Das ist politisch unverzichtbar, weil es sich auf die aktuellen sozialen Auseinandersetzungen und den Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit bezieht. Aber das ist auf lange Sicht zu bescheiden. Ohne eine Transformationsperspektive, durch die Erfahrungen im Kapitalismus zu handlungsmotivierenden Erwartungen mit sozialistischer Perspektive geraten, verspielt die Linke ihre potenziell hegemoniale Anziehungskraft. Man könnte auch sagen, sie gibt damit ihren Sinngenerator auf, letztlich mit dem Resultat, dass die vermeintlichen »Realos« unter ihnen als Verantwortungsethiker für das Soziale in der Marktwirtschaft zuständig sein dürfen, während die anderen als gesinnungsethische »Fundis« ausgegrenzt werden.

DREI ARGUMENTATIONSSTRATEGEME DISKURSIVER ENTSORGUNG

In der Vergangenheit wurde versucht, marktgläubig die Alterssicherung, das Gesundheitsund Bildungssystem wie überhaupt die »öffentlichen Dienste« zu privatisieren und das neoliberale Leitbild des »unternehmerischen Selbst« (Ulrich Bröckling) durchzusetzen. Das wird heute weniger forsch vorgetragen. Auch wenn die Meinungsführerschaft des Neoliberalismus schrumpft, die Deutungsmacht der Linken wächst keineswegs dementsprechend. Gemessen an dem Ausmaß der Krise und einem gewissen Mentalitätswandel – »Greed gives way to a re-evalution of what is necessary in life«, titelt die New York Times (Rampell 2009) – könnte man eher sagen: im Gegenteil. Woran liegt das? Plausibel, aber konstellationsanalytisch unzureichend wirkt die Erklärung, dies sei das Resultat einer erfolgreichen diskursiven Entsorgung der Krise durch die politische Klasse und den Medienapparat. In der Tat, diejenigen, die gestern die Deregulierung der Finanzmärkte politisch ermöglichten, stellen sich in den Medien heute erfolgreich als Politiker dar, die diese Märkte regulieren wollen; die Marktgläubigen, die gestern noch den Rückzug des Staates predigten, geben sich nun als besorgte Mahner, die auf den Staat setzen, um das »Kasino« zu schließen, um »systemisch« wichtige Banken zu sanieren und um Arbeitsplätze zu retten. Beim Geschäft der diskursiven Entsorgung tauchen immer wieder drei bewegliche Argumentationsstrategeme auf, die in unterschiedliche fachliche, publizistische und mediale Verwendungsgeschichten einrücken können und denen der herrschende Modus der Kritik zusätzliche Energien verleiht. Sie kursieren in Bild und im Edelfeuilleton, in Talkshows und in Wirtschaftsmagazinen. Sie unterstützen Politiker, »Wirtschaftsweise« und besonders die Schönredner unter den Medienleuten bei der rhetorischen Krisenbewältigung. Das Strategem Begriffspolitik greift verstärkt auf Wert- und Identifikationsbegriffe zurück, die ehedem von der Linken benutzt wurden. Es beschwört Solidarität, Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Verantwortung; es beklagt Eigensinn, Gier, Konsumorientierung und Ökonomisierung. Alle müssen nun zusammenstehen, ihr Leben ändern, umdenken und sich auf Einschnitte einstellen. So entsteht der Eindruck eines grundsätzlichen mentalen Wandels – »A Change in Values« (The New York Times vom 18.5.2009). Dort heißt es, so als wäre Lothar Kühne der neue Chefredakteur: »the economic downturn is forcing a return to a culture of thrift«. Grün und bescheiden geben sich heute alle. Also keine systemischen Zurechnungen. Dafür sorgt auch das zweite Strategem: die Problemlösungsverheißung. Sie verleiht der Kritik am Kapitalismus eine Bestandsgarantie für den Kapitalismus und sichert zugleich der Begriffspolitik die nötige Zukunftsgewissheit. Zwar wird immer wieder von der »systemischen Bedeutung« der zu rettenden Banken gesprochen, aber seltener von der Bedeutung des Systems. Es wird viel über die »dummen, ungerechten und moralfreien« Märkte geklagt, aber das Beklagte wird nicht dem kapitalistischen System zugerechnet – auch in sich kritisch gebenden Texten, die behaupten: »Die Marktwirtschaft ist nicht alternativlos«. So der an der Universität Witten/Herdecke »Führung und Organisation« lehrende Fritz B. Simon in der FAZ (2009). Die FAZ hat für die diskursive Entsorgung der Krise sogar eine eigene publizistische Plattform mit dem Generalthema »Die Zukunft des Kapitalismus« geschaffen. Simons Titel verspricht: »Der Untergang findet nicht statt«. Die Probleme, »für die unser gegenwärtiges Wirtschaftssystem eine Lösung bietet«, müssen auch in Zukunft gelöst werden: »die Produktion und Verteilung von Gütern, insbesondere von Gütern, die für das individuelle wie kollektive Überleben der Menschen notwendig sind. Der Kapitalismus ist, so betrachtet, nicht Problem, sondern Lösung – wenn auch eine Lösung, die neue Probleme schafft«. Neue Probleme, so könnte man hinzufügen, die dann wiederum »Querdenker« diskursiv entsorgen, indem sie einzelne Probleme thematisieren und den Problemverursacher zum Problemlöser erklären. Das dritte Strategem – die Personalisierung/Moralisierung – verleiht der Problemlösungsverheißung ihr Gesicht. Die »erbarmungslosen Heuschrecken«, der »gierige Ackermann«, der »größenwahnsinnige Wiedeking«, der »Schwindler Madoff« – das mag ja zutreffen – aber damit wird die strukturelle Determination der Akteure als Träger von Profitlogiken wegrhetorisiert. Sie erscheinen so nicht als Personifikation ökonomischer Kategorien und Interessen, sondern vorrangig als konkrete Personen, die als Freunde, Mitsegler oder Rotarier durchaus hilfsbereit sein mögen, die es aber als »ökonomische Charaktermasken« nicht sein dürfen. Der Effekt liegt auf der Hand: Je stärker einzelne »Führungskräfte« als Bösewichte eingedunkelt werden, umso heller können andere »Führungskräfte« in die Koalition der Problemlöser aufgenommen werden. Das sind dann die bescheidenen, sozial-verantwortlichen »Macher« wie Rüdiger Grube von der Deutschen Bahn oder wie Götz Werner, der anthroposophisch-ganzheitliche Drogist, jene also, die Arbeitplätze sichern und sich für das Gemeinwohl abarbeiten. Die Argumentationsstrategeme und ihre semantischen Wiederkäuer profitieren auch vom vorherrschenden Modus der Kritik. Schon in den Lehrplänen wird Kritikbereitschaft allenthalben gefordert. Ihr Lob gehört zur Festtagssemantik sich demokratisch verstehender Gesellschaften. Gleichzeitig drängen institutionell ermächtigte Diskurs-Reglementierungen dazu, das Sagbare zu verknappen und das Kritisierte zu segmentieren. Das einzeln Kritisierte erscheint so nicht mehr als Indikator für das Ganze, sondern es gerät in »isolierter Bestimmtheit« (Hegel) zum reformfähigen Einzelphänomen, um das sich dann Bürgerinitiativen, soziale Bewegungen, Experten, Wirtschaftsethiker u.a. kümmern können. Diese ubiquitäre Partialkritik bedient die Aufmerksamkeitsökonomie der Medien. Ihre Funktion für die demokratische Kultur und für einzelne Problemlösungen sollte nicht unterschätzt werden. Sie eröffnet Handlungsoptionen innerhalb eines eingeengten Handlungsrahmens, zugleich kann sie aber innerhalb der großen Erzählung von der Problemlösung neutralisiert werden. Der herrschende Modus der Kritik verlangt vom Kritiker eine Position, die eine Distanz zur Gesellschaft anzeigt, ohne einen radikalen Abstand gegenüber gesellschaftlichen Verhältnissen einzunehmen. Wie viel Abstand er halten muss, ist (abgesehen von den Arbeiterbewegungsintellektuellen) seit je strittig. »Jede Beschäftigung mit einem Einzel- oder Tagesthema« bedeutet z.B. für den nonkonformistischen Intellektuellen Günther Anders »bereits Abschweifung« und den Verzicht auf das »Allgemeine« und den »Grund« (Anders 1956, 9). Er unterstellt Adorno mit der Scheinfrage, ob eine Doppelexistenz als Gesellschaftskritiker und Professor möglich sei, eine mangelnde Distanz zur Gesellschaft. Was hätte er erst über Jürgen Habermas gesagt, der im Namen der »kommunikativen Vernunft« Adornos Totalkritik an der Moderne, seine pessimistische Stimmung und Praxisabstinenz verwirft und ihm vorwirft, die »Theorie der verwalteten Welt« habe mit ihrer »totalisierenden Ablehnung moderner Lebensformen« zuviel Abstand gegenüber der Moderne, um ihren »höchst ambivalenten Gehalt« zu erfassen (Habermas 1985, 392). Doch zu große Nähe kann die Erkenntnismöglichkeiten zerstören. Für Fritz B. Simon hat die Krise gezeigt, »[d]ass das Überleben des Einzelnen« davon abhängt, ihn in größere soziale Einheiten zu integrieren. Dafür steht das Kollektivsymbol vom Boot, in dem alle Platz nehmen sollen – auch der Kritiker: »Die Wirtschaft ist das Boot, in dem wir alle sitzen. Deswegen müssen wir auch die Löcher stopfen, die seinen Untergang zur Folge hätten.« So wird im Verlauf des Artikels aus dem Kapitalismus die Wirtschaft, aus der Wirtschaft schließlich ein Boot; und in dem Boot mit den gestopften Löchern stellt er schließlich auch die »Sinnfrage«, die da lautet, »Wohin wollen wir mit diesem Kahn fahren?« Ja, so fragt man sich bange, wohin soll es denn gehen; kann auf rauer See ein intellektueller Leichtmatrose helfen?

EINE LINKE OHNE LINKSINTELLEKTUELLE? DEMOTIVIERENDE ENTTÄUSCHUNGSERFAHRUNGEN

Die diskursive Entsorgung der Krise ist Anzeichen, nicht Ursache für die Deutungsdefizite der Linken. Ehedem waren für den Anspruch auf Hegemonie Linksintellektuelle zuständig. Heute ist ihre Zahl dramatisch geschrumpft, findet doch spätestens seit der Mitte des 20. Jahrhunderts eine »Absorption der Eliten« statt – freilich in eine andere Richtung als von Gramsci angenommen. Seine Analyse der Kräfteverhältnisse zwischen den klassenspezifischen Intellektuellen ging noch davon aus, dass »die Intellektuellen der historisch progressiven Klasse« eine »solche Anziehungskraft« ausüben, »dass sich letztlich die Intellektuellen der anderen Klassen unterordnen« (Gramsci H1, §44, 102). So weit ist es nie gekommen. Aber Tendenzen einer solchen »Absorption der Eliten« gab es in der Vergangenheit durchaus (Abendroth, Brecht, Gramsci, Hobsbawm, Korsch, Lukács, Alfred Sohn-Rethel). Umgekehrt gab es schon immer Enttäuschte, Konvertiten und Renegaten. Belesene könnten darauf hinweisen, dass rasche Positionswechsel zur »occasionellen Ungebundenheit« (Carl Schmitt) der Intellektuellen seit der Romantik gehören. Wordsworth und Coleridge sympathisieren zunächst mit den Ideen der Französischen Revolution und wenden sich in ihrer Spätphase dem orthodoxen Christentum zu. Auch Friedrich Schlegel begrüßt zunächst die Französische Revolution, aber er konvertiert zum Katholizismus und tritt in den Dienst der Restaurationspolitik Metternichs. Und Victor Hugo war nacheinander Anhänger der Restauration, Liberaler, Republikaner und Sozialist. Positionswechsel von Intellektuellen, die sich vorübergehend vom Projekt Sozialismus/ Kommunismus angezogen fühlen, sind so alt wie das Projekt selbst. Gegenläufige Absorption der Eliten meint jedoch etwas anderes als solche für die Geschichte der Intellektuellen normalen Positionswechsel. Für die DDR hat Werner Mittenzwei (2001) die Desillusionierung, Distanzierung und Vergleichgültigung der Intellektuellen gegenüber dem Projekt Sozialismus/Kommunismus in seiner Studie über die Intellektuellen in Ostdeutschland 1945–2000 analysiert. Im Westen setzt schon vor der Postmoderne ein Abschied von der großen Erzählung, vom Klassenkampf, vom Wahrheitsanspruch der Partei und der kommunistischen Verheißung ein. Das gründet in langfristig nachwirkenden Enttäuschungserfahrungen, deren demotivierende Kraft verständlich wird, wenn man die Fallhöhe von den hoch gestimmten Erwartungen aus bemisst und sich die historischen Tatbestände vergegenwärtigt. Dazu zählen der stalinistische Terror, die Niederlagen gegenüber dem Faschismus, Demokratiedefizite, Gängelungen, ritualisierte Scheindiskussionen und ein dogmatisch eingefrorener Marxismus, schließlich die Implosion des realexistierenden Sozialismus. Überhaupt enttäuschte die Arbeiterklasse, wenn sie die Rolle des historischen Subjekts nicht so ausfüllte, wie sie es eigentlich sollte. Schließlich entfaltete der Kapitalismus, »die schicksalsvollste Macht unseres modernen Lebens« (Max Weber), eine Dynamik, die ihn eben nicht als letzte antagonistische, »absterbende« Gesellschaftsformation, sondern als eine überlegene Gesellschaft erscheinen ließ. Von innen gesehen: überlegen im Sinne von früher und heute; von außen gesehen: überlegen im Sinne von hier und dort. Einen weiteren Faktor für die Deutungsdefizite der Linken bilden neue Techniken der flexiblen Integration, Einigkeitsdiskurse und Konsensrituale, die Diffusion und Unkenntlichkeit von Macht- und Repressionsmechanismen – offenbar ist die Lage komplizierter geworden. Die pluralistischen Diskurspolizisten in den Medienanstalten, Redaktionen, Universitätsgremien oder Förderinstitutionen verknappen nicht nur das Sagbare, sondern auch die Einnahmequellen. Ohne Rückhalt in den Organisationen der Arbeiterbewegung (wie ihn etwa noch während des Kalten Krieges Leo Kofler fand) wird es zunehmend schwieriger, im (Kompliment an Dietmar Dath oder Werner Rügemer) Wissenschafts-, Medien- und Kulturbetrieb zu überleben. Umso verlockender die möglichen Pfründe (beim Sender, beim Verband, in der Partei oder gleich als Lobbyist) für die Geläuterten.

EIN NEUER ERWARTUNGSHORIZONT

Aber die Wirkungsmöglichkeiten haben sich inzwischen auch verbessert. Die hegemonial erzeugte Alternativlosigkeit im Namen des Sachzwangs erodiert, offener wird der Erwartungshorizont und die Einsicht wächst, man lebe nicht in der besten aller möglichen Welten (Slavik 2009). Den offenen Erwartungshorizont indiziert der veränderte Status der Begriffe Kapitalismus und Sozialismus. Vorgestern war Kapitalismus noch ein Unwort, wer es benutzte, von dem ging ideologischer Mundgeruch aus. Heute kursiert der Begriff in den Medien – seltener als analytische Kategorie, eher als Anpassung an den westlichen Sprachgebrauch. Aber immerhin, das Potenzial dieser kleinen Verschiebung im Sprachhaushalt wird deutlich, wenn man bedenkt, dass zugleich der Wertbegriff »Sozialismus« keineswegs verschlissen ist (Petersen 2007, 5). Dieser demoskopisch valide Attraktivitätsbefund sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass mit dem Begriff unterschiedliche Erwartungen verbunden sind. Aber es gibt einen kleinsten semantischen Nenner: Die Berufung auf den Sozialismus artikuliert ein Unbehagen an der Gegenwart und Hoffnungen auf eine bessere Zukunft; sie beendet die semantische Herrschaft von Sachzwang und Alternativlosigkeit; sie immunisiert gegen das Versprechen, Armut, Herrschaft, Unterdrückung und Umweltzerstörung könnten marktkonform beseitigt werden. So wird eine Kritik möglich, die Neutralisierungen erschwert. Diese veränderte Konstellation bietet große Chancen für eine neue »Mosaik-Linke« (HansJürgen Urban), Sozialismus als Identifikations- und Motivationsbegriff wieder zu beleben. Für sie sollte der Begriff unverzichtbar werden. Er schärft den Blick auf Verhältnisse und Verhaltensweisen, die Emanzipationsansprüche blockieren oder die diese konsumistisch durch »mobile Privatisierung« (Raymond Williams) sedieren.

DER SINNGENERATOR

Ohne programmatische Überschüsse wird der offene Erwartungshorizont wieder schrumpfen. Deshalb braucht die Mosaik-Linke einen imaginativen Sinngenerator, der ihren Energien eine neue Qualität verleiht; einen Sinngenerator, der eingesetzt wird, wenn es um den Zusammenhang von Gesellschaftsanalyse, Programmatik und Praxis geht. Seine Aufgabe besteht darin, die nötige philosophische und gesellschaftsanalytische Reintellektualisierung der Linken zu fördern, ihre große Erzählung mit Wahrheitsanspruch zu aktualisieren und schließlich eine Weltdeutung mit Handlungsanbindung zu befördern. Man könnte den Sinngenerator als eine regulative Idee bezeichnen. Ohne politische Akteure, die ihn nutzen, existiert er nicht, und ohne seine Ausrichtung auf den Zusammenhang von Gesellschaftsanalyse, Programmatik und Praxis produziert er keinen Nutzen für diese Akteure. Ein solcher Sinngenerator stabilisiert und steigert analytische und politisch-normative Zielsetzungen. Er soll einer notwendigen Transformationsperspektive Energie verleihen. So wird auch verhindert, dass Kapitalismuskritik lediglich eine »Option ist, die man vor der Wahl answitchen und nach der Wahl wieder ausswitchen kann« (Clemens Knobloch). Er stimuliert Debatten, er bündelt und potenziert die politischen Energien der Parteien, Gewerkschaften und Bewegungen. Er ist offen für unterschiedliche Wissensbestände, für alltägliche Erfahrungen und Erwartungen, für kulturkritische und wissenschaftliche Befunde, und die Arbeit an ihm löst die szientistische Hierarchie der Wissensformen auf. Mit ihm werden gesellschaftsanalytische Befunde produziert, durch deren Attraktivität neue Trägerschichten angesprochen und den Individuen handlungsmotivierende Einsichten vermittelt werden. Keine Zentrale darf über ihn verfügen. Jeder kann an ihm arbeiten und von ihm profitieren. So genannten Pragmatikern mag die Idee des Sinngenerators als akademisches Gespinst erscheinen. Doch alle Parteien, Bewegungen oder Institutionen brauchen motivierende Leitideen und weltdeutungsfähige Einsichten. Verlieren sie solch symbolische Überschüsse, so verlieren sie, wie es der Parteienforscher Franz Walter nennt, ihre »Sinnzentrale« und damit »eine spezifische Sozialmoral, einen motivierenden Ethos, eine normative, eine orientierende Weltanschauung aufs Ganze« (Walter 2009). Mit ihren »Sinnzentralen« verlieren gegenwärtig nicht nur die »großen Volksparteien« an Integrationskraft. Die Arbeiterbewegung hat ihre Sinnzentrale längst verloren. Und ohne die Mitarbeit an dem imaginativen Sinngenerator dürfte die Linkspartei, sozusagen in der Miniaturvariante, das Schicksal der SPD erleiden. Man könnte die Funktion eines solchen Sinngenerators in der Geschichte der Aufklä- rung, des Liberalismus (bis zum »Ende der liberalen Ära« um 1880) oder des neuhumanistischen Bildungsideals zeigen. Besonders wichtig war er für die Arbeiterbewegung im späten 19. und im 20. Jahrhundert mit ihrem hochgestimmten Ziel »Sozialismus/ Kommunismus«. Sie beanspruchte unter Berufung auf den Marxismus oder den Marxismus-Leninismus die richtige Einsicht in den gesetzmäßigen Verlauf der Geschichte und in die Struktur der Gesellschaftsformationen. Daraus entstand – quasischolastisch unter Rückgriff auf die Schriften der »Klassiker« – ein Anspruch auf Allzuständigkeit mit gelockerten Realitätskontakten und eingeschränkter Lernfähigkeit. Man nannte das »wissenschaftlichen Sozialismus«. Es mag nicht überraschen, dass dieser Begriff im Unterschied zum Begriff Sozialismus verbraucht ist. Mit ihm werden Dogmatismus, Parteihochschule und »mehr Antworten als Fragen« konnotiert. Diese Diskreditierung kann nicht die Absage an die nötige Theoriearbeit der Linken legitimieren. Im Gegenteil. Gerade eine »Verwissenschaftlichung des Sozialen« würde der Mosaik-Linken einen »langen Atem« über die notwendigen sozialen (Abwehr)Kämpfe hinaus verleihen; sie könnte eine neue intellektuelle Attraktivität und Deutungsgewinne erlangen; und sie könnte verhindern, dass der »neue Geist des Kapitalismus« (Boltanski/ Chiapello 2003) die gegen den Kapitalismus gerichtete Kritik wiederum vereinnahmt. Der Ausdruck Weltanschauung hat längst Patina angesetzt. Aber für den Sinngenerator ist eine orientierende Weltdeutung unabdingbar. Freilich braucht sie im Unterschied zu religiösen, esoterischen oder lebensreformerischen Varianten eine komplexe Begründung. Deshalb ist eine gesellschaftsanalytische Reintellektualisierung geboten, die an die Marxsche Theorie anknüpft, die zugleich aber erfahrungsoffen in einer »dialektischen Kommunikation« (Adorno) andere Theorien wahrnimmt, anerkennt und aufhebt.

DER GEBRAUCHSWERT

Nur wer gesellschaftlich etwas will, sieht etwas. Dieses Wollen hat immer einen eher begründungsschwachen normativen Kern. Das gilt auch für die Marxsche Theorie.1 Als nach 1989 die weltweite Unordnung ihre neoliberalen Siege feierte, mahnte Jacques Derrida: So billig wird man die Gespenster von Marx nicht los (1995). Seitdem wurde er so oft tot gesagt, dass er schon wieder lebendig wirkt. Warum eigentlich? Es ist hinlänglich bekannt: Die »Kritik der politischen Ökonomie« analysiert die strukturelle Determination der Individuen innerhalb der kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Überlesen wird aber: Sie kann diesen Nachweis nur erbringen, indem sie die Individuen unterschiedlich bestimmt: Als Verkäufer der Ware Arbeitskraft sind sie Strukturelemente des Systems und sie werden zugleich auch als autonome Individuen gedacht, deren Lebensansprüche im Widerspruch gegen das System stehen. Die Marxsche Theorie ist durchaus offen für individuelleErfahrungen und Erwartungen. Aber im Unterschied zur späteren Phänomenologie des Alltags geht es ihr nicht um den »sinnhaften Aufbau der Welt« aus Sicht der Subjekte, sondern um die Analyse der Determination der Subjekte durch die Produktionsverhältnisse. Und dennoch werden trotz dieser systemischen Perspektive die Erfahrungen und Erwartungen der Subjekte nicht übergangen. Gerade indem die Marxsche Theorie Gesellschaftsanalyse und emanzipatorische Verheißung miteinander verbindet, indem sie den Verlauf der Geschichte, den Zustand der Gesellschaft und eine bessere Zukunft thematisiert, konnte sie ehedem als große Erzählung mit Wahrheitsanspruch popularisiert und propagiert werden. Den Anspruch auf eine große Erzählung mit Wahrheitsanspruch sollte sich die Linke allerdings weder von der Postmoderne noch von der Bundeszentrale für politische Bildung ausreden lassen. Ohne ihre große Erzählung von der möglichen besseren Welt ohne Kapitalismus keine politisierende Kraft über die »Sinn-Provinzen« des Alltags (Sport, Verein, Familie) hinaus; ohne sie keine Verbindung von individueller Lebensperspektive und Universalisierung. Die Unterstellung, große Erzählungen seien allesamt totalitär, blendet aus, dass solche Erzählungen als mythische, religiöse oder aufklärerische zur conditio humana gehören. Entscheidend freilich ist, welch aktuelle Erkenntnispotenziale solche Erzählungen haben und wie mit ihnen umgegangen wird. »Ohne Wahrheitsanspruch keine Toleranz«, so der Philosoph Panajotis Kondylis, und es wäre nett, so könnte man hinzufügen, wenn sich auch alle daran halten würden. »Es geht wohl anders, als du meinst« – die Individuen erhalten durch die große Erzählung nicht nur ein Bewusstsein von der Differenz zwischen ihrem Lebenslauf und den Möglichkeiten des Lebens, zwischen ihrer Lebenszeit und der Zeit zum Leben, sondern sie erhalten auch eine Erklärung dafür, warum der »stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse« ihren Lebensmöglichkeiten, ihren Sehnsüchten, Wünschen und Begehren entgegensteht. So funktioniert der Sinngenerator auch als »Biographiegenerator«,2 durch den handlungsfähige politische Identitäten entstehen. Für diese Selbstpositionierung in der Welt und der Geschichte bildet die große Erzählung mit Wahrheitsanspruch eine kognitive Ressource. Daraus entsteht gegen die »Anrufung« von Massenmedien, Kirchen, Universitäten oder Schulen eine »Weltdeutung mit Handlungsanbindung«. Sie organisiert individuelle Sinngebung und symbolische Vergesellschaftung, die Bedeutung der Vergangenheit (Gedächtnispolitik), die Erfahrungen der Gegenwart und die Erwartungen an die Zukunft und sie generiert mit ihren programmatischen Überschüssen eine spezifische Sozialmoral und politische Handlungsmotivation. Ohne einen Sinngenerator wird die Mosaik-Linke scheitern: in Grüppchen und Zirkel zerfallen, in ihrem Kritikvermögen eingeschränkt und politisch neutralisiert werden. Und auch die Partei Die Linke wird ohne einen Sinngenerator das Schicksal der Volksparteien erleiden, ohne überhaupt erst Volkspartei geworden zu sein. »Sozialisten müssen mit langem Atem die Perspektive der um Krümel Kämpfenden weiten« (Dath 2008, 123) – dafür brauchen sie einen Sinngenerator.  

LITERATUR

Anders, Günther, 1956: Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München Bollenbeck, Georg, 1976: Zur Theorie und Geschichte der Arbeiterlebenserinnerungen, Kronberg Ders., 2007: Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günther Anders, München Boltanski, Luc, und Eve Chiapello, 2003: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz Breuer, Stefan, 2006: Max Webers tragische Soziologie, Tübingen Dath, Dietmar, 2008: Maschinenwinter. Wissen, Technik, Sozialismus. Eine Streitschrift, Frankfurt/M Derrida, Jacques, 1995: Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt/M Gramsci, Antonio: Gefängnishefte, Hamburg 1991–2002 Habermas, Jürgen, 1985: Der normative Gehalt der Moderne, in: ders., Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt/M Hahn, Alois, 2000: Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte, Frankfurt/M Mittenzwei, Werner, 2001: Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland 1945–2000, Leipzig Petersen, Thomas, 2007: Der Zauberklang des Sozialismus, in: FAZ vom 18.7.2007, 5 Rampell, Catherine, 2009: A Change in Values, aus The New York Times, abgedruckt in: SZ vom 18.5.2009 Simon, Fritz B., 2009: Der Untergang findet nicht statt, in: FAZ vom 6.8.2009 Slavik, Angelika, 2009: Deutsche zweifeln am Kapitalismus. Eine Studie offenbart: Weltweit sind immer mehr Menschen unzufrieden mit dem Wirtschaftssystem, in: SZ vom 10.11.2009 Walter, Franz, 2009: Im Herbst der Volksparteien? Eine kleine Geschichte von Aufstieg und Rückgang politischer Massenintegration, Berlin

Anmerkungen

1 Vgl. dazu Bollenbeck 2007, 133ff. Denjenigen, die den vermeintlich »nüchternen« Max Weber gegen den »Geschichtsphilosophen« Marx in Stellung bringen, sei gesagt, dass Webers Werk durchaus normativ fundiert ist, vgl. dazu Breuer 2006. 2 Am Beispiel von ca. 300 Arbeiterlebenserinnerungen zeigt diesen Sinneffekt: Bollenbeck 1976. Zu besonderen Medien des »Biographiegenerators« wie Tagebuch, Beichte oder Psychoanalyse vgl. Hahn 2000.