Das ist zunächst kein linkes Problem: Die kapitalistische Produktionsweise ist ständig im Wandel. Die Frage, welche Gruppen, Diskurse, Intellektuelle und Fraktionen des Kapitals sich zusammenfinden und die jeweils neuen Anforderungen so artikulieren, dass sich auch diejenigen angesprochen und aufgehoben fühlen, die auf neue Weise ausgebeutet werden, ist ein ständiges Problem der Aufrechterhaltung von Herrschaft. Wenn es gelingt, kann ein solcher Block die Führung übernehmen. Wenn es nicht gelingt, entstehen Friktionen und Bewegungen, können autoritäre Herrschaftsprojekte Zustimmung durch Zwang ersetzen – oder Prozesse entstehen, in denen die Unten sich selbst organisieren, ihre »Kollektivwillen« entwickeln (Gramsci). Die Krise des Finanzmarktkapitalismus erschüttert das Gefüge der Repräsentation und Führung erneut. In den Generalstreiks gegen die Austeritätspolitik, den Massendemonstrationen in Irland, den Aufständen in den arabischen Ländern, den Bewegungen der Empörten in Südeuropa, den riots in England und endlich im weltweiten Aufflammen der Occupy-Bewegung reagierte ein Vielfachprotest gegen eine Vielfachkrise des neoliberalen Kapitalismus. Der »Kollektivwille« von unten »bildet« sich nicht einfach, er wird organisiert, gewebt, Interessen und Individuen, Gruppen und Diskurse werden verbunden, Repräsentationen geschaffen. In die Form der Organisation gebracht, verfügt er über erweiterte Handlungsmacht. Dabei vermischen sich Prozesse der Erneuerung klassischer Formen der Repräsentation durch gesellschaftliche Großorganisationen mit Praxen, die das Prinzip der Repräsentation selbst radikal ablehnen. So ist der Weg der Arbeiterkämpfe in die organisatorische Form der Gewerkschaften mit großem Zugewinn an Verhandlungsmacht einhergegangen. In den USA versprach der Nachkriegs-Keynesianismus ein Huhn in jedem Topf und ein Auto in jeder Garage – ein Versprechen vor allem an die Arbeiter. Die Aussicht auf einen besseren Lebensstandard für die nächste Generation war auch in Deutschland die Grundlage für den fordistischen Klassenkompromiss. Seit aber die Kompromissformel von »harter Arbeit gegen soziale Sicherheit« aufgekündigt wurde – in der Tendenz seit den 1970er Jahren, aber erst mit der Verallgemeinerung neoliberaler Politik in den 1990er Jahren, ist das im (europäischen) Bewusstsein angekommen –, greifen viele Formen der Organisationen nicht mehr, die diesen Kompromiss verhandelt hatten. Organisationen repräsentieren nicht einfach existierende Interessen, sie stellen das Feld der Repräsentierten aktiv her. Wenn die Organisationen Teilhabe am herrschenden Block oder als angemessen empfundene Kompensation nicht mehr erreichen können, schwinden auch die Möglichkeiten der Organisierung der Repräsentation: zu sehen etwa an der Stagnation vieler linker und gewerkschaftlicher Politiken im Neoliberalismus. Dagegen: Erfolge der extremen Rechten. Gegen Globalisierung, für die »hart arbeitenden Menschen« und ihre diskreditierten Lebensentwürfe und Träume wird von rechts mit Einschluss durch Ausschluss, Verteidigung des »Volkes« gegen innere und äußere Feinde gearbeitet. Anti-politische und anti-demokratische Agitation verknüpfen sich. Die Polemik gegen Staat und Gewerkschaften im Zeichen personaler Freiheiten bedient die zentralen Themen populistischer Bewegungen (Priester 2007, 46). Die Ablehnung von Repräsentation und Großorganisationen zu Gunsten kleiner Solidargemeinschaften mit gemeinsamer Lebensweise verbindet sich mit rassistischen Argumentationen, das »eigene Land« zurückerobern zu wollen. In der Repräsentationskrise konnte Die Linke intervenieren als ein Bündnis von radikaler Opposition, linkssozialdemokratischer und -gewerkschaftlicher Akteure und durch die Wahrnehmung als Vertreterin ostdeutscher Interessen. Es gelang, einen sichtbaren und glaubwürdigen Unterschied zum sozialdemokratischen Neoliberalismus zu machen und die unterschiedlichen politischen Traditionen und Akteure der linken Opposition in ein organisatorisches Projekt zu integrieren. Da sie aus der Krise jedoch keinen dauerhaften politischen Gewinn ziehen konnte und eine kohärente Strategie für eine alternative Krisenbearbeitung zumindest nicht in die öffentliche Wahrnehmung gelangt ist, wurden die unterliegenden Differenzen verschärft. Trotz des erfolgreichen Abschlusses eines langen Diskussionsprozesses in Form des Parteiprogramms steht eine überzeugende organisatorische Bearbeitung eines »linken Mosaiks«, also eine Organisation des Feldes zu politischer Handlungsfähigkeit, aus. Sie droht damit als Teil »der« Politik wahrgenommen zu werden – als Teil des Problems – so wie die sozialdemokratischen und linken Formationen in den USA, in Spanien, Griechenland, Italien oder Frankreich. Auch gegen sie richtet sich die Formel: »Ihr repräsentiert uns nicht« und »Wir sind die 99 Prozent«. Die Wahrnehmung und Beschreibung dieser neuen, plötzlichen Bewegungen in der Presse als »unorganisierte« mag eher Versuchen der Abwertung oder Romantisierung entspringen. Organisiert und organisierend sind und wirken die Proteste allemal. Doch sie unterscheiden sich deutlich von traditionellen Organisationen, sodass die Neuerungen als Negation erscheinen. Wie steht es also um die Organisationsfrage?

Links zur Organisation

Die Linke versteht Organisationen vor allem als Formen und Medien kollektiver Handlungsfähigkeit, die durch eine »kooperative Integration« die Selbstermächtigung der Machtlosen, Ohnmächtigen oder Machtarmen befördern. Jede soziale und politische Strömung agiert vermittels eines Felds von Organisationen. Sie alle unterliegen der Logik unterschiedlicher gesellschaftlicher Interessen und werden durch eigene Praxen, Werte, Zukunftszeichen und wirksame Traditionen repräsentiert. In den Konfliktfeldern der Gesellschaft werden sie in »Stellung« gebracht und sind zugleich übergreifende »Schirme« in den Kämpfen zwischen den zahlreichen Klassenakteuren. Gramsci fasst gesellschaftliche und politische Akteure als »Partei« – im weiten Sinne. Er sieht sie als gemeinsame Strömung, die Verdichtungen und (Gegen-) Hegemonien herstellen können. Selbst ausgesprochene »Anti-Parteien« können dazugehören (1991, 1715). Die Partei »stützt sich auf die Initiative einer Vielzahl von unterschiedlichen und divergenten Individuen und Gruppen, die nicht durch Zwang zu einer politischen Einheit zusammengebracht werden, sondern, auf der Grundlage von Interessen, eher durch eine spezifische Regulation ihrer Widersprüche« (Demirović 1997, 88). Dieses Verständnis dynamisiert auch das Bild vom »linken Mosaik« (Urban, 2010, 18ff) und macht deutlich, dass es Ergebnis aktiver Kompromisse und Neufassungen von Interessen ist. Organisationen sind nicht nur Akteure in den Macht- und Herrschaftsverhältnissen; sie sind selbst durch Beziehungen von Dominanz und Unterordnung und von Auseinandersetzungen um Macht strukturiert. Wer es versteht, »Kompetenz« (Bildung) und Erkennbarkeit im medienkulturellen Milieu politischer Marken zu präsentieren und dabei noch Klassen-, Geschlechter- und ethnische Optionen zu verknüpfen und in individuellen Lebenserfahrungen und Karriereverläufen so in einem Habitus zu verdichten, dass er oder sie in einer bestimmten historisch konkreten Situation als »Hoffnungsträger« und Zukunftsrepräsentantin erscheint, hat ausgezeichnete Karten im politischen Machtspiel. Das linke Organisationsfeld ist heterogener und prekärer als vor der Krise. Die gesellschaftliche Linke – vor allem die Gewerkschaften und globalisierungs- und kapitalismuskritische Organisationen –, deren Dynamik in den letzten Jahren entscheidend zum Machtzuwachs der (deutschen) politischen Linken beigetragen hat, hat in der Krise keinen Niedergang erlebt. Aber bislang auch kein Comeback. Die grundsätzliche strategische Logik gewerkschaftlichen Handelns ist die sukzessive Verschiebung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse auf betrieblicher, regionaler, sektoraler oder auch nationalstaatlicher und internationaler Ebene. Sie bringen die Interessen der abhängigen Seite im Prozess der Reproduktion des Kapitalverhältnisses ins Spiel, finden also politisch stets sich wiederholende, aber nie identische Problemlagen vor. Der stete Turnus der Tarifkämpfe steht dafür. Ihre politischsoziale Normalität ist reformerische Repräsentanz und nicht, was André Gorz die strukturelle oder »nicht-reformistische Reform« nannte. Die Einbindung der Gewerkschaften in einen zunehmend sozial entleerten Krisenkorporatismus, die Enteignung ihrer Forderungen wie Mindestlohn durch Akteure des neoliberalen Blocks, der Angriff auf ihre Handlungsfähigkeit auf europäischer Ebene – stellt sie vor strategische Herausforderungen. Allerdings konzentrieren sich die Strategien der institutionellen Erneuerungen in Deutschland auf einen Einbau aktivierender und konfliktorientierter Methoden der Mitgliedergewinnung, die aber kaum an eine Politik des Ausbaus der inneren Demokratie und der Beteiligungsformen in den Organisationen gebunden sind (vgl. Jeffrey Raffo in diesem Heft). Im Organisationsfeld der politischen Linken gibt es aktuell eine Mischung aus Stagnation und Erosion der politischen Macht der Partei Die Linke – und damit ihrer Möglichkeiten, Repräsentanz zu organisieren. Gleichgültig, wohin wir blicken: Auf die strukturelle Macht, also die Verankerung in den gesellschaftlichen Strukturen, die aktuell oder strategisch etwa aufgrund ihrer Aufwertung durch langfristige Wandlungen im System der Produktivkräfte oder das greening of capitalism von Bedeutung für die Verschiebung von Kräfteverhältnissen sind. Auf die institutionelle Macht, also die Verankerung in den formellen Apparaten des Staates und der Zivilgesellschaft durch Mandate, die Präsenz in Parlamenten, Regierungen und den Organisationen und Netzwerken der Zivilgesellschaft. Auf die organisatorische Macht, also Mitglieder, Wählerstimmen, Führungs- und Mobilisierungsfähigkeit, oder schließlich auf die kulturell-kommunikative Macht, also gegenhegemoniale Präsenz in den öffentlichen Räumen, Medien und bei der Fähigkeit zur Konsensproduktion. Im Ergebnis wird die Partei als Machtfaktor im Kampf um Mehrheiten und als Gestaltungskraft entwertet. Ihre Rolle im linken Organisationsfeld sinkt. Beides beeinflusst die organisationsinterne Verteilung der Macht. Zumeist verschärfen solche Krisen die üblichen Machtkämpfe an den Organisationsspitzen – Kämpfe um taktische Positionsgewinne in Organisationen drängen dann deren politischen Zwecke in den Hintergrund. Ohne eine Stärkung der gesellschaftlichen Linken kann eine Erneuerung der strategischen Zukunftsfähigkeit der politischen Linken nicht gelingen. Solche Änderungen geschehen freilich nicht am runden Tisch und auf Papier, sondern im Ergebnis der Auseinandersetzungen um andere politische Prioritäten und Wege, wobei häufig neue Akteure oder Akteurskonstellationen eine treibende Rolle spielen. Entscheidend ist, dass in diesen Auseinandersetzungen die Kooperationsfähigkeit innerhalb der Linken und ihres Organisationsgefüges nicht zerstört wird. Die Unterstützung der US-amerikanischen Occupy-Bewegung durch wesentliche Teile der Gewerkschaften ist eine Reaktion auf eine solche Änderung. In Deutschland scheint eine solche »Partei-Werdung« weiter entfernt, die Verbindungen der großen Organisationen ins Feld sind schwächer.

Führung / Leadership

Die Parteien der Arbeiterbewegung setzten auf Massenmobilisierung, um das Feld der Akteure zu strukturieren; politische Führung war Anspruch auf die Organisierung des Feldes der (revolutionären) Bewegungen und nach innen. Begriff und Konzept von Führung sind von Widersprüchen durchzogen: Die Geschichte von Herrschaft ist auch eine von Führung, der Einbindung in die eigene Unterwerfung im Namen scheinbar allgemeiner Interessen (vgl. Demirović 1997, 140). Emanzipation geht für Gramsci mit dem Überflüssigmachen von Führung und Partei in der »kollektiven Selbstregierung« auf. Der Weg dahin geht aber nur in den Formen von Politik und Repräsentation und Führung ist dann die Verdichtung auf Handlungsfähigkeit. Die »Führenden« – im Unterschied zu dem einen »Führer« – waren Organisatoren, Funktionäre oder (später) Kader (Balla, 1972). Sie handeln in ungewissen, krisenhaften Situationen, organisieren und mobilisieren, um Probleme zu bearbeiten und einmal getroffene Problemlösungen gesellschaftspolitisch und ideologisch durchzusetzen. Nicht Ordnung zur Herrschaft, sondern Bewegung zur Veränderung ist daher Motiv, Maxime und Ziel ihres Handelns. Sie machen das Subjekt der Veränderung »stark« und öffnen so die Sicht auf Selbstermächtigung – und darauf, sich selbst überflüssig zu machen. Historisch war freilich kaum ein Begriff so umringt von legitimatorischen Ausbeutungsversuchen. Einst hineingeraten in die Kämpfe der Systeme, wurde er in der Wissenschaft vergessen; hier ist er nur noch als Führung oder leadership der Arbeitsorganisation von oben geblieben, in der Macht oder Herrschaft als bestimmende Momente ausgeblendet sind, um »Führung« als politikentleertes technisches Moment der Organisation arbeitsteiliger Prozesse präsentieren zu können. In der Politik kam der Begriff herunter; innerhalb der marxistisch-leninistischen Parteitheorie war er zentral – jahrzehntelang war von einer »führenden Rolle der Arbeiterklasse und ihrer Partei« die Rede – und zugleich ohne jede theoretisch anspruchsvolle Fundierung. Die »führende Rolle« wurde als zentralistischer Avantgardismus implementiert. Als Farce wiederholte sich dies in den post-68er Projekten, in K-Gruppen und anderen Versuchen, über Begriffe und Praxis von »Führung« und »Avantgarde« Macht über Mitstreiter, »Basis« und Verbündete zu gewinnen. Das Handlungsmuster der Führung und die spezifische politische Beziehung, für die sie steht, unterscheidet sich von »Anweisung« oder dem herrschaftlichen Befehl: Führung »beruht auf Konsens« (Kernig, Sp 761). Gleichgültig ob die Zustimmung aktiv oder passiv ist: Solange keine Sanktionsmacht als Disziplinierungsmittel zur Herstellung erzwungener Folgebereitschaft ins Spiel gebracht wird, dominiert das Moment der Führung. Der Führende ist »Exponent, nicht Dirigent« (Geiger, 138). Führung äußert sich »zwar in einer Über- und Unterordnung, aber diese Über- und- Unterordnung beruht nicht auf der Tatsache oder der Vorstellung einer Ungleichheit« (Geiger, 139). Die Fähigkeit zur symbolischen oder realen Repräsentation mit den Mitteln der Führung setzt statt Ungleichheit Gemeinsamkeiten voraus: in Momenten der Ideologie, Kultur, Politik, Organisationspraxis (nicht aber notwendig der Klassenzugehörigkeit). Wer »folgt«, findet sich in der Führung und ihrer Praxis wieder – was ihn zugleich von jenen unterscheidet, die nicht zur »Gefolgschaft« gehören. Führung gilt daher in der traditionellen Arbeiterbewegung als eine klassenpolitische Kategorie. Die Bezugsgröße der politischen Führung ist aber nicht nur die Gleichheit der Klasse, sondern auch die Ungleichheit innerhalb der Klasse, die sie reflektiert, reproduziert und zugleich aufzuheben beansprucht. Sie ist eine prekäre, fluide, dialektische Bewegungsform politischen Handelns. Führung, die dirigistisch operiert und Konsensgewinnung durch sanktionsbewehrte Zwangshandlungen ersetzt, verliert ihre Legitimation und Identität. Sie mutiert zu bürokratischen oder diktatorischen Formen institutionalisierter Herrschaft. Viele linke Politikprojekte haben in Reaktion darauf »Führung« als Konzept verurteilt. Sie geraten damit in die Mühlen anderer Widersprüche: Wie werden Diskussionen im Handeln verbindlich gemacht? Wie kann aus der Diversität von Positionen und Einschätzungen ein politischer Wille entstehen? Wenn die »Anstrengung zum Kollektivwillen« von den Bewegungen und Projekten nicht aufgegriffen wird, erscheint leicht der Staat als einzige Verkörperung eines Allgemeinen. Wie bewegt sich hegemoniale Tätigkeit aus dem eigenen Milieu heraus, kann verbinden und »Land gewinnen« im Kampf um Hegemonie? Vor dem Tabu der Führung reproduzieren sich informelle Hierarchien auf der Basis der ungleichen gesellschaftlichen Verteilung von Macht und Ressourcen: weiße Mittelschichtsmänner einerseits, Betroffenheitsgruppen andererseits.

Repräsentation?

Führung ist im Ansatz janusgesichtig und »anfällig« dafür, dass aus der Vertretung von Organisationen nach außen und der Distanz nach innen sich »Exponenten« in »Dirigenten« verwandeln. Das verbreitete Verständnis von Führung beruht auf der Grundlage, dass Führungen politischer Organisationen deren Mitgliedschaft und besondere soziale Gruppen repräsentieren. Der Modus der Repräsentation aber verbindet und trennt, er enthält die Ungerechtigkeit, dass für andere gesprochen wird (Hardt/Negri) – die Repräsentation kann damit die Subalternen der Sprache berauben oder für ihre Sprache taub sein (Spivak). Das Verhältnis von Bewegungen und ihren Repräsentationen, der Verdichtung der Kräfteverhältnisse und der Institutionalisierung der Organisation ist prekär. Wenn der Transformationsprozess stockt, treten Eigenlogiken der Organisationen in den Vordergrund. Sie sind dann nicht mehr Zwischenstationen, Bastionen im Stellungskrieg um Hegemonie für eine kommende Gesellschaft. Das Auseinandertreten von Organisationen, repräsentierenden Intellektuellen und Repräsentierten macht das Feld frei für Politiken des Trasformismo: einen Veränderungsprozess, der »fremde Interessen« ins Spiel bringt. Stuart Hall hat in seiner Analyse der Veränderung der Sozialdemokratie in der fordistischen Zeit gezeigt, wie diese für die Arbeiter durchaus Erfolge erarbeitet hat, gleichzeitig aber die Arbeiterbewegung als Bewegung köpfte und sie der Neoliberalisierung gegenüber relativ wehrlos zurückließ. Die damit verknüpfte Vorstellung, zu wissen, was gut für die Betroffenen ist, oder das Selbstverständnis, Verschlechterungen als Erfolge zu denken, um Organisationsressourcen abzusichern, haben das Verhältnis von Führung und Bewegung zersetzt. Politische Führung fokussierte sich auf Bestandssicherung oder wurde gar Dirigent des Trasformismo.

Organisation? Organisierung!

Aus der Kritik der Repräsentationslandschaft und den entsprechenden Organisationen sind die Bewegungen der 1960ff. Jahre entstanden. Die Bürgerrechtsbewegung (vor allem in den usa), Friedens-, Frauen-, Studierenden- und Ökologiebewegungen haben dazu beigetragen, das Gefüge des Fordismus zu erschüttern und den Block an der Macht zu verändern. Die Krise der Wertschöpfung Anfang der 1970er Jahre verschaffte ihnen erweiterte Spielräume. Aus den Bewegungen sind Organisationen und Institutionen entstanden, die verstetigt, z. T. »enteignet« und in staatliche Verwaltung überführt werden, ohne diese demokratisierend umzubauen. Neue differenzierte Organisationsfelder entstanden, politische Parteien (Grüne) und zahllose NGOs. Mit dem Aufstieg des Neoliberalismus wurden Industrien und Arbeitsplätze verlagert oder zerstört, Löhne und Sozialleistungen sanken. Diese Prozesse griffen in Reagans Neoliberalismus früh und mit großer Macht durch. Gekoppelt an aktive anti-gewerkschaftliche Strategien schwächten sie die Gewerkschaften und ihren Organisationsgrad dramatisch. Die Institutionalisierungen und Organisationen, die in den usa aus den sozialen Bewegungen der 1980er und 90er Jahre entstanden und in denen die Interessen ihrer »Communities« repräsentiert waren, wurden neoliberal transformiert. Gleichzeitig erschöpften sich die revolutionären und antikapitalistischen Bewegungen gegen Krieg, Rassismus, Imperialismus in den 1980er Jahren (vgl. Liss/Staples 2008). In diesem Vakuum können sich Ansätze und Protagonisten des »pragmatischen Organisierens« (Alinsky) verbreiten, die nicht an großen gesellschaftlichen Transformationsvorstellungen, sondern an den Alltagssorgen und Interessen der Menschen und »Communities« orientiert sind. Ob in Dachorganisationen wie Industrial Area Foundation (iaf) und der Association of Community Organizations for Reform Now (acorn) oder in kleinen lokalen Community Organizations, jeweils stehen die unmittelbaren Interessen, die Anerkennung und Repräsentation der Betroffenen im Mittelpunkt der Organisationspolitik. Instrumente dieser Politik sind Ansprache, Aktivierung, Trainings in Selbstvertretung (leadership building) und Medienarbeit sowie direkte Aktion. »Führung« wird hier zu individueller Kompetenz, Sprechen lernen, Verhandeln, Kampagnen planen und organisieren. Die Ziele der Selbstvertretung laufen aber vielfach ins Leere durch die Sachzwänge des »non-profit-industriellen Komplexes«, in dem philanthropische private Stiftungen Richtung und Reichweite möglicher Transformation bestimmen. Diese Formen »einer realpolitischen Organisierung der Arbeiterklasse haben verhindert, dass Gewerkschaftsführungen wie Mitgliedschaft die strategische Bedeutung einer wachsenden Gruppe innerhalb der Arbeiterklasse (Niedriglöhner und Erwerbslose, vor allem farbige Frauen) wie auch neue Modelle der Organisierung und des movement-building theoretisch erfassen« (Liss/Staples, 5). Im pragmatischen Ansatz sind die politische Organisierung und die Transformation der Organisationen selbst blockiert, ein Kollektivwillen in Gramscis Sinne wird nicht erarbeitet. Dadurch bleibt der Staat unangetastet als Vertreter des Allgemeinen; Führung changiert hier bestenfalls zwischen persönlicher Emanzipation und Sozialtechnik. Eine Verknüpfung der Grundlagen von Standortnationalismus, Ausbeutung, imperialen Kriegen etc. mit pragmatisch begrenzten Zielsetzungen wird nicht vorgenommen. Erst die Antiglobalisierungsbewegung (und dann die Friedensbewegung) haben diese wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Sie kommen seit Seattle 1999 in »Gipfelprotesten« und Sozialforen zusammen (vgl. Luxemburg 2/2009). Beide Formen – die Mobilisierung auf globale »Events« des Protests wie Zusammenkunft und Vernetzung – können eine Zeit lang ein Gewebe der Kooperation von Organisationen und Initiativen bilden. Die Herausbildung politischer Handlungsfähigkeit bleibt aber beschränkt: Die Gipfelproteste verbleiben meist im Bereich symbolischer Politik und können sich schwer in den alltäglichen Kämpfen in Milieus jenseits der unmittelbar Aktiven verallgemeinern. Den Sozialforen ist es gelungen, das Feld der heterogenen und vielfältigen Akteure, Initiativen und Organisationen der Globalisierungskritik zusammenzubringen. Das Konzept eines offenen »Raums«, in dem die Möglichkeit für Dissens und Konsens geschaffen wird, ohne Ausschließungen zu produzieren, hat es erlaubt, Konflikte und Widersprüche zu bearbeiten. Gleichzeitig zeigte sich, wie anfällig der demokratische Raum für die Reproduktion von Ungleichheiten ist – indem sich das kulturelle und organisatorische Kapital von Klassen-, Geschlechts- und ethnischen Zuschreibungen reproduziert. Sie verbinden sich mit unterschiedlicher »Organisationsmacht« der politischen Akteure und privilegieren etwa NGOs, Gewerkschaften, Parteien (Manji 2007). Um einen strategisch operierenden gegenhegemonialen Blocks zu schaffen, müssen Organisationen ganz unterschiedlicher Zielsetzungen, Reichweiten und Macht nicht nur als formell, sondern real Gleiche kooperieren. Bedingung für ein Gelingen ist, dass jede einzelne Organisation diese Unterschiedlichkeit als legitim anerkennt und sich in »starken« Momenten wiederfinden oder daran anschließen kann.

Transformation Organisieren?

Aus den pragmatischen Organisierungen in den 1990er Jahren ist eine neue Dialektik entstanden: transformative organizing verbindet in verschiedenen Feldern Projekte der Verteidigung von Alltagsinteressen mit dem Aufbau einer Bewegungslinken aus den molekularen Projekten. Kommunitaristische Selbstblockade aufgrund bloß lokaler Mobilisierungen soll ebenso verhindert werden wie der Anschluss an rechtspopulistische Diskurse. Konzepte der Demokratisierung von leadership sind hier nicht beschränkt auf die Vertretung unverbundener Interessen der jeweiligen Communities, sondern Teil einer Strategie zur Verschiebung hegemonialer Verhältnisse. Indem sie zum Gegenstand von Diskussion, Strategien und Demokratie gemacht werden, sollen die informellen Hierarchien zurückgedrängt werden und gleichzeitig kollektive Handlungsfähigkeit entstehen. Strategischer Ausgangspunkt sind communities of color mit Niedrigeinkommen (vor allem Frauen) – diejenigen, die am stärksten unter den neoliberalen Politiken leiden und gleichzeitig Erfahrungen des Ausschlusses auch von linken und gewerkschaftlichen Organisationsprojekten machen (vgl. zu Problemen der Blockbildung von Gewerkschaften und Erwerbslosenbewegung Becker/Kaindl 2009). Eine Verbindung von communities of color mit Kleinunternehmen und Mittelschichtsangehörigen soll geschaffen werden – sie teilen zentrale Unterdrückungserfahrungen: hohe Verschuldung, mangelnde Krankenversicherung, Wohnung und Arbeitslosigkeit. Viele Projekte des transformative organizing arbeiten im Bereich von Reproduktionsökonomien und Dienstleistungsgewerben (die nicht verlagert werden können) oder in Projekten der lokalen, ethnischen oder politischen communities, die als einheitliches Politikfeld verstanden werden (vgl. das Interview mit Nik Theodore in diesem Heft). »Die Mitglieder dieser neuen Arbeiterklasse hören nicht auf aktiv zu sein, wenn der Arbeitstag vorbei ist. Kämpfe um Wohnungen, die man sich leisten kann, um Essen, um Hilfe für Kinder, Gesundheit der Familie, die Älteren – all das sind zentrale Kämpfe der Klasse.« (Liss/Staples 2008, 19). Von dieser Analyse aus werden Handlungsfelder organisiert (z.B. Right to the City, vgl. Luxemburg 4/2010). Die Herstellung einer gegenhegemonialen Bewegung kann nicht als additiver Prozess gelingen, in dem gesellschaftliche Gruppen und ihre Interessen zueinander sortiert werden. Die Herausbildung von organischen Intellektuellen in den Bewegungen, ihre Selbstveränderung und die Veränderung ihrer Basis sind bewusst und strategisch zu organisierende Aspekte einer gesellschaftlichen Transformation. Die Selbstvertretung und Organisierung der Prekären soll dazu beitragen, das Feld für gemeinsame Bündnisse aktiv zu ebnen, damit eine Kooperation auf Augenhöhe möglich wird. Amerikanische Gewerkschaften haben sich durch die Erfahrung der Zerrüttung ihrer Organisationsmacht auf »neue« Akteure und Strategien zubewegt, eröffnen ihrerseits Räume für demokratische gemeinsame Arbeit an der Herausbildung einer gemeinsamen gesellschaftlichen »Partei«.

Freiheit zur Veränderung

Occupy Wall Street (OWS) ist eine nicht völlig neue, aber radikale Antwort auf die Janusköpfigkeit der Repräsentation. Die Versammlungen haben einen hohen Grad an innerer Organisation – »Logistik ist Politik«: medizinische Versorgung, Übernachtung, Kleidung, Heizung, Essen für zeitweise 2000 Personen, ein Mediencenter, Alternative Finanzordnung, Sicherheit, Mediation, Dokumentation, eine zentrale Bibliothek, Seminare zur politischen und schulischen Bildung, Strategie- und ThinkTankgruppen oder Direkte Aktion. In wenigen Wochen entstanden fast 100 Arbeitsgruppen. Ein konzeptioneller Anker ist der Bezug auf horizontalism – ursprünglich von den Zapatistas aufgebracht, steht das Konzept für die Selbstorganisierungsprozesse der Erwerbslosenbewegungen, der Nachbarschaftsversammlungen und wiederangeeigneten Betriebe in Argentinien seit der Krise. Die Versammlungen und Besetzungen sind Prozesse der Selbstorganisierung und »Selbsterziehung« (Gramsci), die sich speisen aus der Kritik traditioneller Repräsentation, ohne Organisierung abzulehnen. Ein Sprecherrat verschiedener Versammlungen, die aktive Verknüpfung mit gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen und Versuche, von den besetzten Plätzen aus Organisierungsprozesse in den Nachbarschaften zu beginnen, sind als Teil der Herausbildung eines Allgemeinen »von unten« gedacht. Die Menge im Liberty Park New Yorks praktizierte Offenheit, Zugänglichkeit und Gleichheit (Solidarität). Sie kennt Organisierende und Sprechende, aber keine formelle Repräsentation – »they can’t be bought or bombed« (Crosby). Elaborierte Kommunikations- und Entscheidungsprozeduren wurden entwickelt. Ihre Basis ist nicht der Gemeinwille (volonté générale), sondern der Gesamtwille (volonté de tous), konstituiert in der Ende Oktober von einem »Spokes Council« abgelösten »Generalversammlung«: »Die Generalversammlung setzt sich aus all denen zusammen, die an einem Tag zu einem Treffen kamen. Jede und jeder hat die Freiheit teilzunehmen und durch Veränderung verändert zu werden.« (Doug Henwood)  

Literatur

Balla, Balint, 1973: »Bürokratische« oder »Kader«-Verwaltung?, in: Zeitschrift für Soziologie 2, 101–27 Becker, Florian, und Christina Kaindl, 2009: Widersprüche der Mosaik-Linken, in: Luxemburg 1/2009, 93–9 Demirović, Alex, 1997: Herrschaft und Demokratie, Münster Deppe, Frank, 1997: »Führung«, in: HKWM Bd. 4, Sp. 1085–1092 Geiger, Theodor, 1931: Führung, in: Alfred Vierkandt (Hg.): Handwörterbuch der Soziologie, Stuttgart, 138f Genschel, Corinna, u.a., 2009: Debatte: Von Seattle nach Kopenhagen, in: Luxemburg 2/2009, 8ff Henwood, Doug: The OWS Demands group meets, LBO-News v. 24.10.2011 http://lbo-news.com/2011/10/24/the-ows-demands-group-meets/ Kernig, Claus Dieter (Hg.), 1968: Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft, Bd.II, Freiburg-Basel-Wien, Stichwort »Führung« Liss, Jon, und David Staples, 2008: New Folks on the Historic Bloc: Worker Centers and Municipal Socialism, Vortrag auf der »Right to the City Konferenz«, 7. November, Berlin Manji, Firoze, 2007: World Social Forum: just another NGO fair? 2007-01-26, Pambazuka News H. 288; www.pambazuka.org/en/category/features/39464 Priester, Karin, 2007: Populismus. Historische und aktuelle Erscheinungsformen, Frankfurt/M Urban, Hans-Jürgen, 2010: Lob der Kapitalismuskritik. Warum der Kapitalismus eine starke Mosaik-Linke braucht, in: Luxemburg 1/2010, 18–29