Kommentare zur sozialen und politischen Situation in China sind heute stark geprägt durch den Menschenrechtsdiskurs. Es scheint fast schon verwerflich, positive Entwicklungen in China zu beschreiben ohne darauf hinzuweisen, dass China regelmäßig gegen die internationalen Normen universeller Menschenrechte verstößt – aktuell betrifft dies die Lage in Xinjiang und Hongkong. Die Kritik an Chinas Umgang mit Menschenrechten ist nicht neu, allerdings gewinnt sie angesichts der zunehmenden Macht Chinas an Vehemenz. Auch steht sie zunehmend im Zeichen der systemischen Konkurrenz, die China aus der Perspektive westlicher Regierungen darstellt.
China wird innerhalb dieses Diskurses als fehlerhaftes politisches System beschrieben, das Menschenrechte missachtet und verletzt und von den USA und Europa dazu bewegt werden muss, sich in dieser Hinsicht zu bessern. Die chinesische Perspektive auf die Menschenrechtsthematik, obwohl sie gut dokumentiert ist, findet kaum Einzug in politische Debatten und mediale Beiträge. Es wird selten diskutiert, wie die chinesische Regierung Menschenrechte versteht, wie sich der Menschenrechtsdiskurs entwickelt und auf welche Weise China sich auf internationaler Ebene in die Diskussion um Menschenrechte einbringt.
Die Diskussion um Menschenrechte in China ist ideologisch stark aufgeladen und die Einseitigkeit der Darstellung ist problematisch, da sie die Volksrepublik regelmäßig als Feindbild heraufbeschwört. Man mag mit der Sichtweise der chinesischen Regierung auf Menschenrechte nicht übereinstimmen, aus der Luft gegriffen sind die Argumente der KP jedoch nicht. Sie lediglich als autoritäre Strategie abzutun, wird der Komplexität des Sachverhalts nicht gerecht und ist zudem politisch nicht sinnvoll, weil dies einen fruchtbaren Dialog mit China zu dem Thema blockiert.
Chinas Menschenrechtsdiskurs
Chinas Umgang mit Menschenrechten hat seit den späten 1970er Jahren eine rasante Entwicklung durchgemacht. Unter Mao Zedong war der Begriff „Menschenrechte“ negativ belegt, wurde als bourgeoiser Slogan abgetan und als ideologische Waffe imperialer Mächte im Kampf gegen sozialistische Systeme verstanden. Nach Maos Tod und mit der von Deng Xiaoping 1978 eingeleiteten Reform- und Öffnungspolitik wurde es möglich, über ökonomische Rechte und Bedürfnisse zu sprechen. Die Idee des Individuums und individueller Rechte wurde wichtiger, während das Ziel des Klassenkampfs in den Hintergrund rückte. Zivile und politische Rechte fanden Einzug in die Verfassung von 1982 und das Konzept von Menschenrechten gewann eine positivere Konnotation. China begann sich am internationalen Menschenrechtsdiskurs zu beteiligen, wurde Mitglied der UN-Menschenrechtskommission und ratifizierte verschiedene Menschenrechtsabkommen.
Politische Institutionen öffneten sich in den 1980er Jahren jedoch nicht in demselben Maße wie die Gesellschaft. Dies wurde besonders deutlich angesichts der Niederschlagung der Proteste auf dem Tiananmen-Platz im Juni 1989. Damit geriet China ins Kreuzfeuer internationaler Kritik bezüglich seines Umgangs mit Menschenrechten, die seitdem nicht abgerissen ist. Die KP brauchte eine Antwort auf die Kritik – auch, um ihre Legitimität zu sichern. Man wollte eigene Ideen von Menschenrechten entwickeln, anstatt die westliche Sichtweise zu übernehmen. Es wurden Forschungsinstitute an wichtigen Universitäten sowie die China Society for Human Rights Studies gegründet, um sich mit dem Thema zu befassen. Der Begriff als solcher war nicht länger kontrovers. Es ging nicht mehr um die Frage, ob Menschenrechte geschützt werden sollten, sondern wie.
Die massive Kritik aus dem Ausland führte 1991 auch erstmals zur Veröffentlichung eines Weißbuchs zu Menschenrechten, welches die Grundzüge der chinesischen Position darlegte. Darin wurde zum ersten Mal die Universalität von Menschenrechten anerkannt. Gleichzeitig wurde aber betont, dass Länder aufgrund ihrer historischen Entwicklung, sozialer Systeme, kultureller Traditionen und ökonomischer Situation unterschiedliche Auffassungen von Menschenrechten haben können. Es folgten weitere Weißbücher, Aktionspläne für Menschenrechte sowie die Ratifizierung wichtiger internationaler Menschenrechtsabkommen. Seit 2004 ist der Schutz der Menschenrechte auch in der chinesischen Verfassung festgeschrieben.
Universalismus vs. Relativismus, Kollektivismus vs. Individualismus
China versteht universelle Menschenrechte als Ziel, welches am Ende eines Entwicklungsprozesses steht. Es wird dabei Wert darauf gelegt, den nationalen Kontext zu berücksichtigen, innerhalb dessen diese Entwicklung stattfindet. Aus Sicht der KP sind politische und staatliche Stabilität die Voraussetzung dafür, individuelle Rechte verbessern zu können. Kollektive sozial-ökonomische Rechte, in erster Linie das Recht auf Subsistenz, stehen für China an erster Stelle und sollten gegenüber individuellen zivilen und politischen Rechten Priorität haben.
Die westliche Perspektive legt die Universalität der Menschenrechte zugrunde. Demzufolge sollten alle Menschen, ungeachtet kultureller Differenzen oder verschiedener politischer Systeme, grundsätzliche Rechte haben. Die USA und Europa beanspruchen für sich, dass sie die Menschenrechte achten und ein wichtiges Ziel ihrer internationalen Politik ist es, sich dafür einzusetzen, dass auch andere dies tun. China hingegen hat eine relativistische Perspektive, die besagt, dass alle Rechte kontextuell sind. Das westliche Verständnis von Menschenrechten bewertet China als ahistorisch und den Versuch, andere von diesem Verständnis zu überzeugen, sieht China als eine Form von kulturellem Imperialismus.
In diesen zwei Positionen stecken somit zwei große, grundsätzliche Kontroversen – nämlich die Debatte um Kulturrelativismus versus Universalismus und die Debatte um Kollektivismus versus Individualismus. Diesen liegen politisch-ethische Überzeugungen zugrunde, die sich argumentativ nicht auflösen lassen und jeweils logisch sind. Der universalistischen Sichtweise zufolge sollte jedes Individuum bestimmte Rechte besitzen und kein Umstand kann die Einschränkung dieser Rechte rechtfertigen. Relativisten hingegen verstehen Werte als abhängig von bestimmten kulturellen und historischen Gegebenheiten und finden den moralischen Absolutismus der universalistischen Position problematisch. Während Vertreter des Universalismus in dem relativistischen Argument einen Vorwand sehen, Menschenrechtsverletzungen zu rechtfertigen, kritisieren Relativisten an der universalistischen Sichtweise, dass sie real existierende Unterschiede und die Vielfalt von Wertesystemen nicht anerkennt.
Aus westlicher Sicht geht das Verständnis von Menschenrechten vom Individuum und seinem Anspruch auf Freiheit und Autonomie aus. Für China hat jedoch kulturell und politisch das Kollektiv eine starke Bedeutung und wird dementsprechend auch in der Debatte um Menschenrechte vorangestellt. Aktuell wurde dies in der Bekämpfung der Corona-Pandemie deutlich. China hat die Rechte Einzelner zugunsten des kollektiven Gesundheitsschutzes stark eingeschränkt, während die westlichen Staaten sich schwer getan haben mit der Beschneidung individueller Freiheiten. Das Ziel war dasselbe, nur der Weg dorthin war unterschiedlich. Man mag unterschiedlicher Auffassung darüber sein, ob Chinas Methoden im Kampf gegen Corona angemessen waren. Es muss jedoch anerkannt werden, dass China erfolgreich darin war, die Pandemie mit einer vergleichsweise geringen Zahl von Todesopfern einzudämmen.
Wenn Rechte Einzelner eingeschränkt werden, um eine Stabilität zu gewährleisten, die China als Garant für Entwicklung sieht, so ist das aus kollektivistischer Perspektive akzeptabel. In einem freiheitlich demokratischen, individualistischen System hingegen, ist eine Hierarchie von Menschenrechten nicht hinnehmbar. Wenn also beispielsweise, wie in China, das Recht auf Meinungsfreiheit nicht gegeben ist und man also den Staat für die Missachtung von Menschenrechten nicht ungestraft kritisieren kann, können andere Menschenrechte nicht effektiv geschützt werden. Somit impliziert die Kritik an der unzureichenden Achtung von Menschenrechten auch eine Systemkritik.
Geht es wirklich um Menschenrechte?
Die Debatte um Menschenrechte ist nicht nur ideologisch, sondern auch emotional aufgeladen. Man wirft sich jeweils vor, es mit den Menschenrechten gar nicht ernst zu meinen. Der Westen unterstellt China, dass in Bezug auf die Menschenrechte kein Umdenken stattgefunden habe. Zwar habe China die großen Menschenrechtsabkommen ratifiziert und sich in seiner Verfassung zu Menschenrechten bekannt, allerdings sei dies nur eine Strategie, um Kritik abzuwehren. Da es der KP nur darum gehe ihre Macht zu sichern, sei sie bereit über Leichen zu gehen – das zeigten schließlich die wiederholten, schweren Menschenrechtsverstöße. China hingegen wirft dem Westen Doppelmoral vor. Auch in den USA und Europa gebe es zahlreiche Menschenrechtsverstöße. China nennt hier zum Beispiel die amerikanischen Menschenrechtsverletzungen im Irak, Rassismus und die systematische Unterdrückung der Rechte Indigener oder den europäischen Umgang mit Migranten und ethnischen Minderheiten.
Es macht wenig Sinn, immer wieder zu fragen, wie sehr China den Diskurs um Menschenrechte internalisiert hat und ob die KP wirklich vorhat, den chinesischen Bürgern in Zukunft mehr zivile und politische Freiheiten einzuräumen. Genauso unmöglich ist es zu sagen, wie ernst es Europa und den USA damit ist, sich für ein besseres Leben der Menschen in China einzusetzen. Schließlich wird die Forderung nach einem besseren Schutz der Menschenrechte regelmäßig zugunsten wirtschaftlicher Interessen hintangestellt. Kaum abzustreiten ist jedoch, dass China den Diskurs um Menschenrechte nutzt, um autoritäre Praktiken zu rechtfertigen und dass der Westen den Diskurs nutzt, um ein alternatives politisches System zu diskreditieren und moralische Überlegenheit zu suggerieren. Die Debatte um Menschenrechte wird auf beiden Seiten von geopolitischen und ökonomischen Interessen überlagert und politisch instrumentalisiert.
China kontert Kritik regelmäßig mit dem Argument, dass es sich um eine innere Angelegenheit handle. Fragt man nach der Legitimität der chinesischen Zurückweisung westlicher Kritik am Umgang mit Menschenrechten, sollte der historische Kontext berücksichtigt werden. Chinas Betonung nationaler Souveränität in internationalen Beziehungen geht auf die Periode kolonialer Unterdrückung durch die Europäer zurück. Mit dem Vorwurf unzureichender Achtung von Menschenrechten wird nicht nur ignoriert, dass China damit ganz andere Entwicklungsmöglichkeiten hatte als die Kolonialmächte, sondern es wird auch impliziert, dass China anstreben solle, so zu werden wie der Westen. In einem postkolonialen Kontext werden normative Forderungen nach „korrektem“ politischen Verhalten natürlich besonders sensibel wahrgenommen – gerade in China, wo die Erinnerung an koloniale Erniedrigung sehr bewusst kultiviert wird.
Für einen besseren Dialog
Um den Nutzen ständiger Kritik zu evaluieren, muss also die chinesische Perspektive in den Blick genommen werden. Chinas Bürger genießen nicht die vollen, von der UN festgeschriebenen Menschenrechte. Allerdings hat sich die Menschenrechtssituation seit Anbruch der Reformperiode deutlich verbessert und die persönlichen Freiheiten der Bürger wurden in vielen Bereichen stark ausgebaut. Damit ist nicht gesagt, dass es nicht auch Rückschritte gegeben hat – etwa wurden die Räume für zivilgesellschaftliches Handeln in den letzten Jahren stark eingeschränkt – und auch nicht alle Bevölkerungsgruppen haben gleichermaßen von neuen Rechten profitiert. Die Errungenschaften jedoch als unaufrichtig zu beschreiben, legt nahe, dass man die chinesischen Bemühungen nicht anerkennt und die Absicht, die Menschenrechtssituation zu verbessern, nicht ernst nimmt. Ein solcher Ansatz ruft im besten Fall Ablehnung hervor, viel problematischer allerdings ist es, wenn er kontraproduktiv wirkt und die Stimmen des Nationalismus stärkt, deren Narrativen er Rückenwind verleiht.
Chinas Bürger haben viele Möglichkeiten, Kritik zu üben, und die chinesischen Kader werden auch danach bewertet, wie sie mit Unzufriedenheit umgehen. Die chinesische Führung muss also darauf Rücksicht nehmen, dass sie Rückhalt in der Bevölkerung hat – zumal es ja auch weitgehende Reisefreiheit und somit die Möglichkeit zur Emigration gibt. Es ist also wenig produktiv, wenn wir politische Freiheitsrechte nur an jenen Formen messen, die wir im Westen kennen. Es muss auch nach den realen Spielräumen und Freiheiten der chinesischen Bürger gefragt werden, nicht nur nach juristisch einklagbaren Rechten, ansonsten bleibt man in einer eurozentrischen Sichtweise gefangen und kann die hohen Zustimmungswerte bezüglich der Politik der KP nur noch plump als Reinfall auf staatliche Propaganda interpretieren.
Der Westen ist gegenüber China in einem Diskurs verhaftet, der aus der Zeit des Kalten Krieges stammt. Dieser teilt die Welt in freie, demokratische Staaten und unfreie, kommunistische Staaten. Dabei wird ignoriert, dass China nicht länger in diese Kategorien passt, sondern dass sich dort eine neue politische Form entwickelt hat, welche auch den Umgang mit Freiheit und Menschenrechten definiert. China ist außerdem längst zu mächtig und wohlhabend, um sich von der westlichen Rhetorik beeindrucken zu lassen oder gar den Forderungen nachzukommen. Im Zweifelsfall sucht es sich eben andere Partner, denn längst wird das chinesische Modell in vielen Teilen der Welt als Alternative erkannt, welches die exklusive Legitimität westlicher Systeme infrage stellt. Die Welt in richtige und falsche politische Systeme, in Freund und Feind, in demokratisch und autoritär, frei und unfrei einzuteilen, ist wenig konstruktiv für einen Dialog.
Momentan wird viel diskutiert, inwieweit China auf internationaler Ebene neue Normen in Bezug auf Menschenrechte zu setzen versucht. Umso wichtiger ist es, sich mit der chinesischen Perspektive auseinanderzusetzen, um auf Augenhöhe zu diskutieren. Sich von einem festgefahrenen Diskurs zu lösen, impliziert keine Verharmlosung der chinesischen Menschenrechtsverletzungen. Es bedeutet auch nicht, dass man sich versagt, Kritik an der chinesischen Politik zu üben. Bestimmte Narrative aufzubrechen und zu hinterfragen, könnte aber ein Schritt hin zu einem produktiveren Austausch auf politischer wie zivilgesellschaftlicher Ebene sein der vielleicht erlauben würde, gemeinsame Probleme beim Umgang mit Menschenrechten zu identifizieren (etwa, wenn wirtschaftliche Interessen sich mit menschenwürdigen Arbeitsbedingungen beißen) und gemeinsame Ziele zu stecken, um die Menschenrechte weltweit besser zu schützen.