Zwischen der Idee der Menschenrechte und dem Nationalstaat besteht eine unauflösliche Spannung. Der Nationalstaat ist die Instanz, die Menschenrechte verwirklichen soll. Aber er gewährt sie in Form von Bürgerrechten und verstößt damit gegen das Gleichheitsversprechen der allen – nicht nur den Bürgern – ›angeborenen Menschenrechte‹. In der Figur des Flüchtlings kommt diese Spannung am deutlichsten zum Ausdruck. Flüchtlinge sind abhängig von der Gnade ›fremder‹ Staaten, die für sie keinen demokratischen Einfluss vorsehen. Folgerichtig sind an der Situation von Geflüchteten oft die Paradoxien der Menschenrechte festgemacht worden. Bekanntestes Beispiel ist vermutlich Hannah Arendt, die, ausgehend von der Situation von Geflüchteten und Staatenlosen, vom »Recht, Rechte zu haben« als dem eigentlichen Menschenrecht spricht (Arendt 1986: 614). Giorgio Agamben (2001: 29) schreibt sogar, der Flüchtling hebe »die alte Dreieinigkeit von Staat, Nation und Territorium aus den Angeln« und sei deshalb »nichts weniger als ein Grenz-Begriff, der die Prinzipien des Nationalstaats in eine radikale Krise stürzt«.
Aktuell scheinen allerdings weniger der Nationalstaat als die Menschenrechte in eine radikale Krise zu stürzen. Während sich deutsche Staatsbürger vergleichsweise wirkungsvoll auf ihre Bürgerrechte berufen können, sind für Nichtbürger in Europa und an den EU-Außengrenzen Menschenrechte meist ein leeres Versprechen. Weder an die UN noch die EU können sich Flüchtlinge halten, um ihre Rechte durchzusetzen. Der europäische ›Raum des Rechts‹ löst sich für sie wieder in einzelne Nationalstaaten auf. Und die arbeiten an ihrer Abschottung.
Oft sind es nur ehrenamtliche AktivistInnen, die längs der Fluchtroute und in den Zielländern gewährleisten, dass Geflüchtete grundlegende Rechte – auf medizinische Versorgung, angemessene Unterbringung, Zugang zum Asylverfahren etc. – in Anspruch nehmen können. Viele von ihnen beziehen sich explizit auf die Menschenrechte. Sie begreifen damit Flüchtende und MigrantInnen nicht nur als Opfer oder Objekte von humanitärem Engagement, sondern als Handelnde, die Rechte einfordern. Inwieweit das für die Flüchtenden selbst gilt, wäre zu untersuchen.
Auf der anderen Seite der Barrikade stehen Pegida, die CSU und der ehemalige Verfassungsrichter Udo Di Fabio. Sie sehen mit der gestiegene Zahl von Geflüchteten, die in Deutschland ankommen, den deutschen Nationalstaat bedroht. Eine maßlose Übertreibung. Von einer materiellen Überforderung des deutschen Staats kann keine Rede sein. Bisher gibt es keine Anzeichen dafür, dass die Infrastruktur zusammenbricht, die Güter des täglichen Bedarfs knapp werden oder dem Staat das Geld ausgeht. Engpässe bei der menschenwürdigen Unterbringung sind selbstgemacht, und mit etwas politischem Willen ließen sich in überschaubarer Zeit für die bisher und die neu angekommenen Kinder genug Plätze und wieder bessere Bedingungen in den Schulen schaffen.
Trotzdem sieht Di Fabio in seinem Gutachten für die bayerische Staatsregierung die deutsche Staatlichkeit bedroht, vor allem durch die unkontrollierte Einreise. Zu Recht halten die Verfassungsrechtler Jürgen Bast und Christoph Möllers (2016) ihm entgegen, dass die »Durchführung von systematischen Personenkontrollen an befestigten Grenzanlagen keine notwendige Bedingung von Staatlichkeit ist«. Di Fabios Argumentation steht also auf wackligen Füßen. Aber er scheint genauso wie einfacher argumentierende Nationalisten zu spüren, dass ein konsequenter Schutz der Menschenrechte den Nationalstaat – zumindest in seiner jetzigen Form – infrage stellt.
Kein fester Grund
Im Treibsand der aktuellen Debatte ist die Anrufung der Menschenrechte als moralischer Fixpunkt, als zivilisatorischer Mindeststandard allgegenwärtig. Der naheliegende – und richtige – Impuls gegen die nationalistischen Angriffe ist es, die verbrieften Rechte zu verteidigen. Praktisch, juristisch und politisch Geflüchteten helfen. Den Nationalstaat anklagen, der seine Verpflichtungen nicht erfüllt, die er zum Beispiel in der Genfer Flüchtlingskonvention, der europäischen Menschenrechtskonvention oder dem Grundgesetz eingegangen ist.
Dabei wird aber ausgeblendet, dass die Menschenrechte weder moralisch noch politisch einen festen Boden bereitstellen. Das ist kein Grund, sich von ihnen abzuwenden, aber sich bewusst zu werden, dass ihr Gehalt selbst Produkt politischer Kämpfe ist und zu fragen: Wie kann eine Menschenrechtspolitik aussehen, die sich nicht in der Anklage staatlicher Doppelmoral erschöpft? Was wäre ein produktiver Umgang mit den Paradoxien der Menschenrechte? Im Folgenden einige Überlegungen, um einer Antwort näherzukommen.
Entstanden ist der Begriff Menschenrechte als Begründung für Bürgerrechte. Ausdruck findet dieser Zusammenhang schon in der Überschrift der französischen »Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte« von 1789. Dass Menschenrechte auch für Nicht-Bürger durchgesetzt werden, war nicht mitgedacht. Nichts anderes stellt der Philosoph Omir Böhm (2015) fest, wenn er im vergangenen Oktober in der Zeit schreibt, dass »die gegenwärtige Krise uns vor ein grundlegendes Dilemma des modernen politischen Denkens stellt – ja sogar des modernen Liberalismus. Wir stehen vor einem Problem, das wir erfolgreich verdrängt haben, nämlich unsere unzulängliche Verständigung darüber, was eigentlich Menschenrechte sind«.
Doch es wird keine abschließende theoretische Verständigung geben. Wer sollte sie herbeiführen? Der Inhalt der »natürlichen, unveräußerlichen und heiligen Rechte der Menschen«, wie es in der Erklärung von 1789 heißt, ist und bleibt umstritten und wandelbar, ein Produkt von politischen Auseinandersetzungen. Die heutigen Menschenrechte sind längst nicht mehr die der Französischen Revolution. Zwar gibt es einen vergleichbaren Rahmen, wie ihn der Nationalstaat für die Bürgerrechte bietet, nach wie vor nicht. Aber immerhin gilt seit 1967 die Genfer Flüchtlingskonvention, die Flüchtlingen ein Minimum an Rechten garantieren soll, ohne Beschränkung. Und die völkerrechtlich verbindlichen Menschenrechtsabkommen, insbesondere der Zivil- und Sozialpakt von 1966, geben theoretisch auch MigrantInnen, die nicht unter die Genfer Flüchtlingskonvention fallen, umfassende Rechte.
Menschenrechte nach 1945
Als Ausgangspunkt des heutigen Menschenrechtsaktivismus gilt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948. Es scheint im Rückblick eine List der Geschichte, dass sich die Gründungsstaaten der Vereinten Nationen auf einen solchen umfassenden Katalog politischer und sozialer Rechte einigen konnten.
Dass eine Menschenrechtskomponente in das neugeschaffene UN-System integriert wurde, war offenbar öffentlichem Druck geschuldet. Denn vielen Diplomaten der Großmächte schwante, dass die Verpflichtung auf Menschenrechte einmal eine unangenehme Sprengkraft entwickeln könnte. So warnte etwa das britische Colonial Office, würde die UN Menschenrechtseingaben zulassen, könne das »Kolonialreich als Ganzes einer äußerst schädlichen Kritik ausgesetzt werden« (zit. nach Eckel 2014: 106). (1)