Liebe Menschen, es reicht! Es wird Zeit, dass wir […] unsere Forderungen auf die Straße bringen. Es geht so nicht weiter. Wir werden uns nicht in die Position der Erfüllungsgehilfen setzen lassen. Ehrenamt ist keine billige Arbeitskraft. Wir sind kein Spielball der Politik. Geflüchtete sind keine Menschen zweiter Klasse. Wir fordern Respekt. Wir stellen klare Forderungen an die Politik. Unterstützt uns dabei.« Mit diesen Worten rief die Initiative Moabit Hilft am 17. Oktober 2015 zu einer Kundgebung vor dem Roten Rathaus in Berlin auf. Seit Monaten unterstützt die Stadtteilinitiative Geflüchtete, die vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) auf ihre Registrierung warten. Rund um die Uhr versuchen sie, das Chaos der offiziellen Strukturen und die katastrophalen, menschenunwürdigen und rechtswidrigen Zustände für die Geflüchteten erträglicher zu machen – selbstorganisiert und unentgeltlich. Mit der Kundgebung »Es reicht!« skandalisierte Moabit Hilft nicht nur die Bedingungen vor dem LaGeSo, sondern auch die Rolle freiwillig Helfender, die einspringen, wo staatliche Institutionen versagen.

Im letzten Jahr wurde die praktische Hilfe durch freiwillig Engagierte besonders dringlich – aufgrund der steigenden Zahlen von Geflüchteten, des jahrelangen Abbaus von Versorgungsstrukturen und der Verfasstheit des Asylsystems (vgl. Misbach 2015). Diese humanitäre Hilfe von zahlreichen UnterstützerInnen und Initiativen ist ohne Frage zu begrüßen und angesichts der gravierenden Missstände auch notwendig. Sie ist darüber hinaus ein wichtiges Zeichen gegen Rassismus und rechte Gewalt gegen Geflüchtete (vgl. Van Dyk et al. 2016).

Die Situation vor dem LaGeSo und die Rolle von Moabit Hilft machen aber die Problematik dieser Bedingungen des Helfens deutlich: Freiwillige übernehmen Aufgaben des Staates, der Länder oder einzelner Behörden, entlasten sie damit und schwächen so womöglich den politischen Handlungsdruck. Ihr Engagement ist unter den gegebenen Umständen eine unersetzliche Hilfe für die Betroffenen; es wird jedoch in die Hände der ehrenamtlichen UnterstützerInnen gelegt, von ihrem Engagement und ihren Ressourcen abhängig gemacht, worauf eigentlich ein Rechtsanspruch besteht. Praktische humanitäre Hilfe darf daher nicht nur die Lücken staatlicher Strukturen füllen, sondern muss die Bedingungen ihrer Notwendigkeit benennen und verändern. Die Skandalisierung der Zustände vor dem LaGeSo und damit der Voraussetzungen ihrer Arbeit verleiht dem Engagement von Moabit Hilft ein politisches Veränderungspotenzial. Die dort Aktiven nutzen ihr Engagement, um auf die strukturellen Missstände und die Ausbeutung der Ehrenamtlichen aufmerksam zu machen. Dennoch gelingt es ihnen bisher nicht, genug Druck aufzubauen. Die humanitäre Katastrophe vor dem LaGeSo ist mittlerweile so groß, dass Kapazitäten und Ressourcen der HelferInnen erschöpft sind. Wie können unter diesen Bedingungen politische Forderungen durchgesetzt werden? Eine Herausforderung, vor der wir als Medibüro Berlin schon seit vielen Jahren stehen.

Ziel ist, die eigene Arbeit überflüssig zu machen

Praktische Unterstützungsarbeit in Reaktion auf gesellschaftliche Missstände zu leisten und zugleich Mängel nicht nur zu verwalten, sondern für radikalere politische Veränderungen zu kämpfen – dieses Spannungsfeld ist der Arbeit des Medibüros immanent. Als antirassistische Initiative setzte es sich bei der Gründung 1996 das Ziel, sich so schnell wie möglich wieder überflüssig zu machen. Was erst einmal paradox klingt, ist Kern des Selbstverständnisses: Als Medibüros und Medinetze fordern wir eine staatlich finanzierte reguläre Gesundheitsversorgung für alle, unabhängig vom Aufenthaltsstatus. Gleichzeitig organisieren wir auf Umwegen medizinische Versorgung durch qualifiziertes Fachpersonal für Illegalisierte und MigrantInnen, die keinen Zugang dazu haben. Wir kritisieren und skandalisieren diese Ausgrenzung und Entrechtung, um politische Veränderungen herbeizuführen, und versuchen zugleich, die Situation der Betroffenen durch den Aufbau autonomer Strukturen zu verbessern.

Theoretisch haben auch Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus einen Anspruch auf Gesundheitsleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG). Hierfür müssen sie allerdings einen Krankenschein beim Sozialamt beantragen. Wie alle öffentlichen Behörden ist dieses jedoch laut Übermittlungspflicht (§87 2 AufenthG) angehalten, einen illegalen Aufenthalt zu melden. Illegalisierten ist der Zugang zur Gesundheitsversorgung somit faktisch verwehrt beziehungsweise mit der Gefahr der Aufdeckung und Abschiebung verbunden. Nach AsylbLG besteht zudem nur Anspruch auf eine reduzierte Versorgung bei akuten und schmerzhaften Erkrankungen und auf unerlässliche Gesundheitsleistungen. Unser Angebot ist anonym, kostenlos und soll möglichst niederschwellig sein. Alle, die im Kollektiv mitwirken, sowie die ÄrztInnen und TherapeutInnen des Netzwerkes arbeiten unentgeltlich. Entstehende Kosten werden aus Spenden finanziert. Doch die praktische Vermittlungsarbeit macht offensichtlich, was eigentlich auf der Hand liegt: Eine ausreichende gesundheitliche Versorgung von Teilen der Bevölkerung ist durch nichtstaatliche, freiwillige, aus Spendengeldern finanzierte Projekte nicht möglich. Es sind strukturelle, zeitliche und vor allem finanzielle Grenzen gegeben, die fatale gesundheitliche Konsequenzen für die Betroffenen haben. Chronifizierungen und Komplikationen von Krankheitsverläufen bis hin zu Todesfällen sind die Folge (vgl. Medibüro, 2013). Daher fordern wir den gleichberechtigten Zugang zu medizinischer Versorgung aller hier lebenden Menschen, die Abschaffung der Meldepflicht und gleiche soziale und politische Rechte.

Mit den Jahren hat das Medibüro Wissen und Expertise auf dem Gebiet aufgebaut und sich in einem gewissen Maße professionalisiert. Eine Professionalisierung durch bezahlte Stellen oder einen projektgebundenen Fond war jedoch nie gewollt, um weiter grundlegende Veränderungen im Sinne eines »Rechts auf Rechte« zu erkämpfen und keine parallelen ehrenamtlichem Strukturen auszubauen. Wir wollen nicht die Lücken des deutschen Sozialsystems füllen und damit den Anschein erwecken, politische Lösungen seien nicht mehr vonnöten. Das Dilemma bleibt dennoch bestehen: Indem das Medibüro auf freiwilliger und unentgeltlicher Basis Aufgaben übernimmt, die in staatlicher Verantwortung liegen sollten, schwächt es auch den politischen Handlungsdruck. Das zeichnet sich auch in der Entwicklung des Medibüros ab.

Selektive und unkritische Würdigung ehrenamtlicher Flüchtlingshilfe

Als sich das Medibüro 1996 gründete, dachte man, die Arbeit müsse klandestin bleiben. Es gab die Angst, dass Polizei und Ausländerbehörde auf Menschen ohne Aufenthaltserlaubnis aufmerksam oder diese sogar während der Sprechzeiten aufgreifen würden. So wurde etwa bewusst ein Raum gewählt, der über einen zweiten Ausgang, eine Feuertreppe, verfügte. Das Szenario trat in all den Jahren zum Glück nie ein: Denn im Gegenteil verweisen auch offizielle Stellen inzwischen auf das Medibüro, das Projekt wird anerkannt und gewürdigt.

Wie unkritisch und einseitig ›ehrenamtliches‹ Engagement für Geflüchtete häufig gewürdigt wird, zeigt exemplarisch eine Veranstaltung am »Internationalen Tag der Migranten« (18. Dezember 2014). Ausgewählte BürgerInnen und Initiativen wurde im Auswärtigen Amt die Anerkennung für ihr ehrenamtliches Engagement ausgesprochen. In den Reden von Staatsministerin Aydan Özoğuz, Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Vizekanzler Sigmar Gabriel wurde ihre Arbeit gelobt – die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen, die dieses Engagement erst notwendig machen, wurden jedoch mit keinem Wort erwähnt. Weder die bestehenden Handlungsspielräume für politische Veränderung (wie die Abschaffung oder Veränderung des Asylbewerberleistungsgesetzes oder die Einführung einer Gesundheitskarte als nur zwei von zig Beispielen) wurden genannt noch die zu diesem Zeitpunkt medial recht präsenten selbstorganisierten Proteste von Geflüchteten in Berlin und bundesweit. Wie so oft geriet die Kritik an der menschenunwürdigen Asyl- und Flüchtlingspolitik in den Hintergrund oder sollte gar nicht erst laut werden. Rassistische Ausgrenzung wird so unsichtbar gemacht. Am  »Tag der Migranten« waren nicht Geflüchtete und ihre Forderungen sichtbar, sondern die humanitäre Hilfe ›weißer‹ Projekte. So wird die ehrenamtliche Tätigkeit – auch in Projekten, die einen politischen Anspruch verfolgen – auf ihre humanitären Aspekte reduziert. Dies schwächt das kritische und emanzipatorische Potenzial in den verschiedenen Projekten, neben humanitärer Arbeit auch politische Veränderungen anzustreben. Auch den Willkommensinitiativen wird gegenwärtig für ihr Engagement gedankt – in Berlin etwa mit Aktionstagen wie »Berlin sagt Danke« –, statt ihre Forderungen aufzugreifen und für praktische Lösungen und politische Reformen zu sorgen. Unbequeme, zu kritische Initiativen werden mitunter gar in ihrer Unterstützungsarbeit behindert. So wurde etwa in Berlin der Initiative Multitude, die mit einem politischen Anspruch Sprachkurse und Beteiligungsangebote für Geflüchtete organisiert, der Zutritt zu Heimen untersagt. Sowohl Heimbetreiber als auch bezirkliche Stellen suchen sich die Unterstützungsangebote zum Teil danach aus, ob sie politisch erwünscht, funktional und systemkonform sind.

Solidarische Unterstützungsarbeit wider den paternalistischen Hilfediskurs

In den Würdigungen des ›Ehrenamts‹ dominiert darüber hinaus häufig eine Perspektive, die humanitäres Engagement als karitative Hilfe begreift. Die bewusste oder unbewusste Ignoranz gegenüber gesellschaftlich ausgrenzenden Bedingungen und die fehlende Analyse ihrer Ursachen erlaubt es, Unterstützung als Wohltätigkeit zu begreifen. Damit geht eine Hierarchisierung von Helfenden und ›Bedürftigen‹ einher, denn Letztere erscheinen nicht als Anspruchsberechtigte, sondern als BitstellerInnen, von denen unter Umständen auch noch Dankbarkeit erwartet wird. Ihre Bedürftigkeit muss immer wieder diskursiv hergestellt werden, um legitim zu erscheinen. So werden die ehrenamtlichen (überwiegend ›weißen‹) Helfenden als aktiv handelnde Subjekte und ihre (›schwarzen‹) Gegenüber als defizitär, arm, passiv sowie hilfs- und entwicklungsbedürftig konstruiert. Während die Helfenden Anerkennung erfahren, erzeugt die zugeschriebene Position als Opfer, Objekt oder AdressatIn von Hilfsangeboten eher Mitleid. Die Macht- und Ausbeutungsverhältnisse, unter denen sich die Hilfe abspielt, werden so verschleiert.

Das Medibüro ist eine fast ausschließlich ›weiße‹ Unterstützergruppe. Die Frage, wie in unserer eigenen Vermittlungsarbeit der (Re-) Produktion von Rassismen begegnet und wie mit Hierarchien umgegangen werden kann, beschäftigt uns. Wir haben immer wieder die Erfahrung gemacht, dass ÄrztInnen und TherapeutInnen erstaunt bis empört über das Auftreten mancher von uns vermittelten Personen waren, weil sie nicht ihre Erwartungen beziehungsweise das herrschende Bild des ›typischen Flüchtlings‹ erfüllten. So wurde etwa Erstaunen darüber geäußert, dass Personen nicht ausreichend bedürftig aussähen. Die Sozialanthropologin Susann Huschke, die lange im Medibüro aktiv war, hat in ihrer Forschung zur Gesundheitsversorgung von Illegalisierten auch die Interaktion zwischen BehandlerInnen/ VermittlerInnen und Geflüchteten untersucht und herausgearbeitet, wie Vorstellungen von Bedürftigkeit in der Interaktion performativ hergestellt werden. Sie zeigte, dass aktiv fordernden oder dominant auftretenden Geflüchteten eher Widerstand entgegengebracht oder die Dienstleistung verweigert wird. Die Helfenden haben implizite Erwartungen an ein diskretes, dankbares oder unterwürfiges Auftreten ihres Gegenübers. In die Interaktion schreibt sich ein Hilfeverständnis im Sinne von Wohltätigkeit ein, statt eines der solidarischen Unterstützung im Kampf um ein Recht auf Rechte (Huschke 2014). In unserer Vermittlungspraxis versuchen wir, rassistische Stereotype nicht zu reproduzieren, sondern uns der Hierarchie zwischen Helfenden und Hilfe in Anspruch Nehmenden bewusst zu sein. Wir versuchen auch, Hierarchisierungen von Migrantengruppen zu hinterfragen. Wir gehen nicht davon aus, dass ›Weiße‹ per se nur paternalistisch handeln können – doch müssen Reflexionsprozesse darüber immer wieder angeregt werden, nicht zuletzt, um eine Politisierung des Themas anzustoßen.

Mit der Änderung unseres Namens von Medibüro – Büro für medizinische Flüchtlingshilfe in Medibüro – Netzwerk für das Recht auf Gesundheitsversorgung aller Migrant*innen wollen wir verdeutlichen, dass es um den Kampf um gleiche politische und soziale Rechte geht. Der alte Name spiegelte die Realität des Medibüros schon lange nicht mehr. Denn zu uns kommen ja nicht nur Illegalisierte, für die sich das Medibüro ursprünglich hauptsächlich zuständig gefühlt hatte, sondern zunehmend auch EUBürgerInnen, etwa aus Südosteuropa, die zwar einen legalen Aufenthalt haben, aber oft weder hier noch in ihrem Herkunftsland krankenversichert sind. Auch für ihre Belange wollen wir uns einsetzen. Mit dem Begriff ›Flüchtlingshilfe‹ bedienten wir außerdem ungewollt die Kategorisierung und Hierarchisierung von ›Flüchtlingen‹ und MigrantInnen ebenso wie ein paternalistisches Hilfeverständnis. Gesundheitsversorgung ist aber ein Menschenrecht und darf nicht von ›ehrenamtlichem‹ Engagement abhängig sein.

Das skizzierte Spannungsfeld, in dem sich die Arbeit der Medibüros bewegt, lässt sich nicht in die eine oder andere Richtung auflösen, die strukturell bedingten Widersprüche müssen aber immer wieder ins Bewusstsein gerückt werden. Es geht darum, das eigene Engagement zu nutzen, um die herrschenden Zustände öffentlich zu skandalisieren und zu verändern. Unter dem Motto »Es ist uns keine Ehre« begehen wir 2016 unser 20-jähriges Bestehen mit einer öffentlichen Veranstaltung. Hier wollen wir die Kontroversen des Ehrenamtes in Zeiten flüchtlingspolitischen Versagens diskutieren und uns mit anderen Akteuren vernetzen, um weiter für politische Veränderungen zu kämpfen. Denn unser Ziel ist auch nach 20 Jahren noch, uns überflüssig zu machen.

Dieser Text ist eine aktualisierte Version des 2015 von Elène Misbach und Hanna Schuh veröffentlichten Artikels »Es ist uns keine Ehre«.