Euer Buch untersucht die Region um Gera, die lange als abgehängt galt und trägt den Titel »Abgehängt im Aufschwung«. Von welchem Aufschwung ist denn hier die Rede?
Hinz: In Thüringen gab es in den letzten zwei Jahrzehnten eine enorme Aufwärtsentwicklung. Das Bruttoinlandsprodukt hat sich seit 1991 fast vervierfacht, ein Großteil entfällt auf den industriellen Sektor. Die Arbeitslosigkeit lag bis in die 2000er-Jahre bei über 15 Prozent, heute sind es trotz Pandemie und Energiekrise stabil um die 6 Prozent, weniger als in Nordrhein-Westfalen. Doch das Wachstum wurde teuer erkauft und ist kaum mit sozialem Fortschritt verbunden.
Woran liegt das?
Hinz: Das Wachstum basiert zum großen Teil auf niedrigen Löhnen. Thüringen hat bundesweit einen der größten Niedriglohnsektoren. Dazu kommen Steuervorteile und Subventionen für Unternehmen mit oftmals westdeutschen Eigentümer*innen. Und die Gewerkschaften sind bis heute vergleichsweise schwach.
Sie bezeichnen das als »Modell Ostdeutschland«, die Ansiedlung von Zuliefer- und Export- betrieben mit prekären Arbeitsbedingungen.
Schmalz: Genau. Das Modell zeichnet sich zudem durch eine ungleiche Entwicklung aus. Die neue Prosperität konzentriert sich auf einige urbane Räume, etwa Jena. Periphere Regionen und Städte wie Gera oder Altenburg profitieren kaum. Sie leiden weiter an den Folgen der Deindustrialisierung der 1990er-Jahre.
Das »Modell Ostdeutschland« wird als Auslaufmodell beschrieben. Wie gerät es in die Krise?
Hinz: Ein zentraler Faktor ist die veränderte Arbeitsmarktlage. Noch bis in die 2000er-Jahre konnten die Unternehmen im Osten aus einem großen Pool qualifizierter Fachkräfte auswählen, trotz der massenhaften Abwanderung. Wegen der hohen Arbeitslosigkeit nahmen die Beschäftigten auch schlechte Bedingungen und Niedriglöhne in Kauf, nach dem Motto »Hauptsache Arbeit«. Inzwischen schlägt der demografische Wandel aber voll auf den Arbeitsmarkt durch. Unternehmen suchen händeringend nach qualifizierten Fachkräften, bieten aber wenig attraktive Konditionen. Das Problem verstärkt sich durch mangelndes Engagement, selbst auszubilden.
Fachkräftemangel und niedrige Arbeitslosigkeit, müsste das nicht die Position der Beschäftigten stärken?
Schmalz: Durchaus. Für die Generation der Wendezeit hat Michael Behr den Begriff des »Arbeitsspartaners« geprägt, der ständig für den Betrieb zurücksteckt. Dieses Verhalten beherrscht heute nicht mehr die betriebliche Realität. Es gibt durchaus ein neues Selbstbewusstsein.
Hinz: Die Verhandlungsposition der Beschäftigten hat sich klar verbessert, sie sind weniger bereit, für Niedriglöhne zu arbeiten, und kündigen häufiger. Dennoch gibt es Hürden für Veränderung. Viele Unternehmen haben mit der Situation keinen angemessenen Umgang gefunden. Sie halten an überlebten paternalistischen Geschäftsmodellen fest und gefährden damit die eigene Existenz.
Schmalz: Wichtig ist aber auch, dass sich die ökonomischen Rahmenbedingungen verändert haben. Verschärfte internationale Konkurrenz und steigender Kostendruck treiben das Modell Ostdeutschland in die Krise. Dazu kommt die Herausforderung der sozialökologischen Transformation. In einzelnen Betrieben gibt es tatsächlich wenig Spielraum für Umverteilung und Aufwertung. Das heißt, es bleibt bei niedrigen Löhnen und zehrenden Arbeitsbedingungen.
Wie gehen die Beschäftigten damit um?
Schmalz: Es ist eine Zangenbewegung, mit größerem ökonomischem Druck auf der einen und einem neuen Arbeitsbewusstsein auf der anderen Seite. Mancherorts formulieren die Beschäftigten durchaus neue Ansprüche, mit erstarkten Gewerkschaften im Rücken. Das zeigt der spektakuläre Arbeitskampf bei Teigwaren Riesa. Diese Erfolge gehen aber bisher nicht in die Fläche, es sind im gesamten Osten eher einzelne »Häuserkämpfe«.
Hinz: Das neue Selbstbewusstsein geht nicht notwendig mit Selbstermächtigung einher. Häufig führt es nur zum Wechsel des Arbeitsplatzes, was auch die Abwanderung vorantreibt. Für viele ist aber weder exit noch voice eine Option. Sie sind schon älter, familiär mit der Region verbunden, geringer qualifiziert oder einfach ausgelaugt. Wer sich keinen Wechsel zutraut, kündigt häufig innerlich. Mitunter entlädt sich der Frust aber in betrieblichen Konflikten: Dem Management wird die Gefolgschaft aufgekündigt oder Arbeitsstandards werden bewusst unterlaufen.
Wie artikuliert sich dieser Frust politisch, gegen wen richtet er sich?
Hinz: Das ist nicht einfach zu beantworten. Wir haben eine umfangreiche Betriebsfallstudie bei einem der größten Arbeitgeber der Region durchgeführt. Dort wurden Management und politische Eliten als ähnlich ignorant beschrieben. Die Politik agiere, so ein Befragter, »irgendwie wie in der Firma«, sie hänge in einer »Endlosschleife« und sei unfähig, die Probleme der »einfachen Leute« – niedrige Löhne, hohe Arbeitsbelastung und alltägliche Prekarität – zu lösen. Die Abwertung der eigenen Region spielt ebenfalls eine Rolle. Das negative Selbst- und Gesellschaftsbild geht mit Ohnmachtsgefühlen und Wut einher. Die Wut ist zwar diffus, aber nicht adressatenlos. Für den »Niedergang« der Regionen werden teils konkrete Entscheidungsträger*innen verantwortlich gemacht.
Die Abwertung der Regionen wird in der Studie als »räumlicher Klassismus« bezeichnet. Was ist damit gemeint?
Schmalz: Der Prozess der »Peripherisierung« ist nicht nur ökonomischer Natur. Er erfasst neben der Arbeitswelt auch die demografische Entwicklung und das gesamte gesellschaftliche Leben. Räumlicher Klassismus erzeugt eine negative Stimmung gegenüber abgehängten Regionen und »Verlierer«- Städten. In den Medien ist von No-go-Areas und »nicht lebenswerten« Städten die Rede, die Bevölkerung wird als ungebildet, faul oder pauschal rechts dargestellt. Das betrifft große Teile Ostdeutschlands und manche Städte im Ruhrgebiet. Sie werden den »weltoffenen« Metropolregionen wie Berlin oder Leipzig entgegengestellt. Das verstärkt die subjektiven und kollektiven Abstiegserfahrungen.
Laut Umfragen ist die AfD in Thüringen stärkste Kraft. Ob ökonomische oder soziokulturelle Faktoren dafür entscheidend sind, wird kontrovers diskutiert.
Schmalz: Unsere Studie zeigt, dass monokausale Erklärungen nicht sonderlich hilfreich sind. Culture und class sind beide relevant. Wir haben festgestellt, dass die strikte Ablehnung von Zuwanderung durch ein niedriges Einkommen und eine negative Wahrnehmung des eigenen Wohnorts begünstigt wird. Die Peripherisierung hat der AfD in Ostthüringen Auftrieb gegeben und an marginalisierten Orten Resonanzräume für rechte Gesellschaftskritik geschaffen. So ist die AfD in Gera oder Altenburg durchweg erfolgreicher als in Jena. Zentral ist die Darstellung von Migration als Zumutung und die Warnung vor »Übervölkerung«, was vollkommen realitätsfern ist: Der Ausländer*innenanteil liegt in Thüringen bei sechs Prozent, Migration würde demografische Probleme eher abmildern.
Die Studie vergleicht Ostthüringen mit dem schwedischen Skellefteå, das die Schrumpfung aufhalten konnte. Wie gelang das dort?
Schmalz: Im Gespräch mit den Entscheidungsträger*innen in Skellefteå haben wir gelernt, dass es ein neues öffentliches Bewusstsein braucht, um die Negativspirale aus Bevölkerungsrückgang, nachlassender Wirtschaftskraft und dem Rückbau von Infrastrukturen zu stoppen. Dort wurde das über Partizipation erreicht. Tausende von Menschen haben im Projekt Skellefteå 2030 mitgewirkt und in Diskussionsgruppen mehr als 10 000 Vorschläge für eine lebenswertere Gemeinde für alle eingereicht. Mit lokalen Akteur*innen aus Wirtschaft, Wissenschaft und Verbänden wurde eine Zukunftsagenda entwickelt, die im Wesentlichen darauf setzt, gegen den Abwärtstrend zu investieren. Zudem wird eine engagierte Migrationspolitik mit Begleitungs- und Beratungsangeboten verfolgt. Das zeigt, dass Beteiligung und aktive Strukturpolitik wirksam sein können.
Sie fordern am Ende des Buches eine »Aufwertung Ost«. Was ist dafür notwendig?
Hinz: Ein wichtiges Element ist eine aktive Industriepolitik. Sie darf sich nicht darauf beschränken, den Strukturwandel abzufedern, wie etwa im Fall des »Strukturstärkungsgesetzes Kohleregionen«. Stattdessen bedarf es einer strategischen Wirtschaftspolitik für unterschiedliche regionale Kontexte. Für peripherisierte Regionen wären Aufwertungsstrategien wichtig, etwa die gezielte Ansiedlung von Hochtechnologie. Gleichzeitig braucht es Anbindungsstrategien, also die strategische Verkoppelung von strukturschwachen Regionen mit urbanen Boomregionen. In Thüringen spielt die Autozulieferindustrie und die Umstellung auf E-Mobilität eine zentrale Rolle. Viele Zulieferer stehen unter enormem Druck. Die Ansiedlung des chinesischen Batterieherstellers CATL in Arnstadt zeigt neue Möglichkeiten, aber auch alte Probleme auf, nämlich niedrige Löhne.
Was wäre in der Arbeitspolitik zentral?
Hinz: Die Weichen müssten ganz neu gestellt werden: Arbeitskraft darf nicht einseitig »vernutzt« werden. Sie muss als regionales Kollektivgut von Gewerkschaften, Verbänden und Kammern gepflegt und weiterentwickelt werden. Das geht nur mit einer Stärkung von Regulierungsmustern wie dem Tarifvertragssystem. Aufwertung braucht ein Leitbild von »guter Arbeit« ebenso wie einen Ausbau der sozialen Infrastruktur.
Und ist all das politisch durchsetzbar?
Schmalz: Die Situation in Thüringen ist komplex. Die rot-rot-grüne Minderheitsregierung ist begrenzt handlungsfähig, auch weil die CDU eine destruktive Oppositionspolitik fährt und Haushaltskürzungen durchsetzt. In der Krise des »Modells Ostdeutschland« herrscht politische Instabilität und die Ausrichtung der Landespolitik ist umkämpft.
Das Gespräch führte Hannah Schurian.
Die Studie »Abgehängt im Augschwung. Demographie, Arbeit und rechter Protest in Ostdeutschland« ist als kostenloses Ebook online zu lesen.