Fast überall in Europa ist der Anteil der Beschäftigten, die in einer Gewerkschaft organisiert sind, auch seit Beginn dieses Jahrhunderts weiter zurückgegangen. Das muss nicht unbedingt heißen, dass der Einfluss der Gewerkschaften auf Löhne und andere Arbeitsbedingungen ebenfalls schwächer geworden wäre. Vergleicht man zum Beispiel den gewerkschaftlichen Organisationsgrad mit dem Anteil der Beschäftigten, die in einem tarifgebundenen Betrieb arbeiten, stößt man in vielen Ländern auf eine vielleicht überraschende Diskrepanz (Abbildung 1). Die sogenannten institutionellen Machtressourcen der Gewerkschaften sind offenbar vielfach stabiler als ihre Organisationskraft.

Alt-text is missing.

Abbildung 1: Tarifbindung und gewerkschaftlicher Organisationsgrad (in % aller abhängig Beschäftigten), Quelle: Schulten, WSI (ICTWSS Database)

Abbildung 1: Tarifbindung und gewerkschaftlicher Organisationsgrad (in % aller abhängig Beschäftigten), Quelle: Schulten, WSI (ICTWSS Database)

Diese relative Stabilität hängt in hohem Maße mit der Konstruktion der Tarifvertragssysteme zusammen. Das ganze Gerüst ist an einigen wenigen Ankern befestigt. Einer davon ist das sogenannte Günstigkeitsprinzip: Tarifgebundene Arbeitgeber*innen haben kein Recht, mit den Belegschaftsvertretungen Verträge abzuschließen, die für die Beschäftigten schlechtere Bedingungen als der nationale oder Branchentarifvertrag vorsehen. Wird das Günstigkeitsprinzip im Arbeitsrecht aufgehoben, bleibt der Grad der Tarifbindung vielleicht zunächst unverändert, aber das Tarifvertragssystem erodiert gewissermaßen von innen. Ein noch wichtigerer Anker ist in vielen Ländern die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen — entweder durch die Regierung oder quasi automatisch durch das Arbeitsrecht. Das krasseste Beispiel für die Bedeutung dieses Ankers ist Frankreich: Der gewerkschaftliche Organisationsgrad gehört zu den niedrigsten, aber die Tarifbindung zu den höchsten in Europa (Abbildung 1).

Eine derartige Diskrepanz macht aber auch deutlich, wie verletzlich der institutionelle Einfluss der Gewerkschaften sein kann, wenn er nicht mithilfe anderer Machtressourcen untermauert wird: ihrer Organisationskraft, ihrer Durchsetzungskraft auf dem Arbeitsmarkt (z.B. niedriger Arbeitslosigkeit oder dem gezielten Druckpotenzial bestimmter Berufsgruppen) und – last, but not least – ihrer politischen Kraft durch außerparlamentarische Mobilisierungsfähigkeit und ihrem Gewicht im politischen Raum (vgl. Schmalz/Dörre 2013). Diese Verletzlichkeit ist es, die im zurückliegenden Jahrzehnt — den Jahren der nur scheinbar überwundenen Eurokrise — in einigen Ländern schlagartig sichtbar wurde. Die Angriffe auf Tarifvertragssysteme hatten je nach Land durchaus unterschiedliche Wirkungen.[1]

Ein Angriff auf die Tarifvertragssysteme …

In der vermeintlichen Krisenbekämpfungspolitik der EU stehen zwei Ziele ganz oben: die Senkung der Staatsschulden sowie die Erhöhung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Ersteres soll durch staatliche Ausgabenkürzungen erreicht werden, Letzteres durch die Senkung der Arbeitskosten auf dem Weg einer Erhöhung der Flexibilität des Arbeitsmarkts. Dass diese Wege zu den angestrebten Zielen führen, ist theoretisch umstritten und empirisch vielfach widerlegt (vgl. u. a. Busch et al. 2016 und die Länderanalysen in Lehndorff 2014). Dies ändert nichts daran, dass diese Strategie durch die EU-Kommission und den Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs in den Rang eines unumstößlichen Glaubenssatzes gehievt und nach dem Ausbruch der Eurokrise mit einem Set von vertraglich festgezurrten Regeln einbetoniert wurde. Um „die Löhne stärker an die wirtschaftlichen Bedingungen auf betrieblicher Ebene anzupassen“ und damit „zu einer generellen Verringerung des Einflusses der Gewerkschaften auf die Lohnentwicklung“ beizutragen, hält die EU-Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen die folgenden „Reformen“ der Tarifvertragssysteme für vordringlich (European Commission 2012, 103f): „Reduzierung der Tarifbindung“, „Reduzierung der (automatischen) Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen“, „Dezentralisierung des Tarifvertragssystems zum Beispiel durch die Abschaffung oder Einschränkung des Günstigkeitsprinzips“, Einführung oder Ausweitung der „Möglichkeit zur betrieblichen Abweichung von Flächentarifverträgen bzw. zur Verhandlung von betrieblichen Vereinbarungen“.(Ebd.)

Dies ist die one-size-fits-all-Blaupause, nach der im Zuge der Eurokrise das Arbeitsrecht in einer Reihe von EU-Ländern reformiertwurde — weitestgehend in den Ländern unter Troika-Diktat und verschärfter Aufsicht durch EU-Kommission und EZB.[2] Für den Zweck des vorliegenden Aufsatzes greife ich hier nur die Beispiele von gesetzlichen Änderungen an den Tarifvertragssystemen in vier Mittelmeerländern in den Jahren 2010 bis 2012 heraus: In Griechenland wurde das Günstigkeitsprinzip abgeschafft und die Möglichkeit geschaffen, in Kleinbetrieben Verträge mit nicht-gewerkschaftlichen Belegschaftsvertreter*innen abzuschließen. Nach Ablauf der Vertragsdauer eines Tarifvertrags erlischt dieser nach drei Monaten. Die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen wurde rechtlich erschwert und praktisch eingestellt. Der nationale Mindestlohn wird nicht mehr durch Tarifvertrag, sondern durch die Regierung festgelegt (woraufhin er um 22 % gesenkt wurde). In Italien können Unternehmensvereinbarungen die auf Branchenebene vereinbarten Arbeitsstandards unterschreiten, wenn sie von einer Mehrheit der repräsentativen Gewerkschaften im Betrieb unterzeichnet wurden (womit indirekt die automatische Allgemeinverbindlichkeit von nationalen Tarifverträgen ausgehebelt wird). In Spanien haben Arbeitgeber*innen die Möglichkeit, aus wirtschaftlichen Gründen aus einem Tarifvertrag auszusteigen. Nicht erneuerte Tarifverträge erlöschen nach einem Jahr. Unternehmensvereinbarungen haben Vorrang vor Branchenverträgen und können von diesen nach unten abweichen (womit auch hier die automatische Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen demontiert wird). Auch in Portugal wurde — dem Troika-Memorandum entsprechend — die Allgemeinverbindlicherklärung rechtlich erschwert und praktisch eingestellt (vgl. Lehndorff/Dribbusch/Schulten 2018; Lehndorff 2014).

Ähnlich gerichtete Arbeitsmarktreformen gab es auch in Ländern ohne Troika-Diktat — das prominenteste Beispiel ist hier Frankreich. Die Gemeinsamkeit lässt sich auf zwei unterschiedliche Weisen interpretieren: Entweder man erblickt darin das erdrückende politische Gewicht der „länderspezifischen Empfehlungen“ der EU-Kommission im Rahmen der „neuen Wirtschaftssteuerung“, dem sich die Regierungen einzelner Mitgliedsländer nur schwer entziehen können. Da ist selbstverständlich etwas Wahres dran, doch ich ziehe eine andere Sichtweise vor: Zumindest in den größeren Mitgliedsländern müssen die Regierungen und andere mächtige Akteure auf nationalstaatlicher Ebene derartige Deregulierungen selbst für richtig halten. So bedurfte die Agenda 2010 keines Drucks aus Brüssel und die Lobpreisungen des früheren französischen Präsidenten Hollande für den Modellcharakter dieser Reformen waren zweifellos ernst gemeint (auch solch ein Politiker der personifizierten Substanzlosigkeit wie Hollande kann etwas ernst meinen, aus welchen Gründen auch immer, und so etwas gibt es bekanntlich nicht nur in Frankreich). Die wiederholten Forderungen der EU-Kommission, Frankreich möge dem deutschen Beispiel folgen, hatten natürlich Gewicht, doch keine Regierung der Grande Nation hätte sich dem gebeugt, wenn sie es nicht selbst für richtig gehalten hätte. Es war aber durchaus hilfreicher Rückenwind aus Brüssel, den Hollande — ebenso wie dann Macron — für die aus eigener Gläubigkeit heraus vorangetriebene Schwächung der Arbeitnehmerrechte hatte.

In den hier betrachteten vier südeuropäischen Ländern war das nicht viel anders. Der Zwang, dem sich die rechts-neoliberalen Regierungen mit den oben skizzierten Demontagen der Tarifvertragssysteme unterwarfen, war im Prinzip willkommen — anders als die Regierung in Frankreich hätten sie aber ohne diesen Zwang wohl nicht die Durchsetzungskraft gehabt, um so rabiat vorzugehen. Immerhin ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad in allen vier Ländern höher als in Frankreich, in Italien sogar wesentlich höher. Welche Wirkungen hatten nun diese vereinten Bemühungen?

… mit begrenzten Wirkungen

Die Blaupause der Deregulierungspolitik war im Kern überall dieselbe, aber was dabei herauskam, war widersprüchlich und uneinheitlich. Widersprüchlich insofern, als die mit der Schwächung der Tarifvertragssysteme beabsichtigte Lohnsenkung sich in den Jahren nach 2012 sogar eher verlangsamte. Nur in Griechenland setzte sie sich zunächst mit gleichem Tempo fort (Abbildung 2). Die Vertiefung der Krise durch die seit 2010 betriebene Austeritätspolitik und die damit einhergehende massive Erhöhung der Arbeitslosigkeit waren ganz offensichtlich die entscheidenden Faktoren, die bereits vor den Angriffen auf die Tarifvertragssysteme die Lohnsenkung vorangetrieben hatten. Die uneinheitliche Wirkung springt ins Auge, wenn wir die Entwicklung sowohl der Löhne als auch der Tarifbindung betrachten (Abbildung 3). Was sich insbesondere in Italien und Spanien bei den Löhnen zeigt, wird durch die Stabilität der Tarifbindung unterstrichen: Die Deregulierungen haben in diesen beiden Ländern nicht ausgereicht, um die Tarifvertragssysteme merklich zu schwächen, geschweige denn zu zerstören (vgl. Leonardi/Pedersini 2018). Wie sind diese Unterschiede zu erklären?

Alt-text is missing.

Abbildung 2: Entwicklung der Reallöhne (2000=100; Verbraucherpreisindex), Quelle: Ameco

Abbildung 2: Entwicklung der Reallöhne (2000=100; Verbraucherpreisindex), Quelle: Ameco

Alt-text is missing.

Abbildung 3: Tarifbindung (in % aller abhängig Beschäftigten in Unternehmen mit Tarifvertrag), Quelle: ILO/ICTWSS

Abbildung 3: Tarifbindung (in % aller abhängig Beschäftigten in Unternehmen mit Tarifvertrag), Quelle: ILO/ICTWSS

Anm.: Zur Tarifbindung liegen keine aktuelleren Vergleichsdaten vor. Insbesondere für Griechenland bilden die hier ausgewiesenen 40 Prozent nur einen Zwischenstand des Abwärtstrends ab und schließen auch die zahlreichen nach unten abweichenden Firmenverträge ein.

Zunächst zu Griechenland, dem Land mit dem stärksten Einbruch der Löhne und der Tarifbindung. Seit den 1990er Jahren ruhte hier das Tarifvertragssystem auf sehr wenigen Pfeilern (vgl. Karamessini 2014): der Organisations- und Verhandlungsmacht der Gewerkschaft in einer kleinen Anzahl von Branchen (z.B. Versorgungsunternehmen), der Politik der Allgemeinverbindlicherklärungen sowie dem Setzen von Mindeststandards durch das Aushandeln eines nationalen Mindestlohns, der anschließend von der Regierung als gesetzlicher Mindestlohn etabliert wurde. Die Gewerkschaftsführungen des Dachverbandes für die Privatwirtschaft hatten sich in diesem Setting eingerichtet und verließen sich — nicht zuletzt dank ihrer engen personellen Verbindungen zur konservativen und zur sozialdemokratischen Partei — auf sein weiteres Funktionieren. Gewerkschaftliche Revitalisierungsinitiativen wie in anderen Ländern wurden nicht für erforderlich gehalten, junge Mitglieder gab es kaum noch. Was dann passierte, fassen Koukiadaki et al. (2016, 79f) so zusammen: In Griechenland hatten „die Gewerkschaften sich auf ein bestimmtes Maß an institutioneller Unterstützung verlassen […]. Als der Staat seine Unterstützung in Form der Allgemeinverbindlicherklärungen und des Günstigkeitsprinzips zurückzog, waren die Gewerkschaften nicht in der Lage, andere Ressourcen zu mobilisieren, um das Verhandlungssystem neu auszubalancieren“. Und Viatzoglu (2018, 129) ergänzt: „Die Arbeitgeber brauchen jetzt die Gewerkschaften nicht mehr, um sozialen Frieden zu sichern.“ So gab es 2013 einen regelrechten Boom betrieblicher Vereinbarungen unterhalb des Branchenniveaus, die zumeist mit nicht-gewerkschaftlichen Vertretungen abgeschlossen wurden. Schulten (2015, 2) gibt die weithin geteilte Einschätzung wieder, dass „nur noch eine kleine Minderheit der Beschäftigten unter den Geltungsbereich eines Flächentarifvertrages fallen dürfte“. Erst in jüngster Zeit zeichnet sich eine zaghafte Wiederbelebung von Tarifverhandlungen ab, nachdem die Syriza-geführte Regierung im Sommer 2018 angekündigt hat, nach dem Ende des dritten Troika-Memorandums das Tarifvertragssystem wiederherzustellen und die Praxis der Allgemeinverbindlicherklärungen wieder aufzunehmen (Bosch 2018).

Wenn auch nicht so stark wie in Griechenland war in Portugal die Tarifbindung nach 2012 ebenfalls deutlich zurückgegangen (vgl. Naumann 2018). Hier hatten die Arbeitgeberverbände zusammen mit den Gewerkschaften gegen die Aufgabe der Allgemeinverbindlicherklärung durch die rechts-neoliberale Regierung protestiert. In diesem Land mit seinen ohnehin niedrigen Löhnen hatten die Branchentarifverträge traditionell die Funktion einer Untergrenze, die aus Arbeitgebersicht nicht durch noch billigere Konkurrenten unterschritten werden sollte — daher die Unzufriedenheit mit der Aufgabe der Allgemeinverbindlicherklärungen. Unter diesen Bedingungen erlahmte jetzt zwar das Interesse der Arbeitgeberverbände an neuen Branchentarifverträgen, aber die Möglichkeit, die Mindeststandards durch betriebliche Vereinbarungen zu unterschreiten, wurde kaum genutzt. So war es nur folgerichtig, dass mit der Regierungsübernahme durch die Sozialistische Partei 2015 und deren Ankündigung, die Praxis der Allgemeinverbindlicherklärungen wieder aufzunehmen, die Tarifverhandlungen auf Branchenebene einen zunächst bescheidenen, aber deutlichen Aufschwung nahmen.

Noch stärker ausgeprägt war dieses Beharrungsvermögen der Tarifvertragsparteien in Spanien. Auch hier hatte vor allem in größeren Unternehmen die Praxis betrieblicher Verhandlungen bis zur Krise der Über-, nicht Unterschreitung des bescheidenen, auf Branchenebene ausgehandelten Mindestniveaus gedient (vgl. Banyuls/Recio 2014). Daran änderte auch die Deregulierung des Tarifvertragssystems durch die Rajoy-Regierung im Jahr 2012 nur wenig. In einigen Branchen wurden sogar im ausdrücklichen Bemühen um die Erhaltung des Tarifvertragssystems erneut Verhandlungen geführt, während Betriebsvereinbarungen mit Abweichungen nach unten eher die Ausnahme blieben. Koukiadaki et al. (2016, 111) bezeichnen das Herangehen der Verhandlungsparteien auf Branchen- und Unternehmensebene in Spanien (und einigen anderen Ländern) als „prozessorientiertes concession bargaining“: Ziel vor allem der Gewerkschaften sei es, „wo immer möglich, Tarifverträge zu erhalten und abzuschließen, auch wenn die Rahmenbedingungen dafür sich verschlechtert hatten“. Im Ergebnis dieses Vorgangs sanken zwar die tarifvertraglichen und tatsächlichen Einkommen, aber die Konstruktion des Tarifvertragssystems blieb trotz gesetzlicher Deregulierung in der Praxis weitgehend intakt. Es wurde durch das concession bargaining gewissermaßen ausgehöhlt, kann aber bei besseren wirtschaftlichen Rahmenbedingungen wieder aktiviert werden. Die neue sozialistische Minderheitsregierung hat es somit leichter, ihre Ankündigung einer Revision der gesetzlichen Demontage des Tarifvertragssystems in die Tat umzusetzen.

Besonders ungewöhnlich war die Entwicklung in Italien (vgl. Leonardi 2018). Bereits 2009 vereinbarten die zweit- und die drittgrößte Gewerkschaft mit dem Arbeitgeberverband — unter dem Beifall der Regierung — ein Rahmenabkommen, das die Dezentralisierung der Tarifverhandlungen fördern und unter bestimmten Bedingungen die Abweichung betrieblicher Vereinbarungen von den Flächentarifverträgen fördern sollte (Aufhebung des Günstigkeitsprinzips). Die größte Gewerkschaft (CGIL) sollte isoliert werden, aber sie gab nicht klein bei. Sie begann eine Kampagne gegen dieses Abkommen und strengte eine Reihe von Klagen vor Arbeitsgerichten an. Dies führte zwei Jahre später zu einem neuen Abkommen, das (mit kleineren, innerhalb der CGIL kontroversen Einschränkungen) das Günstigkeitsprinzip wiederherstellte — die CGIL unterschrieb jetzt. Dies veranlasste wiederum die auf ihr Ende zugehende letzte Berlusconi-Regierung, kurz nach diesem Spitzenabkommen das Günstigkeitsprinzip per Gesetz aufzuheben — ganz im Sinne des mahnenden Briefes, den sie von der EZB erhalten hatte (Simonazzi 2014). Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften bekräftigten daraufhin ihre zuvor getroffene Übereinkunft. Leonardi (2018, 103) zitiert einen führenden Funktionär der CGIL mit den Worten: „Ich habe mein Leben lang verhandelt, um dem Gesetz Geltung zu verschaffen. Jetzt finde ich mich in einer Situation wieder, in der ich gegen das Gesetz verhandeln oder so tun muss, als existierte es nicht.“

Das italienische Beispiel ist in mehrfacher Hinsicht interessant. Zum einen unterstreicht es die Möglichkeit der Gegenwehr. Die Maßnahmen zur Demontage der Tarifvertragssysteme durch den neoliberalen Mainstream auf nationaler und EU-Ebene sind das eine — aber damit ist noch nicht gesagt, wie sich das auf die Praxis auswirkt. Da die CGIL nach wie vor zu den stärksten Gewerkschaften Europas gehört (und der Organisationsgrad aller italienischen Gewerkschaften zusammengenommen in den letzten 20 Jahren unverändert bei rund einem Drittel der abhängig Beschäftigten liegt — eine der höchsten und stabilsten Quoten in Europa), mögen ihre Chancen zu erfolgreicher Gegenwehr besonders gut sein. Doch so einfach ist es ebenfalls nicht, wie der Blick auf die Lohnentwicklung zeigt, die nicht besser ist als die in Spanien (Abbildung 2). Angesichts hoher Arbeitslosigkeit, breiter Prekarisierung (vor allem unter jungen Menschen) und schwachen Wirtschaftswachstums sind die Durchsetzungsmöglichkeiten selbst starker Gewerkschaften begrenzt. Sie müssen deshalb ihren Aktionsradius ausweiten, sich um den gesamten Arbeitsmarkt weit über ihre Stammklientel hinaus und um die Zukunft der gesamten Wirtschaft kümmern. Sie müssen selbstständig aktiv werden, ohne weiterhin auf traditionell befreundete, aber immer schwächer gewordene Parteien vertrauen zu können. Mit einemSatz: Sie müssen versuchen, noch mehr zu autonomen Akteurinnen zu werden. Diese sehr schwer zu bewältigende Herausforderung will ich abschließend kurz beleuchten.

Wie freischwimmen aus der Abhängigkeit vom Staat?

Die Abhängigkeit der Tarifvertragssysteme vom Staat ist durch die Eurokrise und durch die sie vertiefende neoliberale Politik verstärkt worden. Diese Verletzlichkeit machte in einigen Ländern das Zerschlagen der Ankerketten — Allgemeinverbindlicherklärung und Günstigkeitsprinzip — im Zuge der Diktatspolitik von Troika und EU-Kommission so gefährlich für die zukünftigen Möglichkeiten, Löhne und andere soziale Mindeststandards kollektiv auszuhandeln. Auch die jüngsten politischen Entwicklungen werden — nun jedoch im positiven Sinne — dieser Abhängigkeit gerecht: Die (von den Gewerkschaften begrüßten) Regierungswechsel in Portugal und Spanien und das Auslaufen des dritten Troika-Programms in Griechenland eröffnen neue Möglichkeiten, den rechtlichen Rahmen für Standards setzende Tarifverhandlungen wiederherzustellen.

Der Blick auf die hier betrachteten vier Länder zeigt zudem: Demontage und Wiederherstellung des rechtlichen Rahmens sind nur ein Teil der Geschichte. Der andere und noch wichtigere ist der Umgang sowohl der Arbeitgeberverbände als auch der Gewerkschaften mit dieser Abhängigkeit. Insbesondere die Gewerkschaften können schnell in eine prekäre Situation geraten: Verlassen sie sich vorrangig, wie in Griechenland, auf ihre traditionellen politischen Freund*innen in der Regierung, dann sind sie einem politischen Kurswechsel fast hilflos ausgeliefert. Es gab zwar zunächst Streiks und riesige Demonstrationen, aber bald setzte verständlicherweise Erschöpfung ein, und wo in Betrieben und sozialen Initiativen weiter gekämpft wurde, galten die Gewerkschaftsführungen vielfach als Teil des Establishments. Ein Interesse des gewerkschaftlichen Dachverbandes, gemeinsam mit der Syriza-geführten Regierung die Zeit nach dem Ende der Troika-Diktate vorzubereiten, war nicht erkennbar — eher eine gegenüber dieser Regierung sehr distanzierte Abwartehaltung in der Hoffnung auf bessere Tage, ohne die bereits lange vor der Krise entstandenen strukturellen Schwächen in der eigenen Organisation erkennbar anzugehen.

In Spanien hatten die Gewerkschaften in den Jahren vor der Krise ebenfalls „zu großes Vertrauen in ihre institutionellen Machtressourcen [gehabt] und es dabei versäumt, zusätzliche eigene Machtressourcen zu erhalten und zu stärken“ (Köhler/Calleja Jiménez 2018, 70). Und auch in Spanien protestierten sie zunächst mit Generalstreiks und Massendemonstrationen gegen die Regierungspolitik und mussten dann erleben, wie sich diese Mittel bald erschöpften (dieselbe Erfahrung mussten die portugiesischen Gewerkschaften machen). Von der gleichzeitig anschwellenden Massenbewegung der Platzbesetzungen wiederum wurden die Gewerkschaften mehrheitlich zunächst als Teil des Establishments betrachtet. Es begann ein (innerhalb der Gewerkschaften keineswegs konfliktfreier) Balanceakt zwischen concession bargaining zwecks Erhaltung der Tarifstrukturen einerseits und einem starken Willen zu gewerkschaftlicher Erneuerung andererseits. Eine der wichtigsten Innovationen war der Beitrag der Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes zu den teilweise sogar erfolgreichen Bürgerbewegungen gegen Privatisierungen und den Abbau sozialer Dienstleistungen, die von einem breiten Netz zivilgesellschaftlicher Organisationen getragen wurden. In dieselbe Richtung ging die Zusammenarbeit der Gewerkschaften mit der Frauenbewegung anlässlich eines landesweiten Aktionstages am 8. März 2018: „Die zunehmende Bedeutung von Frauen innerhalb der Gewerkschaften erwies sich als verlässliche Grundlage für die Entwicklung stabiler Kooperationsbeziehungen mit feministischen Gruppen im Sinne einer Verbreiterung der sozialen Basis und der politischen Anerkennung der Gewerkschaften.“ (Ebd., 81)

In Italien schließlich war gewerkschaftliche Mobilisierung ausschlaggebend für die Erhaltung des Tarifvertragssystems. Die CGIL als die größte Gewerkschaft engagiert sich bereits seit Jahren auf verschiedenen Feldern der Revitalisierung — von Organizing-Projekten unter jungen prekär Beschäftigten bis hin zu einer großen Kampagne für eine grundlegende Reform des Arbeitsrechts. Leonardi (2018, 111) zieht dennoch eine nüchterne Bilanz: So widerstandsfähig sich die italienische Gewerkschaftsbewegung gegenüber den Herausforderungen der Krise erwiesen habe, so groß sei die „Kluft zwischen den Ressourcen wie Mitglieder, Finanzen, Tarifbindung und Mobilisierungskraft, die den Gewerkschaften weiterhin zur Verfügung stehen, und den Ergebnissen, die sie damit in den letzten 25 Jahren erzielen konnten“. Er sieht einen wesentlichen Grund dafür – neben der Vertiefung der strukturellen Defizite der italienischen Wirtschaft – im Prozess einer „zunehmenden Marginalisierung“ der Gewerkschaften im politischen System Italiens (ebd., 98): Mit dem weitgehenden Untergang der Linken und nun auch der Sozialdemokratie ist ein politisches Vakuum entstanden, das die Gewerkschaften zwingt, politisch autonom zu agieren. Nicht zuletzt deshalb, weil — wie Italien zeigt — dieses politische Vakuum in erheblichem Umfang von der nationalistischen Rechten gefüllt wird.

Politische Autonomie bedeutet selbstverständlich nicht, dass Gewerkschaften politische Parteien ersetzen könnten oder sollten (Deppe 2012, 53). Aber das traditionelle gewerkschaftliche Kerngeschäft und selbst breiter sozialer Protest werden aller Voraussicht nach nicht ausreichen, um die Gefahr von rechts einzudämmen. Darauf deutet eine repräsentative Erhebung hin, in der Teilnehmer*innen an großen sozialen Protestdemonstrationen der letzten Jahre gefragt wurden, welcher Partei sie zuneigen: In Portugal und Spanien gab eine deutliche Mehrheit an, linke Parteien wählen zu wollen, während in Polen und Ungarn die meisten ihre Sympathie für rechte Parteien erklärten.[3] Offensichtlich wird die Fähigkeit der Gewerkschaften, gesellschaftspolitisches Agenda Setting zu betreiben, immer mehr zu einer Voraussetzung dafür, auch das gewerkschaftliche Alltagsgeschäft wie die Verteidigung und Verbesserung der Arbeitsbedingungen mit Aussicht auf Erfolg zu betreiben.

Europäisch agieren

Es ist kein Zufall, dass in dem vorliegenden Überblick von europäischer Zusammenarbeit der Gewerkschaften noch keine Rede war. Nicht, dass es da nichts zu berichten gäbe. Die Kritik der Gewerkschaftsverbände auf EU-Ebene an der Austeritäts- und Deregulierungspolitik ist eindeutig und es gab (wenn auch aus Sicht der Hauptbetroffenen enttäuschende) Versuche, diese in gemeinsamen Aktionstagen zum Ausdruck zu bringen. Insgesamt ist es bislang allenfalls in Ansätzen gelungen, die gemeinsame Kritik in gemeinsame Praxis münden zu lassen (Busch 2016). Müller und Platzer (2018, 303) bezeichnen die europapolitische Situation der Gewerkschaften als paradox: Einerseits habe „der transnationale Charakter der Krise länderübergreifende, ähnliche oder komplementäre Probleme hervorgerufen, die eigentlich ein Antrieb für gemeinsame EU-weite Initiativen sein können“; andererseits aber habe die Krise „länderspezifische und zugleich divergierende Problemfelder für gewerkschaftliches Handeln“ geschaffen. Die beiden Autoren sprechen sogar von einer „krisenbedingten Re-Nationalisierung gewerkschaftlicher Politik und Aktionen“ (ebd., 320).

Umso wichtiger ist ihr Hinweis auf die Erfahrungen, die in einigen vergleichsweise wirkungsvollen EU-weiten Aktionen der Gewerkschaften gesammelt werden konnten — wie die Kampagne gegen die sogenannte Bolkestein-Richtlinie zur Liberalisierung von Dienstleistungen oder zuletzt die große Bewegung gegen die neoliberalen Freihandelsabkommen. Gerade Letztere hat in einigen Ländern viele soziale Akteure ermutigt, gemeinsam mit den Gewerkschaften zu handeln. Hervorzuheben sind aber auch länderübergreifende Streikbewegungen (wie die bei Ryanair) und branchenbezogene Kampagnen wie die gegen geplante Deregulierungen in den Häfen sowie die Europäische Bürgerinitiative gegen die Privatisierung des Wassers (right2water). Die zuletzt genannten Aktionen wurden von den jeweiligen gewerkschaftlichen Branchenverbänden auf EU-Ebene angestoßen, die sich hier als besonders handlungsfähige Akteurinnen erwiesen haben.

Wo auf EU-Ebene gewerkschaftliche Zusammenarbeit gelungen ist, konnte somit eine ähnliche Erfahrung gemacht werden wie in den oben erwähnten gewerkschaftlichen Kampagnen in Italien oder Spanien. In unserer eingangs erwähnten vergleichenden Analyse der Gewerkschaftsentwicklung in elf europäischen Ländern (Lehndorff/Dribbusch/Schulten 2018, 43) ziehen wir deshalb dieses Resümee: Es ist die Verknüpfung von Mitgliederinteressen und gesellschaftlichen Interessen, die Verbindung von gewerkschaftlichem Kerngeschäft mit gesellschaftspolitischem Agenda-Setting, die den Kern einer Revitalisierung der Gewerkschaften als politisch autonome Akteurinnen ausmachen — auf europäischer ebenso wie auf nationaler oder Branchenebene.

[1] Dieser Überblick beleuchtet nur einige der Entwicklungen, die wir kürzlich auf der Grundlage eines Vergleichs von elf europäischen Ländern genauer analysiert haben: Lehndorff/Dribbusch/Schulten 2018. Vgl. dort auch die weiterführende Literatur zu gewerkschaftlichen Machtressourcen und ihren Entwicklungen in verschiedenen europäischen Ländern sowie auf EU-Ebene.

[2] Analysen dieser Politik mit dem Fokus auf Tarifvertragssystemen und Lohnpolitik haben Müller/Schulten/Van Gyes (2016) vorgelegt. Die Deregulierung des Arbeitsrechts geht in vielen Ländern weit über diesen Kernbereich hinaus: Vorzugsweise wird der Kündigungsschutz abgebaut, aber die Angriffe reichen — auch völlig unabhängig von Empfehlungen der EU-Kommission — bis hin zur Einschränkung des Streikrechts wie in Großbritannien (vgl. dazu die Länderstudien in Lehndorff/Dribbusch/Schulten 2018 und Lehndorff 2014).

[3] Die Befragung wurde im Rahmen des European Social Survey durchgeführt (Campos Lima/Artiles 2018). In Polen gaben 44 % an, PiS wählen zu wollen; hinzu kamen acht % für den Kongress der Neuen Rechten. Die entsprechenden Präferenzen in Ungarn waren 53 % für Fidesz und 15 % für die faschistische Jobbik und eine weitere rechtsextreme Partei. Demgegenüber die Präferenzen in Portugal: zusammen über 70 % für Sozialistische Partei, Linksblock und PCP. Und Spanien: zusammen 58 % für Podemos, PSOE und Vereinigte Linke.

Weitere Beiträge