Gibt es nicht Hauen und Stechen, wenn die Lichtenberger Bürgerinnen und Bürger bei so unterschiedlichen Interessen über den Einsatz der viel zu knappen Mittel selbst entscheiden sollen? Wir befragten die Bezirksbürgermeisterin von Berlin-Lichtenberg zur Praxis des Partizipativen Haushalts. Das Projekt wurde von Die Linke initiiert und wird nun seit Jahren praktiziert. Kannst du es kurz beschreiben? Partizipativer Haushalt bedeutet, dass BürgerInnen diskutieren und vorschlagen, wie die vorhandenen Mittel verteilt werden. Wie oft gibt es Bürgerversammlungen und wie viele nehmen daran teil? Zum Bürgerhaushalt findet nach wie vor eine Stadtteilversammlung pro Jahr statt. Dieses Jahr kamen circa 850 Leute. Die Vorschläge werden dort allerdings nicht mehr votiert, denn seit dem vergangenen Jahr haben wir einen Votierungstag, an dem sie der Öffentlichkeit vorgelegt werden – z.B. in Einkaufszentren und auf Bahnhofsvorplätzen. Daran beteiligten sich dieses Jahr 2 400 Menschen. Durch das Öffnen über die Stadtteilversammlung hinaus erreichten wir, dass einschließlich Internetbeteiligung bisher 8 400 Leute an den Diskussionen zum Bürgerhaushalt teilnahmen. Es folgt noch die Haushaltsbefragung, sodass wir wohl auf 10 000 kommen werden. Das ist im Vergleich zu 1 200 in der Anfangsphase eine gute Entwicklung. Die Haushaltsverhandlung zu managen, ist dann ja eine Herausforderung … Den Großteil der Verhandlungen delegieren wir an die Stadtteilzentren. Uns war klar geworden, dass wir von der Top-Down-Strategie weg müssen und etwas brauchen, was von der Bevölkerung im Bezirk getragen wird. Das braucht Zeit, und es war zunächst die organisierte Bürgerschaft, die das trug. Doch schon in diesem Jahr organisierten die Stadtteilzentren die Veranstaltungen und den Votierungstag selbst. Unsere kleine Geschäftsstelle in der Verwaltung stellte die Materialien zur Verfü- gung und trug die Vorschläge zusammen. Das Motivieren der Leute, die Öffentlichkeitsarbeit, das kam alles von den Stadtteilzentren. Was ist das Besondere, die Teilnahme, der Prozess oder das Ergebnis? Die Punkte hängen zusammen. Für Lichtenberg besonders ist, dass wir die Vorschläge bereits im Vorfeld der jeweiligen Haushaltsaufstellungen diskutieren. Wir geben als Verwaltung keinen fertigen Haushalt vor und sagen nicht: Schaut mal drauf und ändert etwas, sondern wir sagen: 2012 werden wir 32 Millionen Euro für freiwillige Aufgaben einsetzen können. Bisher waren die wie folgt verteilt. Soll das so bleiben oder welche Veränderungen schlagt Ihr vor? So fördern wir die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger, sich an weiteren Aktivitäten zu beteiligen, z.B. den Kiezfonds und Bürgerjurys. Was sind Kiezfonds und Bürgerjurys? Vor drei Jahren kritisierten junge Leute, dass alles so lange dauert. »Wir machen Vorschläge, und dann hören wir zwei Jahre nichts...«, sagten sie. Heute verfügt jeder unserer 13 Stadtteile über einen Kiezfonds mit je 5 000 Euro und eine Bürgerjury, die sie verteilt. Die Jury, die auch die Sozialstruktur des jeweiligen Stadtbezirks abbildet, wird per Zufallsauswahl zusammengestellt. Bei den Bürgerjurys werden Projekte eingereicht, die von »Baumscheibe bepflanzen« über »Veranstaltungen organisieren« bis zu »Flyer produzieren« reichen. Wenn die Jury entschieden hat, wird der Vorschlag umgesetzt. Dazu braucht es keine Zustimmung des Bezirksamtes mehr. Obwohl 5 000 Euro keine Riesensumme sind, ist das etwas außerordentlich Wirksames. Ich spüre das an Reaktionen wie: »So etwas hat uns immer gefehlt!« Das empfehle ich auch denen, die mit Bürgerhaushalten nicht in die Gänge kommen. Über diese Form der Beteiligung kann man Bürgerinnen und Bürger für Haushaltsfragen interessieren. Wie wählt ihr die Leute aus, die angeschrieben werden, und gibt es auch Ablehnungen? Die Adressen bekommen wir vom Einwohnermeldeamt – nach unserem Schlüssel: Leute zwischen 16 und 70, Frauen und Migranten werden anteilig repräsentiert. Auf unsere Briefe bekamen wir zehn oder zwölf Ablehnungen. Einige meldeten sich auch gar nicht. Letztlich hatten wir jedoch mehr Zusagen, als wir für die Jurys brauchten, und ich musste ein Losverfahren entwickeln. Wir hatten uns darauf verständigt, dass maximal 15 Bürgerinnen und Bürger in einer Jury arbeiten sollen. Jetzt sind sie alle gut besetzt. Ist es gelungen, neben der engagierten Bürgerschaft Leute anzusprechen, die sich bislang nicht (kommunal)politisch engagiert haben? In die Stadtteilversammlungen kommen nach wie vor die, die schon an der Entwicklung des Stadtteils interessiert sind. In den letzten Jahren gelang es uns immer besser, die Vorschläge mit Stadtteilentwicklungszielen zu verknüpfen. In Lichtenberg ist ideal, dass alle 13 Stadtteile Entwicklungsziele formuliert haben und diese Zusammenhänge herstellen: Wie soll sich mein Viertel entwickeln? Welche Vorschläge habe ich dazu und wie bekommen wir die in den Haushalt eingebunden? Durch den Votierungstag sprechen wir viele an, denen das neu ist und die wir sonst nicht erreichen würden. In Karlshorst und Friedrichsfelde war ich selbst dabei: Wir gingen einfach auf Leute am Bahnhof zu. Manche sagten »Ne, muss nach Hause«, einige fragten: »Bürgerhaushalt, was’n das?« Bei den meisten stießen wir auf Interesse. Ob die nächstes Jahr in die Stadtteilversammlung kommen, bleibt natürlich abzuwarten. Wie sieht so ein Votierungstag aus? Wir bauen Aufsteller mit den einzelnen Vorschlägen auf und erläutern, was die Vorschläge beinhalten. Jeder kann fünf Punkte vergeben. Dieses Jahr führten wir außerdem einen Einsparpunkt ein. Der konnte für Einsparungsvorschläge eingesetzt werden. Unser Haushalt ist begrenzt, die 32 Millionen vermehren sich auch durch viel diskutieren nicht. Von den 2 400 Teilnehmenden verwendeten nur etwa 1 000 diesen Punkt. Vielleicht hatten sie keine Lust oder der Zweck war ihnen nicht klar. Wir werden überlegen, wie wir das besser machen können oder ob wir es lassen. Welche Projekte wurden angeboten und was war der Favorit? »Wie gestalten wir das öffentliche Straßenland«, zum Beispiel. Die meisten Punkte bekamen Vorschläge zur Erhaltung von Seniorenfreizeitstätten und sozialen Treffpunkten für Jugendliche. Die votierten Vorschläge werden dann in die per Brief durchgeführten Haushaltsbefragungen aufgenommen und noch einmal votiert. Wir bleiben immer im Stadtteil, gehen nicht auf Bezirksebene, denn wir haben die Erfahrung: Je konkreter die Sachen sind, desto größer ist die Beteiligung. In den Briefen ist für Jeden eine persönliche Kennung angegeben, mit der im Internet votiert werden kann. Wer das nicht möchte, kann sich melden und bekommt die Unterlagen mit der Post. Internet, Votierungstag und Haushaltsbefragung – diese drei unterschiedlichen Verfahrensweisen behindern Klientelpolitik und ermöglichen eine weitgehend objektive Beurteilung der Vorschläge. Selbst wenn sich Lobbygruppen bilden, schaffen diese es nicht, sich über alle drei Wege durchzusetzen. Wie hoch ist die Zahl der Rückläufe? Von etwa 25 000 befragten Haushalten liegen 1 000 Antworten vor. Könnte besser sein, doch Umfrageexperten sagen, das sei nicht schlecht. Ich hoffe, dass es dieses Jahr durch die Internetbefragung mehr sein werden. Was war der größte Erfolg? Der Votierungstag. Seit wir uns eine externe Evaluation nicht mehr leisten können, machen wir jedes Jahr einen Workshop zur Auswertung des Bürgerhaushalts. Da gehen wir Punkt für Punkt durch, fragen, was sich bewährt hat. Wir waren unzufrieden, weil die Beteiligung an den Stadtteilversammlungen stagnierte: In einem Stadtteil mit 20 000 Einwohnern gab es nur etwa 100 Teilnehmende. Mit der Einführung des Votierungstags sind über 2 000 gekommen. Ich hätte das selbst nicht für möglich gehalten. Auch dass der Kiezfonds und die Bürgerjury so angenommen wurden, ist ein Erfolg. Welche Lernprozesse gab es bei den Beteiligten, der Verwaltung, dir selbst? Die wichtigste Erfahrung ist, dass öffentlich niemals genug darüber informiert werden kann, wie mit den Vorschlägen der Bürgerhaushalte umgegangen wird, welche Entscheidungen auf ihrer Grundlage getroffen wurden. Die Beteiligten fragen: »Was ist aus meinem Vorschlag geworden?«, »Warum wurde ich nicht benachrichtigt?«, »Warum wird das nicht gekennzeichnet?« Wir müssen nachvollziehbar darstellen: Das ist ein Vorschlag aus dem Bürgerhaushalt, und so ist er umgesetzt worden. Die Bereitschaft der Verwaltung, sich Bürgeranliegen zu stellen, ist wesentlich größer geworden. Sie begreift, dass die Bürgerinnen und Bürger keine Störenfriede sind, sondern Interesse an der Entwicklung des Bezirks haben und sich mit kompetenten Vorschlägen daran beteiligen. Die Beteiligten erfahren, wie wichtig es ist, sich bei der Erarbeitung von Vorschlägen Verbündete zu suchen statt gegeneinander zu kämpfen. Das Mindestsoll für einen Vorschlag sind 25 Punkte, also ist es vernünftig, sich im Vorfeld untereinander abzustimmen und bspw. lieber zwei gemeinsame statt sechs ähnliche Einzelvorschläge einzubringen. Dabei entwickeln sich Zusammengehörigkeitsgefühle und die Bereitschaft, gemeinsam Verantwortung zu tragen. Hat sich ein solidarisches Zusammengehörigkeitsgefühl auch über die Projekte hinaus entwickelt? Es gibt eine Vielzahl von Projekten, durch die sich ein neuer Blick auf das entwickelt, was sich im anderen Stadtteil tut. Man darf es zwar nicht überbewerten, doch auch in der Rummelsburger Bucht habe ich es erlebt. Da wohnen die »Schönen und Reichen« im Wohneigentum. Das erste, was sie unternahmen, war, einen Bürgerverein zu gründen und sich darum zu kümmern, wie es ringsherum weitergeht, auch auf der anderen Straßenseite, wo es den Leuten nicht so gut geht. Da ist etwas im Gange, was man behutsam beobachten sollte, vielleicht ein bisschen steuern, aber keinesfalls bestimmen kann. Gibt es Konflikte? Wir haben immer die Konflikte: Hunde- gegen Nichthundebesitzer und jung gegen alt, wenn es zum Beispiel um einen Spielplatz geht. Wir nennen die neuen übrigens »Quartierparks« und stellen dort einige Geräte auf, die auch gut von Älteren genutzt werden können. Ansonsten sind die Stadtteilversammlungen der Ort, an dem Konflikte offen ausgetragen werden können. Deshalb bleiben wir auch dabei, denn diese direkten Auseinandersetzungen bekommst du übers Internet allein nicht hin. Wie siehst du die Resonanz in anderen Bezirken? Marzahn-Hellersdorf macht es etwas, doch der Ansatz ist derselbe. Ansonsten hält sich das in Grenzen. Ich denke, dass viele es zu mühevoll finden. Die Leute wollen dann auch über andere Dinge mitbestimmen. Das ist wie beim Zauberlehrling. Dem muss man sich stellen. Was könnten längerfristig Einstiegsprojekte auf Landesebene sein? Köln ist kein schlechtes Beispiel: Zunächst wurde übers Internet in großen Einheiten ausgelotet, was möglich ist. Dann nach Bereichen überlegen, wie Geld verteilt, wo Prioritäten gesetzt werden sollen. Schule oder Stadtentwicklung? So wie wir das auf Bezirksebene handhaben, ist es auf Landesebene nicht zu bewältigen. Doch auch dort ist möglich, dass Bürger über Trends für Entwicklungen und Verwendung der Mittel entscheiden. 


Das Gespräch führte Cornelia Hildebrandt