Anfang der 1990er Jahre ist hierzulande die einst handlungsmächtige Internationalismus- bzw. Dritte-Welt-Solidaritätsbewegung buchstäblich kollabiert. Verantwortlich war zum einen der Epochenbruch von 1989 samt seiner rassistischen Fernwirkungen im wiedervereinigten Deutschland, zum anderen die neoliberale Globalisierungsoffensive, die seinerzeit begonnen hatte, rund um den Globus gesamtgesellschaftliche Kräfteverhältnisse spürbar zu verschieben. Hinzu kam, dass sich die Internationalismusbewegung zunehmend innerlinker Kritik ausgesetzt sah. Wichtige Schlagworte lauteten ›simplifizierende Gut-Böse-Weltbilder‹, ›Fetischisierung des bewaffneten Kampfes‹, ›Solidaritäts-Hopping‹ oder ›fehlender Bezug auf soziale Auseinandersetzungen im Norden‹. Die Benennung dieser und weiterer Irrtümer war zweifelsohne berechtigt, ja notwendig. Und dennoch mutierte die Kritik oft zum Zerrbild – mit der Konsequenz, dass die facettenreiche Geschichte internationalistischer Solidarität auf einige ihrer schlimmsten Auswüchse zusammenschnurrte: beispielsweise auf die Flugzeugentführung von Entebbe im Jahr 1976, bei der unter Beteiligung der RZ-Gründungsmitglieder Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann ausschließlich jüdische Passagiere als Geiseln genommen wurden. Präziser: In der stark antideutsch bzw. antinational geprägten Debatte wurde geflissentlich ausgeblendet, dass die Internationalismusbewegung ihre Praxis bereits in den 1980er Jahren selber auf den Prüfstand gestellt und zahlreiche Häutungs- und Transformationsprozesse durchlaufen hatte (vgl. Balsen/ Rössel 1986). Ganz zu schweigen davon, dass bereits 1994 mit Beginn des Aufstands der Zapatistas in Mexiko ein neuer Zyklus transnationaler Solidarität entstanden war.
Doch warum die Darstellung der alltäglichen Arbeit eines transnationalen Netzwerks wie Afrique-Europe-Interact mit einer derartigen Rückblende beginnen? Die Unterstützung nationaler Befreiungsbewegungen mag sich zwar aus strukturellen und politischen Gründen erledigt haben, die Frage, wie eine gleichberechtigte Kooperation zwischen südlichen und nördlichen Basisbewegungen aussehen kann – jenseits romantisierender Projektionen, paternalistischer Dominanzen oder unverbindlicher Kurzzeitkontakte –, stellt sich allerdings unverändert. Insofern bildet auch der weitgehende Zusammenbruch internationalistischer Strukturen eine schwere Hypothek, gerade im Falle Afrikas, das unter internationalistischen Vorzeichen immer schon im Schatten Lateinamerikas gestanden hat. Denn die ohnehin beschränkten kollektiven Wissens- und Erfahrungsschätze sind dadurch weitgehend verloren gegangen.
Afrique-Europe-Interact (AEI) ist ein kleines, 2009 entstandenes Netzwerk, an dem von afrikanischer Seite insbesondere BasisaktivistInnen in Mali beteiligt sind, vereinzelt auch in Burkina Faso, Togo, Marokko und der Demokratischen Republik Kongo. In Europa liegt der personelle Schwerpunkt in Deutschland, Österreich und den Niederlanden, wobei ungefähr ein Drittel der Beteiligten ursprünglich aus afrikanischen Ländern stammt. AEI hat von Anfang an eine Doppelstrategie verfolgt: Einerseits Verteidigung der Rechte von Flüchtlingen und MigrantInnen – insbesondere auf ihrem Weg nach Europa. Andererseits Fokussierung auf die strukturellen Hintergründe von Flucht und Migration und somit auf jene Kämpfe, die sich gegen die Zerstörung von Existenzgrundlagen wenden – ob in der Stadt oder auf dem Land. Entsprechend breit aufgefächert – und meist am Rande der zeitlichen und mentalen Überforderung – ist die von AEI bearbeitete Themenpalette, auch wenn sich in letzter Zeit mehrere Schwerpunkte herauskristallisiert haben: Erstens Landgrabbing, zweitens die politische und soziale Krise in Mali, drittens das EU-Grenzregime im Mittelmeer (dies insbesondere in Kooperation mit tunesischen Basisinitiativen), viertens Beteiligung an lokalen Flüchtlingskämpfen in Europa und fünftens – gleichsam als Dauerthema – die finanzielle Unterstützung der afrikanischen Seite von AEI durch Umverteilung aus Europa im kleinen Stil. Und doch, so dynamisch das ausschließlich ehrenamtlich arbeitende Netzwerk anmuten mag: AEI stellt eine äußerst fragile Angelegenheit dar, die mit vielfältigen, überwiegend sachlich begründeten Schwierigkeiten zu kämpfen hat.
Stichwort Selbstorganisierung
Wenn es um die Zusammenarbeit mit afrikanischen Basisinitiativen geht, ist die Rede von der »Partnerschaft« nicht weit: Ob durch afrikanische Gruppen, die europäischen AktivistInnen nahezu pausenlos Partnerschaften antragen wollen, oder durch freundliche Erkundigungen hierzulande, wer denn unsere »Partner in Afrika« seien. Derlei (An-)Fragen sind jedoch keineswegs unschuldig, sie atmen vielmehr den paternalistischen Geist der von NGOs und Hilfswerken mehrheitlich verkörperten Hilfsindustrie. Demgegenüber setzt AEI erklärtermaßen auf die Stärkung politischer Selbstorganisierungsprozesse in Mali und anderswo – inklusive finanzieller Unterstützung von Demos, Konferenzen und anderen Aktivitäten. Wie ungewöhnlich dies ist, zeigt nicht zuletzt die regelmäßig gestellte Frage, ob es nicht sinnvoller wäre, das Geld in Brunnen oder ähnliche Infrastrukturprojekte zu stecken. Solche Zweifel ereilen mitunter auch AEI selbst, und zwar immer dann, wenn eine Aktion Schiffbruch erlitten hat wie zum Beispiel ein Friedensmarathon vergangenes Jahr in Mali. Hintergrund dürfte sein, dass politischer Aktivismus mit Afrika kaum in Verbindung gebracht wird. Und das natürlich auch deshalb, weil soziale Bewegungen seit der Unabhängigkeit immer wieder gezielt sabotiert wurden – teils durch Errichtung westlich gestützter Diktaturen, teils als willkommener Kollateralschaden neoliberaler Strukturanpassungsprogramme von IWF und Weltbank, die seit Mitte der 1980er Jahre in Afrika eine Schneise sozialer, ökonomischer und politischer Verwüstung geschlagen haben. Um so mehr gilt es im Blick zu behalten, wie fragil politischer Aktivismus in einem Land wie Mali auch heute noch ist. Gerade unter ökonomisch hochgradig prekären Bedingungen steht dieser dauerhaft unter Vorbehalt: Leute werden krank, ohne Zugang zu Gesundheitsversorgung zu haben, oder die Mühen des alltäglichen Überlebenskampfes nehmen sämtliche ihrer Ressourcen in Beschlag. Hinzu kommen kommunikative Barrieren im transnationalen Austausch. Nur die wenigsten AktivistInnen in Mali können lesen und schreiben, und allenfalls ein Drittel der Bevölkerung spricht halbwegs fließend französisch – wobei ausdrücklich darauf hingewiesen sei, dass europäische AktivistInnen ohne afrikanischen Hintergrund sich so gut wie nie in einer afrikanischen Sprache verständigen können. Kurzum: Transnationale Kooperation wäre ohne regelmäßigen Face-to-face-Kontakt, d.h. ohne intensive Beziehungsarbeit, schlicht nicht möglich.
Stichwort Dringlichkeit
Ähnlich wie bei selbstorganisierten Flüchtlings- oder Arbeitskämpfen in Europa ist in der transnationalen Organisierung mit afrikanischen Basisinitiativen der Druck im politischen Kessel hoch. Bei den von afrikanischer Seite beteiligten AktivistInnen handelt es sich überwiegend um Leute, die als Bauern und Bäuerinnen, als MigrantInnen oder als BewohnerInnen von Bürgerkriegsgesellschaften akuten Handlungsbedarf haben. Nicht nur müssen kurzfristig und unter beträchtlichem Zeitdruck komplizierte Kommunikations-, Entscheidungs- und Geldüberweisungsprozesse transnational bewältigt werden. Beide Seiten müssen außerdem einen Umgang mit dem gravierenden Ressourcengefälle zwischen südlichen und nördlichen AktivistInnen finden: In welchem Ausmaß bin ich bereit (um es aus europäischer Perspektive zu formulieren), eigene materielle, zeitliche und psychosoziale Sicherheiten und Privilegien aufzugeben und mich in unübersichtliche Konfliktdynamiken hinein zu begeben, und wo mache ich das allein deshalb nicht, weil ich sonst selber in Nöte käme (wenn auch auf anderem Niveau) und folglich kein verbindliches Gegenüber mehr darstellen würde? Wie auch immer die Antwort ausfällt, unstrittig ist, dass transnationale Arbeit ohne die Bereitschaft zum Powersharing, das heißt zur empathischsolidarischen Bezugnahme auf die Interessen anderer, nicht möglich wäre – wobei es sich von selbst verstehen dürfte, dass dies nicht damit einhergehen sollte, Dankbarkeit oder gar erweiterte Mitspracherechte zu erwarten.1