Nam Duy: Du bist – wie ich – in einer Familie aufgewachsen, die es ökonomisch nicht leicht hatte. Wir kommen beide von ganz unten und haben migrantische Herkünfte. Die Grünen stehen eigentlich nicht für ein Lebensgefühl, das unsere Herkunftsfamilien anspricht. Warum organisierst du dich dort?
Sarah-Lee: Dass ich bei der Grünen Jugend gelandet bin, war eher zufällig. Ich war damals 16 und habe den Kapitalismus bereits sehr kritisch gesehen. Hier konnte ich linke Fragen mit anderen jungen Menschen diskutieren, und während die Grüne Partei den Kapitalismus nicht abschaffen will, ist der Jugendverband da anders eingestellt. Wir sind eine handlungsfähige Organisation. Das ist für linke Strukturen keine Selbstverständlichkeit. Es gibt kaum Flügelstreitigkeiten, sondern eine geteilte linke Richtung, und wir sind kampagnenfähig. Bildungsarbeit und Theorie spielen eine große Rolle, ich habe viel zum Materialismus gelernt.
Was heißt das für dich?
Zu uns kommen junge Leute ohne Klassenstandpunkt. Nicht deshalb, weil sie nicht der arbeitenden Klasse angehören würden, sondern weil man uns über Jahrzehnte eingeredet hat, dass das nicht relevant ist. Gerade im linksliberalen Milieu, bei antirassistischen Initiativen wie Seebrücke, Fridays for Future oder im Netzfeminismus stehen Klassenfragen nicht immer ganz oben auf der Tagesordnung. Wenn wir dazu beitragen können, sie durch eine Klassenanalyse anschlussfähiger zu machen an eine Arbeiter*innenbewegung, halte ich das für einen wertvollen Beitrag.
Ging mit deiner Wahl ein Linksruck durch die Grüne Jugend?
Die Schärfung des inhaltlichen Profils vollzieht sich seit vielen Jahren. Ich bin froh, dass man mich damit verbindet, aber es liegt nicht an meiner Person. Es ist ein kollektives Projekt, hinter dem viel Arbeit steckt, gerade auch von vergangenen Generationen der Grünen Jugend. Ich reite sozusagen auf dieser Welle und freue mich, dazu beitragen zu können.
Wie gehst du dann mit den Diskrepanzen zwischen deinen Anliegen und der tatsächlichen Politik um – etwa, wenn mit grüner Beteiligung ein Sondervermögen für Rüstung verabschiedet wird, das all den drängenden sozialen Anliegen den Hahn abdreht?
Als Jugendverband sind wir schnell und deutlich in Opposition zum Sondervermögen gegangen. Das war das einzig Richtige, auch wenn wir viel Gegenwind hatten. Wir haben Aktionen gemacht, uns an Demos beteiligt und viel über die 100 Milliarden geredet. Dass eine Regierungsbeteiligung allein uns nicht retten wird, war eher eine gesunde Erkenntnis für die Grüne Jugend. Dass die Grüne Partei angesichts der Klimakrise weiter Regierungsbeteiligungen anstreben wird, ist verständlich, aber Regieren ist kein Selbstzweck. Nicht jede Regierungsbeteiligung ist sinnvoll, mit diesem Widerspruch müssen wir umgehen. Ich finde es sinnvoll, eine Distanz zur Regierung einzunehmen und dennoch den Handlungsspielraum, den wir als Jugendorganisation haben, nicht aufzugeben.
Ist es nicht trotzdem ein Problem, dass ihr zwar marxistische Diskussionen führt und linke Bildungsarbeit macht, aber auch viele Leute einbindet, die dann ganz andere Positionen mittragen, sobald sie für euch im Parlament sitzen?
Ich sehe den Widerspruch. Beim Sondervermögen konnten sich die Kritiker*innen in SPD und Grüner Fraktion im Vorhinein nicht durchsetzen, noch dazu bei einem Anliegen, das eine gesellschaftliche Mehrheit hatte und vom Kanzler bereits auf der Weltbühne angekündigt war. Man muss sich fragen, wie viel Handlungsmacht, wie viel politisches Kapital man aufgebaut hat, um in einen großen Konflikt zu gehen. Ich nehme es Leuten nicht persönlich übel, wie sie sich hier verhalten haben. Der Handlungsspielraum von Abgeordneten ist begrenzt. Trotzdem hätte ich in der Abwägung eine Nein-Stimme für richtig gehalten.
Aus den südeuropäischen Bewegungsparteien kommt die Idee eines »rebellischen Regierens«. Hätte eine relevante Gruppe innerhalb der Grünen Fraktion gut begründet gegen das Sondervermögen gestimmt, hätte das auch in der Öffentlichkeit einen anderen Akzent gesetzt. Ein großer Teil der Bevölkerung war zwar geneigt, dieser Aufrüstung zuzustimmen, aber es gab auch viele, die große Angst vor Krieg und einer weiteren Eskalation hatten. Selbst innerhalb der parlamentarischen Logik hätte es also andere Optionen gegeben.
Ja, das wäre eine Möglichkeit gewesen. Damit stellt sich die Frage, wie wir uns eigentlich für den nächsten Konflikt aufstellen. Ein Problem war, dass das Sondervermögen auch ohne grüne Stimmen eine Zweidrittelmehrheit hatte und dann durch eine Deutschland-Koalition aus SPD, FDP und Union zustande gekommen wäre. In Konflikten, bei denen die Stimmen der Ampel entscheidend sind, kann das anders aussehen. Wenn die gesellschaftliche Stimmung anders ist, haben linke Abgeordnete einen größeren Hebel für tatsächliche Veränderungen. Wenn etwa die Finanzierungsgrundlage für den Haushalt katastrophal aussieht und es keinen Spielraum für wichtige Maßnahmen im Sozialen und beim Klimaschutz gibt, kann eine Grüne Fraktion eigentlich nicht zustimmen. Da kann die Fraktion eine produktive Rolle spielen. Insgesamt sehe ich durchaus die Gefahr, dass die Regierungsbeteiligung eine Entpolitisierung der Zivilgesellschaft zur Folge hat und den gesellschaftlichen Druck sinken lässt.
Würdest du sagen, dass der Richtungsstreit zwischen einer eher sozial orientierten und einer marktliberalen Ausrichtung der Grünen noch offen ist?
In den letzten vier Jahren haben Robert Habeck und Annalena Baerbock einiges bewegt für die Partei. Gleichzeitig wird so getan, als gäbe es keine Auseinandersetzung mehr, obwohl es die immer gab. Das macht sich vor allem an der Frage fest, welchen Gesellschaftsentwurf man zugrunde legt: Geht es darum, Klima und Wirtschaft in Einklang zu bringen, oder eher Klima und Soziales unter einen Hut zu kriegen? Grüne denken häufig, man könne alle drei Bereiche versöhnen, man könne Arbeitgeber*innen- und Arbeitnehmer*inneninteressen, Mieter*innen- und Vermieter*inneninteressen vereinen – und das schlicht, weil der Partei oft die Klassenanalyse fehlt. Am Ende erreichen sie dann weder das eine noch das andere. Deshalb konnte die Partei auch bei der Bundestagswahl nicht mehr rausholen. Sie hat sich sehr unternehmernah gezeigt, aber am Ende sind Unternehmer*innen nicht blöd, und die FDP hat sie mehr überzeugt. Auch von links hat man sich abgegrenzt – beim Mietendeckel, der Vergesellschaftung und auch beim Klimaschutz wurde abgewiegelt. Dann standen die Grünen allein da. Wenn man sich alle Türen offenhält, fehlt die gesellschaftliche Basis, die einen bei relevanten Forderungen gegen die Kapitalfraktionen unterstützen kann.