ab wann fängt einer an zu merken, dass es ungerecht zugeht auf der welt? wie geht das: spüren, dass die welt mehr bereithält als schießer-unterhosen, die das christkind bringt; wenn es doch jedes jahr schießer-unterhosen brachte? warum sagt einer: ich will nicht so werden wie ihr? und: wie weit ist der weg, um bei marx’ »Kapital« zu landen – zu zeiten, wo es dem herzen, dem mund und dem unterleib besser gefallen hätte, mit mädchen im schwimmbad zu flirten? dann heute: studieren von philosophie, geschichte, politik und so vielem, das zeigt: ich stehe auf der seite der (fast) ewigen NIEDERLAGE. wieso hat mich die andere seite – mit geld, fußball oder kulinarischem – nicht gekapert, wie so viele meiner gefährt*innen?

Der Großvater, in Wuppertal geboren und wegen seiner Mitgliedschaft in der KP-Jugend von mir verehrt, hat nur ein Buch im Regal stehen: das »Kapital« von Marx. Seine Träume einer besseren Welt hat er mit ins Wirtshaus genommen und beim Bier vergessen – oder sie mit dem Rausch in eins fallen lassen. Sein »Erbe«: Trotz Christkind und Baumwollunterhosen wurden am zweiten Weihnachtsfeiertag beim Gewerkschafts- und Betriebsratsonkel Arbeiterlieder gesungen (immer die »Internationale«, oft das »Einheitsfrontlied«, selten »Brüder, zur Sonne«); dazu gab’s kubanischen Rum, gemischt mit Coca-Cola, das innerfamiliär »Imperialistenwasser« genannt wurde.

Von der katholischen Jugend zur Friedensbewegung gekommen (gegen cruise missiles und Pershing-II und Helmut Schmidt; ein Pinochet- und Waffen-SS-Freund) und den Kriegsdienst verweigert. Fast täglich die Orte meiner jugendlichen »Sucht« aufsuchend: Buchläden, in denen mir von klugen Frauen Erich Fried, Michael Schneider (Peter Schneider nie!), Oskar Maria Graf und Lion Feuchtwanger in die Hände gedrückt wurden. Dann als Weihnachtsgeschenk die im Kröner Verlag erschienenen »Frühschriften« von Marx bekommen, von denen ich bereits gehört hatte. Ich ließ mir als eitler 20-Jähriger ein eigenes Briefpapier drucken; am unteren Rand das immer noch nicht ganz verstandene Zitat aus einem Brief Marxens an Ruge: »Es wird sich dann zeigen, dass die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen« (Marx 1971, 171).

In Rosenheim organisierten die wenigen »Linken« (ich darunter) eine »Kapital«-Lesegruppe, vorbereitend dazu die Haug’sche Einführung lesend (damals noch bei Pahl-Rugenstein). Bei allen Schwierigkeiten des Verstehens war ich überrascht, wie bei Marx das »wirkliche Leben« von arbeitenden Menschen immer wieder zur zentralen Sache wurde: eben keine Sache, doch so behandelt von denen, die ihn (ver-)kaufen, ausbeuten, zerstören. Mich freuten Marx’ Zorn und seine Rücksichtslosigkeit (»Rücksichtslosigkeit – erste Bedingung aller Kritik«; Brief an Engels, 18.7.1877) gegen die »Herren« und »seine adressierte Menschlichkeit, eine, die denen zugewandt ist, welche sie einzig brauchen« (Bloch 1963, 1606). Mit Marxlesen öffnete sich für mich die Welt: Ich verstand plötzlich Zusammenhänge und Logiken, Strukturen und Begründungen, konnte von meiner Empörung über Ungerechtes zur »Empörung gegen das Verursachende« (ebd.) weiterdenken und auch mich selbst in den gesellschaftlichen Verhältnissen als Behandelter und Handelnder denken und fühlen. Doch früh schon war ich ebenfalls erstaunt darüber, dass so wenige der Gefährt*innen »das Verursachende« erkennen wollten. Verkehrspolitik im kommunalen Bereich, Lebensmittel-, Kleidungs- und sonstige Produktion (in Deutschland und weltweit), (fehlende) Erinnerungspolitik: Auf jedem politischen Feld war für mich die Frage »Wer hat warum Interesse daran, dass es so bleibt/wird?« stets mit der Frage nach Kapital- und Herrschaftsinteressen verknüpft. Freund*innen aus SPD und GRÜNEN waren entsetzt über diese Form »radikalen Denkens«. Radikal: die Wurzel des Übels erkennen.

Marx zu lesen mag schwer sein, ihn »richtig« zu verstehen gar unmöglich. Seine Schriften sind eine Zumutung, die uns klüger, mutiger und manchmal komplizierter machen können. Jenny Marx schrieb an Karl 1839 (oder 1840) einen Brief, in dem sie ihn darum bat, ihr ein »schwer zu verstehendes Buch« zuzusenden: »Weißt Du vielleicht irgendein Buch, es muß aber ganz eigener Art sein, so ein bißchen gelehrt, daß ich nicht alles versteh’« (Hecker/ Limmroth 2014, 40). Sich in diese Haltung von Jenny Marx zu begeben heißt, Schluss zu machen mit Twitter, SMS oder anderen Kurznachrichten. Das eigene Leben zu führen bedeutet auch, sich täglich mit den Folgen der praktischen und ideologischen Verheerungen der herrschenden Kapitalmächte, deren Denkfabriken und Blödmaschinen zu beschäftigen; vor allem, deren »Nahelegungen« von Normalität und Ordnung »bestimmt« zurückzuweisen. Auch wenn wir nicht genau wissen, wie wir »anders leben« können; wir können wissen, dass Selbst- und Weltveränderung heißt, sich »aus der Subalternität herauszuarbeiten« und Herrschaftsanforderungen mit Befreiungshandeln zu begegnen.

Für den 200. Geburtstag von Marx wünschte sich Ernst Bloch »eine konkrete Feier«, die nicht mit Unruhen, »Hungersnot […], aufflackerndem Faschismus noch zusammenfällt« (1970, 445). Nicht nur geht sein Wunsch nicht in Erfüllung; Ausbeutung, Hunger und Kriege durch die herrschenden Kapital- und Macht-cliquen sowie »Faschismusbereitschaft« (Braun 2014, 269) aufseiten der Beherrschten sind weltweit auf dem Vormarsch. Sozialistische, gar kommunistische Bewegungen und Parteien sind – mit wenigen Ausnahmen – vom Kapital und seinen Schergen geduldete Minderheiten. Würden Eigentumsverhältnisse – die Produktion und das bewohnte Land betreffend – real angetastet, liegen die Pläne für eine präventive Aufstandsbekämpfung in den Schubladen der Innenministerien und Polizeipräsidien bereit. Aber doch: Wie eine Flaschenpost, die an allen möglichen Orten auftaucht, sind die Marx’schen Schriften – ist der Marxismus – Material der Hoffnung:

»Wer gegen den Kommunismus ist, ist gegen die Bergpredigt, ist gegen Jesus […] denn nirgendwo steht geschrieben, dass Christentum an die Struktur des Privateigentums gebunden ist« (Müller 2017, 196).

Mein Freund Dick Boer zeichnet diesen – marxistischen wie christlichen – »Hoffnungsschimmer« bei gleichzeitigem Wissen um den realen Horror kapitalistischer Verhältnisse mit den Worten:

»Ich vermochte nicht mehr zu erkennen, dass die Welt spürbar im Zeichen ihrer Aufhebung in eine Welt stehe, in der Gerechtigkeit und Frieden einander küssen werden, wie der Psalmdichter seinen Glauben an eine innerweltliche Erlösung poetisch zum Ausdruck bringt. Aber mir war immer noch der Unglaube geboten: nicht zu glauben, die herrschende Ordnung hätte auch recht« (Boer 2017, 160).

Ingeborg Bachmann, geschlagen von der Nazigeschichte, seiner – österreichischen Variante der – Verleugnung sowie anderem Leid, weiß, dass Glück, Liebe und Hoffnung mit dem Kommunistischen einhergehen: »Alle meine Neigungen sind auf der Seite des Sozialismus, des Kommunismus, wenn man will […]« (Bachmann/Henze 2013, 267). Die bisherigen Niederlagen (»Wir sind, auch dort, wo uns das Glück schaffbar scheint, geschlagen, für immer geschlagen«) mit den Marx’schen »Feuerbachthesen« zusammenschnürend, sieht sie den Grund für die Schwierigkeit der Weltveränderung in der Resistenz des Menschen gegen Selbstveränderung: »Der neue Mensch: dazu müsste der alte erst ganz entkleidet werden, und er behält doch immer seine Unterwäsche an und zieht sich nur einen neuen Anzug darüber« (Bachmann 2005, 172). Ihren Pessimismus teile ich nicht. Er schleicht sich in Bachmanns Sprache ein und passiviert die Menschen. Meine Fassung würde lauten: Die neuen Menschen entkleiden sich gegenseitig ganz und gar (außer den Kaiser, der nichts anhat), finden Gefallen aneinander, erkennen sich, produzieren mit sich selbst auch Glück und Liebe und – noch später – die Kommune: »Der Kommunismus muss Luxus sein, oder er wird nicht sein« (ebd., 372).

wie weit ist der weg? ich weiß, woher ich komme. ich weiß, dass wir ihn gemeinsam gehen. no hay caminos – hay que caminar, steht an einer klostermauer in toledo. den weg nicht zu beginnen birgt in sich die zustimmung zum untergang dieser welt.