumulationsstreben die Krise erst verursacht hat?

Eine einfache Hypothese wäre es, politisches Führungsversagen als Grund für die Abwesenheit einer Doppelbewegung anzuführen. Das reicht jedoch nicht. Erklärt werden muss das breiter zu fassende Versagen politischer Regulierung, das Wegbrechen von Positionen des politischen Keynesianismus innerhalb der Eliten und das Versagen einer ganzen Führungsschicht, die nicht einen einzigen ernsthaften Versuch unternimmt, die drohende Katastrophe abzuwenden.

Eine weiter gehende Erklärung bezieht sich auf den Übergang von einem fordistischen Akkumulationsregime, das auf industrieller Produktion basierte, zu einem postfordistischen Akkumulationsregime, das durch Finanzkapital dominiert wird. Im fordistischen Kapitalismus spielten Arbeit und die organisierte ArbeiterInnenschaft innerhalb der gesellschaftlichen Machtverhältnisse eine zentrale Rolle, denn die Ausbeutung von Arbeit war der Antriebsmotor der Kapitalakkumulation. IndustriearbeiterInnen verfügten über bedeutende Machtmittel und die Konzentration vieler an einem Ort erleichterte die gewerkschaftliche Organisierung. Eine Streikdrohung war damals eine machtvolle Waffe. Gewerkschaften bildeten das Rückgrat einer breiten popularen Bewegung und trieben Bemühungen voran, den Kapitalismus zu regulieren und die Gesellschaft vor den desintegrativen Effekten ökonomischen Laissez-faires zu schützen. Der Industriekapitalismus brachte zu Polanyis Zeiten strukturell eine gesellschaftliche und politische Basis des schützenden Pols der Doppelbewegung hervor.

Die Situation im gegenwärtigen Kapitalismus ist grundlegend anders. Das Kapital versucht, das riskante Geschäft der Produktion ganz zu vermeiden. Heutige Investoren erzielen Profite durch den Kauf und Verkauf von Geld und von neuen finanziellen Produkten, die finanzielle Risiken in Wert setzen. Das reduziert die Abhängigkeit des Kapitals von der ArbeiterInnenschaft, die ohnehin durch Entwicklungen neuer Technologien an Bedeutung verliert. Die industrielle Produktion wandert ab in die Semiperipherie, der gewerkschaftliche Organisierungsgrad sinkt und die Streikwaffe wird stumpfer, vor allem im globalen Norden. Statt des Klassengegensatzes von Arbeit und Kapital spielt die Spaltung zwischen schrumpfenden Kernbelegschaften und wachsendem Prekariat eine größere Rolle. Aus diesen strukturellen Gründen ist die organisierte ArbeiterInnenschaft im 21. Jahrhundert nicht Teil einer Doppelbewegung. Die Vielen im Prekariat oder der »Multitude« besitzen nichts, was das Kapital braucht, nichts, das sie verweigern könnten. Jugendliche, BäuerInnen, KonsumentInnen, Frauen und die nicht mehr so neue Klasse der Symbol-ArbeiterInnen (in Gestalt von Hackern und Internetpiraten) wurden auf ihr revolutionäres Potenzial geprüft, doch fehlt ihnen die Kraft zu politischer Einheit. Die Polanyische Dynamik ist gestört. Der finanzmarktgetriebene Kapitalismus erzeugt aus sich heraus, anders als sein Vorgänger, keine erkennbare gesellschaftliche Kraft, die eine gegenhegemoniale Bewegung anführen könnte.

Diese Hypothese vom Übergang zum Finanzmarktkapitalismus als Ursache für das Fehlen einer Gegenbewegung greift jedoch an einigen Stellen zu kurz. Sie ignoriert die Bereiche sozialer Reproduktion jenseits des offiziellen ökonomischen Systems, die heutzutage zentrale Orte des Widerstands gegen den Neoliberalismus sind. Wir sehen das in Kämpfen, die es überall auf der Welt gibt: um Bildung, Gesundheitsversorgung, Wohnraum, um Wasser, gegen Umweltverschmutzung, für Nahrung und lebenswerte Gemeinwesen. Mit einem einseitigen Fokus auf Klassenverhältnisse als vermeintlich einziger Basis für den politischen Kampf übersieht diese Perspektive, dass heutzutage Statusverhältnisse die Mobilisierungsbasis sozialer Kämpfe bilden. Sichtbar werden sie in einer Politik der Anerkennung, die Kämpfe um Gender, Sexualität, Religion, Sprache, Race, Ethnizität und Nationalität organisiert. Allgemeiner betrachtet kann man sagen, dass die zweite Hypothese die diskursive Seite des Politischen übersieht: die Regeln für das Stellen von Ansprüchen, in denen Struktur und Handlungsfähigkeit miteinander vermittelt sind, ebenso wie die sozialen Vorstellungswelten, in denen das gesellschaftliche Leben erfahren, interpretiert und bewertet wird.

Eine dritte Erklärung bezieht sich auf eine weitere strukturelle Verschiebung seit Polanyis Zeiten: Die Ebene, auf der die Krise erfahrbar wird, hat gewechselt und muss daher mittels neuer Deutungsrahmen erfasst werden. Wurde das Krisenszenario des 20. Jahrhunderts in Form einer nationalen Erzählung verhandelt, so findet sich im Krisenszenario des 21. Jahrhunderts, das den nationalen Rahmen politisch destabilisiert hat, kein plausibler Ersatz.

Dieser nationale Rahmen ist so nicht mehr gegeben. Nach dem Zweiten Weltkrieg zielten die USA mit dem Bretton-Woods-Abkommen darauf, internationalen Freihandel mit staatlicher Regulierung auf nationaler Ebene zu kombinieren. Dieser Kompromiss hielt jedoch nicht sehr lange. Weltweit verloren die Nationalstaaten zunehmend die Kontrolle über ihre nationalen Ökonomien – so sie sie jemals hatten. Auch die Konstruktion Europas als Wirtschafts- und Währungsunion ohne politische und fiskalische Integration hat inzwischen die sozialen Sicherungsmechanismen ihrer Mitgliedsstaaten außer Kraft gesetzt, ohne entsprechenden Ausgleich zu schaffen. Vorhaben der sozialen Sicherung bzw. des gesellschaftlichen Selbstschutzes können folglich nicht länger in nationalen Bezügen gedacht werden. Ohne ein alternatives Deutungsmuster in Sicht, das diesen Entwicklungen entgegengesetzt werden könnte, scheint das Projekt gesellschaftlichen Selbstschutzes seine Glaubwürdigkeit zu verlieren.

Keine der bisher diskutierten Hypothesen oder eine Kombination kann die gegenwärtigen Krisenphänomene und das Fehlen politischer Gegenwehr erklären. Möglicherweise haben wir die Frage bislang falsch gestellt. Was aber, wenn wir sie anders denken, als offene Frage nach der sozialen Grammatik realer Kämpfe seit den 1930er Jahren, die nicht durch diese Doppelbewegung strukturiert waren?

Dreifachbewegung: Vermarktlichung, Schutz des Sozialen, Emanzipation

In den 1960er Jahren entstand eine beeindruckende Zahl von Befreiungsbewegungen und verbreitete sich über die gesamte Welt. Diesen emanzipatorischen Bewegungen ging es oft mehr um Anerkennung als um Umverteilung. Sie waren kritisch gegenüber den Formen sozialer Sicherung, die in den damaligen Wohlfahrts- und Entwicklungsstaaten entstanden waren. Ihre harsche Kritik an den kulturellen Normen des Wohlfahrtsstaates brachte versteckte Hierarchien und soziale Ausschlüsse zum Vorschein. Dadurch verlor der Begriff Schutz für immer seine Unschuld.

Die Neue Linke enthüllte den Unterdrückungscharakter bürokratisch organisierter Wohlfahrtsprogramme, welche diejenigen entmächtigten, denen sie zugute kommen sollten und Bürger zu Bittstellern machten. AntiimperialistInnen und FriedensaktivistInnen kritisierten die nationale Beschränkung sozialer Sicherung in der ersten Welt, die nicht zuletzt durch Ausbeutung postkolonialer Völker finanziert war, letztere aber vom sozialen Schutz ausschloss. Sie deckten die Ungerechtigkeit auf, die diesen ›falsch‹ verankerten Schutzmechanismen innewohnt: das Ausmaß, in dem Menschen Gefährdungen ausgesetzt sind (oft transnational) findet keine Entsprechung in dem Ausmaß, in dem Schutzmaßnahmen (üblicherweise national) organisiert werden. Zeitgleich entlarvten Feministinnen den Unterdrückungscharakter von Sozialleistungen, die auf dem Modell eines Familienlohns und auf einer androzentrischen Perspektive auf Arbeit basieren und die den gesellschaftlichen Beitrag, den Frauen leisten, völlig ignorieren. Sie zeigten, dass das, was hier geschützt wurde, nicht die Gesellschaft im Ganzen war, sondern vielmehr patriarchale Herrschaft. LGBT-AktivistInnen enthüllten den niederträchtigen Charakter öffentlicher Fürsorge, die auf restriktiven heteronormativen Definitionen von Familie basiert. BehindertenaktivistInnen legten den exklusiven Charakter von Gebäudeumgebungen und Architektur offen, in deren Gestaltung sich die Perspektive von Nichtbehinderten auf Mobilität und Befähigung spiegelt. VertreterInnen des Multikulturalismus enthüllten den unterdrückenden Charakter sozialer Sicherungsmaßnahmen, die auf mehrheitsgesellschaftlichen religiösen oder ethno-kulturellen Selbstverständnissen beruhen und Mitglieder gesellschaftlicher Minoritäten benachteiligen.

Diese Bewegungen passten zu keinem der Pole der Doppelbewegung. Sie verlangten Zugang und nicht Schutz im bisherigen Sinn. Ihr Hauptziel war nicht die Verteidigung der Gesellschaft, sondern die Überwindung von Herrschaft. Doch befürworteten diese emanzipatorischen Bewegungen auch keineswegs das wirtschaftsliberale Paradigma. Mit der Abwendung von der Gesellschaft wurden sie nicht zu Parteigängern der Wirtschaft. Sie waren sich des Umstands bewusst, dass die Ausweitung von Marktbeziehungen Herrschaft oft veränderte, sie aber nur selten abschaffte. Sie begegneten denen mit Skepsis, die den selbstregulierenden Markt als eine Art Allheilmittel verkauften. Vertragsfreiheit sehen sie nicht als Zweck an sich, sondern als eines von vielen Mitteln auf dem Weg zu Emanzipation in einem weit verstandenen Sinn.

Die momentane gesellschaftliche Konstellation lässt sich entsprechend mithilfe einer anderen Denkfigur analysieren, die ich die Dreifachbewegung nenne. Sie dient dazu, die Grammatik sozialer Kämpfe in der heutigen kapitalistischen Gesellschaft zu entziffern. Anders als die Denkfigur der Doppelbewegung beschreibt sie einen dreiseitigen Konflikt zwischen AkteurInnen des Wirtschaftsliberalismus, VerteidigerInnen des Wohlfahrtssystems und AnhängerInnen der Befreiungsperspektive. Es geht darum, die sich verändernden Beziehungen zwischen diesen drei Typen politischer Kräfte nachzuvollziehen und zu zeigen, wie sie sich immer wieder kreuzen und auch immer wieder aufeinanderprallen. Im Prinzip kann jeder dieser drei Pole mit jedem der anderen eine Koalition gegen den dritten eingehen. Die konstituierenden Pole bleiben in der Dreifachbewegung notwendig ambivalent.

Anders als bei Polanyi können wir nun sehen, dass soziale Sicherung per se ambivalent ist. Sie entwickelt Schutz vor den desintegrativen Effekten, die Märkte auf Gemeinschaften haben. Gleichzeitig vertieft sie aber auch oft Herrschaft in und zwischen solchen Gemeinschaften. Das Gleiche gilt für die anderen zwei Pole: Die marktförmige Bearbeitung sozialer Beziehungen kann negative Effekte haben. Wie Marx argumentierte, kann deren Ausweitung aber durchaus positive Effekte haben, insofern die Sicherungen, die durch die Neoliberalisierung zerstört werden, oft selbst Herrschaftsmechanismen sind. Auch Befreiungsbewegungen sind gegen- über dieser Art von Ambivalenz nicht immun. Emanzipation produziert nicht nur Befreiung, sondern sie führt auch dazu, dass bestehende Solidaritäten unter Druck geraten. Emanzipation überwindet zwar Herrschaft, aber indem sie das tut, kann sie gleichzeitig die solidarische ethische Basis sozialer Sicherung untergraben und somit weiteren Neoliberalisierungen Vorschub leisten. Jeder dieser drei Pole hat folglich ein eigenes Potenzial für Ambivalenz, das sich erst in der Interaktion mit den anderen Polen entwickelt. Beispielsweise kann der Konflikt zwischen Neoliberalisierung und sozialer Sicherung nicht ohne Bezug auf Emanzipation verstanden werden. Andererseits ist es aber auch so, dass historisch später entstandene Konflikte zwischen sozialer Sicherung und Emanzipation nicht verstanden werden können, wenn wir sie nicht im Kontext der Kräfte der Neoliberalisierung begreifen.

Befreiungsbewegungen in der Nachkriegszeit stellten herrschaftliche oder unterdrückende Sicherungen in Frage. Sie enthüllten eine Art von Herrschaft und erhoben Anspruch auf Befreiung, letztere war jedoch ambivalent. Die Bewegungen konnten sich im Prinzip auf beiden Polen positionieren – auf der Seite des Marktliberalismus oder auf der der sozialen Sicherung. Im ersten Fall würden sie nicht nur die herrschaftliche, unterdrückende Dimension auflösen, sondern auch die solidarische Basis von gesellschaftlichem Schutz. Würden sich die Emanzipationsbewegungen jedoch auf die Seite des gesellschaftlichen Selbstschutzes stellen, könnten sie die ethische Substanz, die ihm zugrunde liegt, nicht erodieren, sondern transformieren.

Tatsächlich finden wir in allen diesen Befreiungsbewegungen sowohl protektionistische als auch neoliberalisierende Strömungen. Und in jedem Fall tendierten die eher liberalen Strömungen in diesen Bewegungen in Richtung der Neoliberalisierung, während sozialistische und sozialdemokratische Strömungen sich sehr viel eher auf die Seite der Kräfte des sozialen Selbstschutzes stellten. Man könnte aber auch sagen, dass diese Ambivalenz der Emanzipationsperspektive in den letzten Jahren zugunsten neoliberaler Positionierungen aufgelöst wurde. Die hegemonialen Strömungen innerhalb der emanzipatorischen Kämpfe waren nur ungenügend auf den Aufstieg der »freien Marktkräfte« eingestellt und gingen eine Art gefährlicher Liebschaft mit dem Neoliberalismus ein. Sie entwickelten einen Teil des neuen Geistes des Kapitalismus oder der charismatischen Rationalität einer neuen Akkumulationsweise mit, die als flexibel, kreativitätsfördernd und kosmopolitisch angepriesen wird. Im Ergebnis näherte sich die emanzipatorische Kritik repressiver Schutzmechanismen immer stärker an deren neoliberale Kritik an. In der Konfliktzone der Dreifachbewegung führen AnhängerInnen der Befreiungsbewegungen zusammen mit Marktradikalen einen doppelten Angriff auf die soziale Sicherung.

Allmählich erhellt sich die tatsächliche Situation politischer Kämpfe im 21. Jahrhundert. Gegenwärtig schöpfen ermutigte Neoliberale Kraft aus dem geliehenen Charisma emanzipatorischer Befreiungsbewegungen. Sich selbst als Aufstandsbewegung stilisierend, übernehmen sie die Sprache der Emanzipation, um damit Mechanismen sozialer Sicherung als Fesseln der Freiheit zu attackieren. Gleichzeitig versuchen deutlich geschrumpfte, protektionistische Kräfte, den Makel der Herrschaft loszuwerden, der erst durch die emanzipatorischen Bewegungen enthüllt wurde. Demoralisiert in der Defensive und ohne wirkliche Überzeugungen generieren sie keine Erzählung, keine gegenhegemoniale Vision, die in der Lage wäre, einen Gegenentwurf gegen den Neoliberalismus zu artikulieren. Und schließlich: Die Kräfte der Emanzipation versuchen sich auf einem schmalen Grat zwischen den zwei anderen Polen zu bewegen. Doch ihre dominanten Strömungen überschreiten immer wieder die Grenze, die eine notwendige und richtige Kritik herrschaftlicher und unterdrückender Formen sozialer Sicherung und legitimer Ansprüche auf Zugang zum Arbeitsmarkt von individualistischer Leistungsideologie und privatistischen Verbrauchslogiken trennt.

Die Hypothese der Dreifachbewegung verweist uns auf die Notwendigkeit, das Befreiungsvorhaben zu verkomplizieren. Es kommt darauf an, wie der Impuls Herrschaft zu überwinden, in seinem konkreten Zusammentreffen mit anderen Anliegen gestaltet wird. Eine Befreiungsperspektive, die auf einem naiven Glauben an Verträge und individuelle Leistung basiert, wird leicht für andere Zwecke missbraucht werden. Gleichzeitig kann man sagen, dass Emanzipation, die Märkte vollständig ablehnt, unverzichtbare liberale Ideen den Ideologien des freien Marktes überlässt und zugleich Milliarden Menschen auf der ganzen Welt zurückweist. Menschen, die wissen, dass es noch etwas Schlimmeres gibt als ausgebeutet zu werden: der Ausbeutung nicht einmal wert zu sein.

Der Beitrag basiert auf einem Vortrag im Rahmen der Luxemburg Lectures im Februar in Berlin. Eine längere Fassung des Textes erscheint parallel auf Englisch im New Left Review. Aus dem Amerikanischen von Tadzio Müller und Chatharina Schmalstieg.