In der Evolution gibt es kein fixiertes Terrain. Es gibt nur Übergänge. Daher ist eine Vorstellung von einem Kapitalismus der »Welt von heute« und eines Sozialismus der »Welt von morgen« – bzw. eines Sozialismus der »Welt von gestern« – wenn wir den roten Sozialismus des »kurzen« 20. Jahrhunderts von 1917 bis 1989 vor Augen haben – wirklichkeitsfremd und geschichtsblind. Übergänge sind immer auch Verzweigungen, die erst die Offenheit der Geschichte ermöglichen und daher auch den Farbwechsel, der sich in den Sozialismuskonzepten erkennen lässt: Der Sozialismus ergrünt, ohne die rote Farbe abzuwaschen.
Nun streben Länder wie Venezuela einen »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« an. Ecuador und Bolivien wollen gesellschaftliche Bedingungen für das »gute Leben« (buen vivir) schaffen. Doch diese Prozesse sind durchaus ambivalent. Denn der Verfassungstext des buen vivir in Ecuador und Bolivien ist nicht gleichbedeutend mit der Verfassungswirklichkeit des »neuen Extraktivismus« (Gudynas 2012), der, so scheint es, Übergänge in das neue, in das »gute« Leben eröffnet. Der »alte« Extraktivismus des 20. Jahrhunderts war von der Rohstoffausbeute durch transnationale Konzerne und dem »säkularen Fall« der Austauschverhältnisse von Rohstoffen und Industrieprodukten (Terms of trade) gekennzeichnet. Die Folge war, dass die Menschen in den Rohstoffländern, von den Angehörigen der »Kompradorenbourgeoisie« abgesehen, immer ärmer wurden, je mehr Reichtümer aus dem Boden geholt wurden. Dieser als »Rohstofffluch« bekannte Sachverhalt scheint sich angesichts steigender Rohstoffpreise umzukehren. Dafür sind sowohl die steigende Nachfrage nach Rohstoffen als auch das knapper werdende Angebot angesichts des Peak-everything (Heinberg 2007) verantwortlich. Peak-everything, das ist der Höhepunkt der Rohstoffausbeute, jenseits dessen eine Steigerung des Angebots nicht mehr möglich und das Ende der Ausbeute absehbar sind. Er verweist auf die Vergänglichkeit einer auf Ressourcenextraktion basierenden Gesellschaft.
Bislang ist es zumindest den »linken« Regierungen in Lateinamerika gelungen, die Macht der transnationalen Konzerne einzudämmen und sich und der Bevölkerung ein größeres Stück vom Kuchen der Rohstoffausbeute zu sichern. Dieser kann für soziale Projekte der ärmeren Bevölkerung verwendet werden. Mindestlöhne werden eingeführt, die Alterssicherung wird verbessert, die Schulbildung gefördert, Universitäten errichtet, Nachbarschafts- und Stadtteilgruppen werden finanziert, Genossenschaften auf dem Lande werden subventioniert, öffentliche Dienste werden wiederbelebt, privatisierte öffentliche Güter re-kommunalisiert oder nationalisiert.
Das ist nicht wenig, aber es geht über den von Raymond Williams (1989, 213ff) so bezeichneten »Sozialismus der Umverteilung«, den ein bedeutender Teil der westlichen sozialistischen Linken im 20. Jahrhundert zu ihrem Programm erhoben hatte, nicht wesentlich hinaus. Tony Judt erinnert kurz vor seinem Tod an dessen historische Bedeutung: »Die erste Aufgabe radikaler Dissidenten besteht heute darin, ihr Publikum an die Errungenschaften des 20. Jahrhunderts zu erinnern – und über die wahrscheinlichen Folgen des leichtfertigen Eifers zu reden, mit dem wir diese Errungenschaften zerlegen. Die Linke hat, um es ganz deutlich zu sagen, etwas zu bewahren.« (Judt 2010)
Das gilt in besonderer Weise für die Natur mit ihren »Rechten«, die man ja als Begrenzungen des menschlichen Handelns interpretieren kann. Diese werden nicht genügend respektiert. Auf die Gesetze der Evolution oder die thermodynamischen Hauptsätze, auf die Mengenbeschränkungen bei erschöpflichen Ressourcen oder auf die Schwellenwerte für toxische Substanzen, auf die »planetary boundaries« (Rockström et al. 2009) nehmen Entscheider im modernen Kapitalismus – vor allem die Akteure auf den globalen Finanzmärkten – keine Rücksicht. Ja, sie dürfen dies gar nicht, weil sie die Renditeziele verfehlen würden. Das ist ein Hinweis darauf, dass die moralischen Ressourcen in einer kapitalistischen Erwerbsgesellschaft aufgebraucht werden und dann eine moralische Ökonomie, die sich angesichts der natürlichen und gesellschaftlichen Restriktionen selbst begrenzt – bzw. in aristotelischer Sprache: unter Beachtung von Maß und Mitte –, errichtet werden muss. Der Übergang zu einer Gesellschaft des buen vivir ist daher historisch notwendig. Dessen Radikalität und daher Dramatik hat die Linke, wie Naomi Klein (2012a/2012b) schreibt, nicht immer verstanden. Die Natur kann nur erhalten werden, wenn radikale gesellschaftliche Änderungen in Angriff genommen werden. Das Überleben der Menschheit hängt davon ab.
»Grüner Sozialismus« jenseits des Fossilismus
Daher ist es nicht überraschend, dass zwei Jahrzehnte nach dem »Ende der Geschichte« der Urheber dieser Parole, Francis Fukuyama, der Aussage zustimmt: »We are All Socialists Now« (in einem Interview in Spiegel-online vom 1. Februar 2012). Auch wenn der reale Sozialismus nicht mehr real ist, der reale Kapitalismus hat keine Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit. Die Finanzkrise ist außer Rand und Band, und sie ist dabei, gleich mehrere Länder in den Staatsbankrott zu treiben und die Europäische Währungsunion in einem gigantischen Kladderadatsch aufzusprengen – mit nicht absehbaren Konsequenzen für die gesamte Welt.
Dieses Endspiel des Kapitalismus, wie wir ihn in Europa kennen, kann weder fortgesetzt noch neu gestartet werden. Es ist vorbei. Das Projekt des Sozialismus des 21. Jahrhunderts hat eine historische Chance. Es muss solidarisch und demokratisch sein, und es muss eine solare, eine nachhaltige Gesellschaft mit erneuerbaren Energieträgern und reduziertem Verbrauch von Rohstoffen, von Land und Wasser sein; denn nur mit diesen Inhalten kann daraus ein hegemoniales und der Zukunft zugewandtes Projekt werden. Anders als der Sozialismus des 20. Jahrhunderts darf sich der grüne Sozialismus des 21. Jahrhunderts nicht den fordistischen Konsummustern und Produktionsweisen verschreiben und damit die implizite Bindung an nicht-sozialistische Standards fortsetzen. Der Zentralismus der Planung und die Verdrängung von Marktbeziehungen ins Informelle sind ebenso zu korrigieren wie der Vorrang der Investitionsgüter- vor der Konsumgüterabteilung. Das ist eine logische Folge des »halben Fordismus«, weil – wie Robin Murray hervorhebt – der Massenproduktion keine Massennachfrage entspricht.
Der ökologische Sozialismus in grünroter Farbe ist nur möglich, wenn nicht mehr möglichst hohes Wirtschaftswachstum in einem letztlich für alle Beteiligten ruinösen Systemwettbewerb angestrebt wird. Das hat Konsequenzen. Es müssen weniger Güter für Investitionen und mehr Güter für den Ge- und Verbrauch produziert werden. Die Entwicklung von Technologie und Wissenschaft ist von dieser Richtungsentscheidung betroffen. Im 20. Jahrhundert haben die kapitalistische und die sozialistische Rationalität gleichermaßen die Natur und ihre Grenzen (von Ressourcen und Schadstoffsenken) nicht wahrgenommen. Auch die sozialistische Planung änderte nichts daran, dass mit aller Motorkraft alle Prozesse beschleunigt und dabei Treibhausgase en masse emittiert werden, die den Klimawandel zur Folge haben. Doch die durch den Markt koordinierte Planung großer Konzerne im kapitalistischen Westen ist auch nicht rationaler. Denn auch wenn die großen Konzerne in großem Stil und mit all den Techniken planen, die auch in der sozialistischen Planwirtschaft Anwendung finden, bleibt diese kapitalistische Planung im schmalen Horizont mikroökonomischer Rationalität befangen und kann weder makro- ökonomische, gesellschaftliche Ziele verfolgen, noch natürliche Schranken berücksichtigen. Die Einzelunternehmen sind der Konkurrenz auf dem Weltmarkt unterworfen und planen daher gegeneinander, und nicht nur das: Sie planen auch gegen die Natur. Nur das »Naturkapital«, dessen Eigentümer sie geworden sind, findet Berücksichtigung, noch nicht einmal das »Naturkapital« eines konkurrierenden Eigners. Daher handelt es sich bei der Konzernplanung sehr häufig um Nullsummenspiele. Alle Beteiligten planen rational, und dennoch enden die einen auf der Verliererbank, während die anderen das Siegertreppchen emporsteigen. Wer im globalen Raum gewinnt, hat dies oft Zufällen zu verdanken. Doch durch sie wird die Entwicklungsrichtung der Zukunft bestimmt, auf spontane Weise und nicht geplant. Verlierer ist auf jeden Fall die Natur – und mit ihr diejenigen, die sich Natur nicht kaufen können. Das können zwar auch nicht die Wohlhabenden auf Erden, aber sie wiegen sich in der Illusion, als könnten sie Natur durch Geld ersetzen.
Das ist ein starkes Argument gegen eine Gesellschaft von Privateigentümern und für kollektives Eigentum und dessen rationale, also auch makroökonomisch geplante Verwendung. Die Voraussetzung dafür, dass eine kollektive Rationalität zum Zuge kommen kann, ist die kollektive Verfügung über die materiellen Bedingungen des Arbeitens und Lebens, über die Produktionsmittel. Im Sozialismus des 20. Jahrhunderts sollte dies vor allem durch staatliches Eigentum gewährleistet werden. Im Sozialismus des 21. Jahrhunderts aber ist eine größere Vielfalt von Eigentumsformen verlangt: Genossenschaftliches Eigentum, das der großen Bedeutung von Genossenschaften in Geschichte und Gegenwart Rechnung trägt, kommunales und Staatseigentrum, das die Bereitstellung von öffentlichen Gütern gewährleistet, Gemeineigentum an der Allmende, auf das weder Private noch der Staat exklusiv Zugriff nehmen können, dem daher traditionelle, indigene inkludierende Nutzungsweisen angemessen sind. Auch privates Eigentum hat in einer pluralen Ordnung des Eigentums seinen Platz. Es ist notwendig, doch muss man Regeln erlassen, damit es, in Marxens Worten, seine »zersetzende« Wirkung nicht entfalten kann.
Im Sozialismus des 21. Jahrhunderts könne eine »Planwirtschaft auf der Höhe der Zeit« (Dunkhase/Feuerstein 2006) irrationale Fehlentwicklungen verhindern. »Auf der Höhe der Zeit«, das meint hier den Einsatz leistungsfähiger Computer, mit denen die Milliarden Entscheidungen auf Arbeits- und Gütermärkten – die Finanzmärkte werden strikt reguliert und nehmen daher auf den Festplatten der Computernetzwerke nur wenig Platz ein – abgestimmt werden sollen (vgl. Cockshott/Cottrell 2006). Doch die Vorstellung, die gesellschaftliche Wirklichkeit ließe sich auf einem Computer abbilden und die erratischen Nanosekundenbewegungen der Finanzmarkttransaktionen ließen sich noch mit menschlichem Sensorium erfassen, ist absurd – und nicht nur das, sie ist für einen solaren, solidarischen und demokratischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts nicht angemessen. Denn es werden die vielen Ansätze solidarischen Wirtschaftens, d.h. eine wirkliche Bewegung aus den kapitalistischen Verhältnissen heraus verkannt. Es kann nicht darum gehen, die Ökonomie planerisch zu simulieren, weil dies gar nicht gelingen kann. Und wenn es gelingen sollte, bestimmt der für den Plan eingesetzte Computer Produktion und Konsumtion.
Die Entbettung wird fortgesetzt, nun nicht mehr durch den Markt, sondern mittels des Plans. Die Planung muss nicht die Ökonomie als ein Objekt der Steuerung durch eine politisch eingesetzte Steuerungsbehörde definieren, sondern davon ausgehen, dass die Ökonomie Teil der Gesellschaft ist und eine politische Aufgabe darin besteht, dass sich weder Markt noch Plan aus der Gesellschaft entbetten. Die Planung muss also der räumlichen und zeitlichen Reichweite der produzierten und genutzten Güter angemessen sein, und sie muss auf verschiedenen Ebenen, nicht nur zentral oder gar global erfolgen. Das wäre in der Gesellschaft insgesamt wie monokulturelle Plantagen in der Landwirtschaft. Nur Dezentralisierung und Diversität in Verbindung mit notwendigen zentralen Entscheidungen sichern eine erfolgreiche Regulation und daher auch die soziale und natürliche Evolution, und Evolution ist der wichtigste Wortbestandteil im Begriff der R-evolution. Es wäre hilfreich, die Reformdebatten der 1960er Jahre in den sozialistischen Ländern aufzuarbeiten, denn manches davon ist auch heute nützlich für die Gestaltung des Sozialismus des 21. Jahrhunderts: die von Liberman 1962 in der Sowjetunion ausgelöste Debatte um die Autonomie von Betrieben im System makroökonomischer Planung, die Diskussionen über das neue ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft in der DDR, die schon vorher von Fritz Behrens und Arne Benary in der DDR der späten 1950er Jahre ausgelösten Kontroversen, die Reformdebatten in Ungarn und der Tschechoslowakei um 1968, die mit dem Einmarsch der Warschauer Pakt-Truppen am 21. August 1968 brutal abgewürgt wurden, sowie die vielen Beiträge zum Sozialismus mit Markt und Plan und Arbeiterselbstverwaltung in Jugoslawien oder das epochale Werk von István Mészáros zu Beginn der 1990er Jahre (Mészáros 1995) über eine Theorie der Transition. Dieses Werk, obwohl polyhistorisch angelegt, klammert ebenso wie die meisten übrigen Beiträge zur Debatte um eine Reform des planwirtschaftlichen Systems im real existierenden Sozialismus die Naturfrage, die sich »beyond capital« dringlich stellt, fast vollständig aus. Dass nicht nur die »Planung und Leitung der Ökonomie« effizienter und demokratisch werden sollte, sondern der Sozialismus ergrünen muss, wenn er eine Zukunft »beyond capital« haben soll, ist erst im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts ein Thema.
Im 20. Jahrhundert scheiterte die sozialistische Planung nicht zuletzt an der »Gewalt des Geldes«, daran, dass sich die sozialistischen Länder gegenüber dem Finanzsektor der kapitalistischen Welt verschuldet hatten. Das war zu Beginn bequem, doch um den Schuldendienst leisten zu können, mussten Devisen erwirtschaftet werden. Die Wirtschaft musste also auf kapitalistischen Märkten wettbewerbsfähig sein. Das konnte nur gelingen, wenn die realsozialistischen Länder die Arbeitsorganisation, die Technologien und Vermarktungsmethoden des Westens übernahmen. So verwandelten sie sich schon Jahre vor dem Zusammenbruch 1989 in subalterne kapitalistische Ökonomien mit sozialistischen Residuen, die nach 1989 sehr schnell beseitigt werden konnten. Auch der Sozialismus des 21. Jahrhunderts entsteht in Nachbarschaft zum modernen, d.h. finanzgetriebenen Kapitalismus. Daher ist eine der wichtigsten Aufgaben die Eindämmung des Finanzsektors durch strikte Regulierung. Sonst werden sich die vielen schmalen Rinnsale aus Genossenschaften, indigenen Gemeinschaften, alternativen Praxen niemals zu einem Projekt des Sozialismus des 21. Jahrhunderts vereinigen können und der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschen durch einen auf kurzfristige Spekulation getrimmten Kapitalismus Einhalt gebieten.