Beobachtungen

Wie stark sind die weltweit rund 250 Millionen Migranten von den Auswirkungen der Krise betroffen? Führt die Krise zu mehr oder weniger Migration? Einige Anhaltspunkte kurz skizziert:
 

  • »Die US-Wirtschaftskrise hat das Leben unzähliger illegaler Immigranten zerstört, die nun ihre Länder verlassen wollen oder bereits verlassen haben, […] wegen des wirtschaftlichen Abschwungs und der verschärften Strafverfolgung sind weniger Zuwanderer gekommen, […] Communities in Lateinamerika und der Karibik berichten über sinkende Überweisungen aus dem Ausland« (Alfonso Chardy, Miami Herald 30.11.2008). Allein im ersten Quartal 2008 wuchs in den USA »die Arbeitslosigkeit unter den Hispanics im Bausektor […] mit 6,5 Prozent deutlich stärker als unter Nicht-Hispanics (4,7 Prozent)« (Juan Tornoe, 2.12.2008 bei CNN, AC 360).
  • In Russland werden hunderttausende Arbeitsmigranten aus Zentralasien, dem Kaukasus, der Ukraine und Moldavien entlassen (Spiegel 5.1.2009).
  • In Australien »beschließt die Regierung, die Zuwanderung zu stoppen, sollte sich die wirtschaftliche Situation weiter verschlechtern und die Arbeitslosigkeit steigen« (Radio National Breakfast 27.10.2008).
  • Italien reduziert die Quoten für Arbeitsmigranten in der Produktion, jedoch nicht für Pflegekräfte; derweil haben Japan, Spanien und die Tschechische Republik Rückkehrprogramme eingeführt. In Spanien nehmen arbeitslose Spanier Erntejobs an und verdrängen damit tausende, meist afrikanische Erntehelfer. Diese werden mittellos, übernachten in Bahnhöfen und müssen vom Roten Kreuz versorgt werden (Arte TV 20.12.2008).
  • In Großbritannien erwartet man in diesem Jahr eine Rückwanderung hunderttausender Polen, während andere durch die kaum besseren Aussichten in Polen von einer Rückkehr abgehalten werden (Financial Times 20.12.2008). Arbeitslos gewordene Migranten können sich die Rückreise teils nicht leisten und werden obdachlos, wie in Irland.
  • Weltweit geht der Summe der Geldüberweisungen von Migranten nach Hause zurück (300 Milliarden in 2006, doppelt soviel wie Entwicklungshilfe), dies verschlimmert die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Probleme in den Auswanderungsländern (Stenbäck 2009).
  • Die Zahl der Flüchtlinge ist 2008/9 erstmals wieder angestiegen, während die Zahl derer, die zurückkehren konnten, stark gesunken ist (UNHCR 2009). In Großbritannien, Russland, Italien und anderswo nimmt die ausländerfeindliche Rhetorik zu (Migration Watch, Daily Mail 19.11.2008; siehe Spiegel 1/2009). Weltweit ging im Dezember 2008 der internationale Flugreisendenverkehr um 4,6 Prozent im Vergleich zum Dezember 2007 zurück (IATA 2008). Ebenso kehrten sich im internationalen Tourismus in einigen Gebieten die hohen Wachstumsraten von 2007 (Europa +5 Prozent, Asien +10 Prozent) 2008 ins Negative (Europa und Asien beide –3 Prozent) (WTO 2009).
  • Soziale Unruhen werden aus Russland, Litauen, Rumänien, Griechenland, Island und Großbritannien gemeldet (Spiegel 8.2.2009). Die richten sich überwiegend gegen die jeweiligen Regierungen, doch teilweise geraten auch ausländische Arbeiter ins Visier (Wächter, 11/2/2009).

Kernpunkte

In Folge der Krise – oder der Krisen – werden weltweit überseeische Projekte eingefroren oder abgebrochen, Investitionen auf Eis gelegt und Anlagen von unsicheren Märkten zurückgezogen. Insbesondere der Bausektor bekommt den Abschwung zu spüren: In einigen Ländern wie Spanien, Russland oder der Ukraine ist es zu einem plötzlichen und kompletten Stillstand gekommen. Als Konsequenz fließen die Gelder zurück in die wirtschaftlich führenden Nationen. Die Nachfrage nach Bodenschätzen, industriell gefertigten Produkten, Konsumgütern und Dienstleistungen aller Arten nimmt ab.

Als Reaktion auf die Rezession und das negative BIP, das viele Staaten (einschließlich USA, Russland, Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Ukraine, Süd Afrika usw.) aufweisen, wird die Produktion zurückgefahren, der Verkauf schrumpft, Personal wird freigesetzt, ganze Abteilungen und Fabriken werden verkleinert oder geschlossen.
Einige Branchen sind besonders hart von der Krise betroffen, etwa die Dienstleistungsindustrien, Baubranche, Bergbau, Lebensmittelverarbeitung, die Stahlindustrie, aber auch der internationale Finanz- und Managementsektor. Die Binnennachfrage nach Taxen, Restaurants, Frisören und Büroreinigung sinkt, nicht zuletzt weil deren beste Kunden – die jungen städtischen Angestellten  – zuerst entlassen wurden und nun auf diese Dienstleistungen verzichten. Ebenso können sich die teils hoch verschuldeten Arbeiter- und Mittelklassen solche Dienstleistungen nicht mehr leisten.

Diese Branchen stützen sich besonders auf Arbeit von Migranten. Wenn die Nachfrage nach Dienstleistungen, Bau- oder Bankwesen fällt, sinkt auch die Nachfrage nach hoch- und gering qualifiziertem Personal. In der Folge verlieren einheimische und ausländische Arbeiter und Angestellte – Reinigungskräfte, Bauarbeiter, Bergleute und Textilarbeiter – ihre Jobs. Weil fast alle industrialisierten Länder gleichermaßen in der Krise stecken und überall Arbeitsplätze abgebaut werden, gibt es für die migrationswilligen Arbeiter und Angestellten auch in anderen Ländern kaum noch Arbeit. Weil es auch in den traditionellen Zielländern USA, Kanada, oder Australien keine Arbeit mehr gibt, nimmt beispielsweise die Auswanderung britischer Bürger ab. Andere, die in die südeuropäischen Staaten, vor allem Spanien, ausgewandert sind und dort ihre Arbeit oder ihr Geschäft verloren haben, kehren nun zurück. Das gilt auch für Pensionäre; sie leiden unter dem Kursverfall des Pfundes, können sich ein Leben an der Sonne nicht mehr leisten und kehren zurück bzw. wandern gar nicht erst aus. Unter den mehr als 800 000 britischen Auswanderern in Spanien wird ein Massenexodus erwartet (BBC 24 News 19.1.2009). Für andere mobile Europäer wie Niederländer oder Deutsche gilt dies ebenso. Deshalb werden insgesamt weniger Europäer ins Ausland ziehen, vielmehr werden europäische Arbeits- und Rentnermigranten teilweise zurückkehren, etwa weil sie im Herkunftsland Anspruch auf soziale Leistungen haben.

In Großbritannien trifft die Krise als erste vor allem Leiharbeiter und viele von ihnen sind Migranten, etwa aus Polen. Auch in Deutschland trifft die Krise unverhältnismäßig häufig ›Ausländer‹; so war die Arbeitslosenrate unter ihnen bereits 2007 zweimal so hoch (18 Prozent) wie im Bundesdurchschnitt (9 Prozent), die Diskrepanz nimmt unter dem Einfluss der Krisen weiter zu (IZA 2009). Zusammen genommen haben sich die Bedingungen für Migranten sowohl in den industrialisierten als auch den sich industrialisierenden Ländern verschlechtert. Während insbesondere die temporären Migranten angesichts der düstereren Aussichten zurückgehen, bleiben jene, die sich dauerhaft niederlassen wollten und warten die weitere Entwicklung ab. Auch die Binnenmigration ist von der Krise betroffen. So kehren Arbeiter aus Kiew (Ukraine) oder Shanghai (China) in großer Anzahl in ihre Heimatorte zurück, weil sie dort bessere Möglichkeiten sehen, Phasen der Erwerbslosigkeit durchzustehen. Einige Schwellenländer, wie die Ukraine und die Türkei, werden von der Krise besonders hart getroffen. Es gibt in diesen Ländern kaum sozialstaatliche Absicherungen, und weil die Überweisungen von arbeitslosen Migranten an die zurückgebliebenen Familien zurückgehen, sinken deren Einkommen und damit die Binnennachfrage. Die Armut nimmt zu, und ganze Regionen geraten tiefer in Schwierig-keiten. Auch die Konkurrenz um knappe -Ressourcen wird zunehmen und zu politischen Spannungen beitragen.

In Russland verlieren bis zu einer Million ukrainische Gastarbeiter ihre Arbeit und werden nach Hause geschickt. Zudem fällt auch die Alternative Abwanderung in die EU weg, weil es auch dort keine Jobs mehr gibt und die Visavergabe weiter erschwert worden ist. Gleichzeitig gibt es aber in der Ukraine keine Arbeit mehr. In diesem Fall sitzen die Menschen fest. Sie verfallen entweder in Resignation oder erheben ihre Stimme, gehen also auf die Straße und protestieren gegen diese Bedingungen. Dies kann bis zu sozialen Unruhen unter den Unzufriedenen, Armen und Hungrigen gehen, so jedenfalls die Theorie (Hirschman 1970). Genau dies scheint in Island, Litauen, Rumänien und Russland der Fall zu sein. Besonders in der westlichen Ukraine, traditionell eine Region mit hoher Abwanderung, kann ein Anstieg von Streiks und Protesten beobachtet werden (vgl. Berichte auf www.radioswoboda.org).
Zuwanderungs- und ausländerfeindliche Organisationen in Ungarn, den Niederlanden, Großbritannien und anderswo nutzen die Krise, um ihren Forderungen nach mehr Einwanderungsbeschränkungen neues Gehör zu verschaffen. Einige Gewerkschaften fordern protektionistische Maßnahmen, in Großbritannien beispielsweise mit der Parole »Arbeitsplätze für britische Arbeiter«, die sich gegen die Vergabe von Arbeitsverträgen an ausländische Arbeiter richtet.

Szenarien

Für den Verlauf der Migration unter Krisenbedingungen lassen sich einige Szenarien entwerfen:

 

  1. Migranten kehren in großer Anzahl in ihre Herkunftsstaaten zurück, die globalen Migrationsbewegungen einschließlich transnationaler Migration nehmen ab und kommen – zugespitzt – zum Erliegen.
  2. Arbeitsmigranten, die in ihrem gegenwärtigen Aufenthaltsland erwerbslos werden, sowie Arbeiter, die Jobs in ihrem Heimatland verlieren, versuchen in andere Länder abzuwandern. Dies könnte angeheizt werden durch eine steigende Nachfrage an Niedriglohnarbeit und billigen Dienstleistungen. Globale Migrationsbewegungen von Menschen, die auf der Suche nach einem Auskommen sind, nehmen zumindest in einigen Ländern zu.
  3. Arbeitsmigranten und deren von den Geldüberweisungen abhängige Familien in den Herkunftsregionen werden besonders hart von der Krise getroffen. Die Wirtschaftskrise wird keine Migrationskrise erzeugen, sondern eine Krise der Migranten und ihrer Familien.
  4. Die globale Migration durchläuft einen Transformationsprozess, einige Staaten verhängen Ausreisestopps, andere beginnen mit dem Entsenden oder Aufnehmen von Migranten, und es entstehen neue Entsende- und Zielländer. Während das Gesamtvolumen globaler Migration fortbesteht, entsteht eine neue Migrationsordnung.
  5. Etliche Staaten wenden sich stärker protektionistischen Politiken zu und schränken sowohl den internationalen Handel als auch die Migration ein. Ausländerfeindliche Kräfte nutzen die gegenwärtige Krise für ihre Ziele aus. Das fällt bei einheimischen Arbeitern auf fruchtbaren Boden, die unter der Krise leiden, und Ausländern die Schuld dafür geben. Fremdenfeindlichkeit und Rassismus nehmen zu.
  6. Da Auswanderung nicht länger eine Möglichkeit darstellt, die eigenen Lebensverhältnisse zu verbessern, drücken die Menschen ihre Unzufriedenheit in Form von Protesten aus und es folgt eine Periode sozialer Unruhe.


Aus dem Englischen von Harry Adler.

Der Artikel ist von der Redaktion gekürzt worden. Er basiert auf dem Working Paper “The Crisis and its Possible Impact on Global Migration”
www.age-of-migration.com/na/financialcrisis/updates/1f.pdf