Bekanntmachung der Beteiligten der Frauenbewegung in der Türkei an die Öffentlichkeit
- August 2018
Wir werden uns weder unsere Rechte noch unsere Kämpfe aus der Hand nehmen lassen!
Der Kampf von Frauen um ihre Gleichheit und Freiheit sowie menschenwürdige Lebensbedingungen dauert seit Jahrhunderten an. Als Frauen, die in der heutigen Türkei leben, haben wir kraft unserer Kämpfe und unserer Solidarität die Verwirklichung zahlreicher in der Verfassung und verschiedenen Gesetzen verankerter Reformen und Mechanismen erreicht, durch die politische und gesellschaftliche Veränderung hin zu mehr Gleichheit möglich wird.
Meilensteine dieser Entwicklung sind die im Folgenden genannten Beispiele:
1841: Recht zur Eheschließung vor einem Richter
1845: Verbot des Kaufs von männlichen und weiblichen Sklaven
1856: Erteilung des Erbrechts für Töchter
1860: und folgende Jahre: Eröffnung von Mittelschulen für Mädchen und Ausbildungsstätten für Lehrerinnen, Gleichheit in der Volksschulbildung
1917: offizielle Beurkundung von Eheschließung und Scheidung durch erstmalige Verankerung von familienrechtlichen Regelungen im Islamischen Recht
1926: Bürgerliches Gesetzbuch der Türkei
1930 und 1934: aktives und passives Frauenwahlrecht
1985: Unterzeichnung des UN-Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) durch die Türkei
1990, 1991: Gründung des Generaldirektorats für den Status und die Probleme der Frau und des Staatsministeriums für die Frau
1998: Verabschiedung des Gesetzes Nr. 4320 zum Schutz der Familie als erstem Gesetz gegen Gewalt an Frauen
2001, 2004, 2010: positive Änderungen der Verfassungsartikel zu Gleichheit (10) und Familie (41)
2002: Verabschiedung des neuen Bürgerlichen Gesetzbuchs, in dem das Prinzip des ‘Familienoberhauptes’ durch die Gleichberechtigung der Ehepartner*innen ersetzt wird
2004: Gründung der Kommission zur Erforschung von Ehrverbrechen sowie Gewalt an Frauen und Kindern in der Türkischen Nationalversammlung
2005: Neues Türkisches Strafrecht, das nun empfindliche Strafen für Verbrechen gegen Frauen und Kinder vorsieht
2009: Gründung der Kommission zu Chancengleichheit von Frauen und Männern in der Türkischen Nationalversammlung
2011 und 2015: Unterzeichnung des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt ( sog. Istanbulkonvention) und beispielgebender Status der Türkei als Erstunterzeichner desselben; dank der Kämpfe der Frauen in der Türkei wird auf den Vorsitz der Institution, die die Einhaltung des Übereinkommens überwachen soll – der Group of Experts on Action against Violence against Women and Domestic Violence (GREVIO) –, im Jahr 2015 eine Frau aus der Türkei gewählt
2012: Verabschiedung des Gesetzes Nr. 6284 zum Schutz der Familie und zur Prävention von Gewalt gegen Frauen
2013: Im Kontext der Verpflichtung von Staat und Kommunen, Gewalt gegen Frauen zu verhüten, zusätzlich zur Eröffnung von Frauenhäusern in allen Provinzen die Einrichtung mindestens eines Zentrums zur Beobachtung und Prävention von Gewalt (türk. Şiddet Önleme ve İzleme Merkezi, ŞÖNİM)
Wir haben ein weites Stück Weg zur Akzeptanz dafür zurückgelegt, die Herstellung rechtlicher und tatsächlicher sozialer Gleichheit aller Gruppen von Frauen – mit ihren Unterschieden nach Ethnizität, Klasse, Glaubensrichtung, sexueller Orientierung und Identität sowie Sprache; ob behindert, älter, geflüchtet oder asylsuchend – als eine gesellschaftliche Verantwortung und staatliche Verpflichtung zu begreifen. Wir haben dafür gesorgt, dass der Staat hierfür nationale und lokale Aktionspläne entwickelt.
Doch heute sind unsere grundlegenden Rechte und Institutionen, obwohl verbrieft durch nationale und internationale Verträge, ernstlich bedroht. Das vorerst letzte Beispiel hierfür war, was mit dem Frauenministerium der Türkei geschah – dem einzigen Ministerium, das ganz der Sache der Frauen gewidmet war: auf die Namensänderung in Ministerium für Familie und Sozialpolitik, die einer Beendung seiner bisherigen Funktion gleichkam, folgte schließlich die Angliederung ans Arbeitsministerium.
Die seit Jahren seitens der Regierungsmacht und außerhalb dieser gestarteten Kampagnen gegen die gesetzlichen und institutionellen Terraingewinne von Frauen wurden mit dem 2016 veröffentlichten Berichtsentwurf der Parlamentarischen Scheidungskommission faktisch zu einem Regierungsprogramm. Mit diesem Bericht wird angestrebt, Zwangsverheiratungen mit Minderjährigen und die Eheschließung von Vergewaltigungsopfern mit den Tätern zu fördern, Kindesmißbrauchern Straffreiheit zuzugestehen, Frauen ihren durch häusliche Arbeit in der Ehe erworbenen Erbanteil zu verweigern, Männern die Scheidung zu erleichtern und umgekehrt Frauen – mit Methoden wie der Bemessung des Ehegattenunterhalts nach der Dauer der Ehe und der Einsetzung von „Familienvermittler*innen“ – von einer Scheidung abzuhalten sowie Gewaltschutzmaßnahmen an die Beibringung von Belegen für erlittene Gewalt oder Bedrohung zu knüpfen.
Gab es schon über die letzten Jahre hinweg Initiativen zur Beschneidung jedweder gesetzlichen Vorgaben zugunsten von Frauen, so haben sich diese heute offen in die Forderung nach deren gänzlicher Abschaffung verwandelt. Ansinnen wie “das Konzept des Familienoberhaupts soll wieder eingeführt werden“, „das Sorgerecht für Kinder soll dem Vater gegeben werden“, „die gleiche Aufteilung der in der Ehe gemeinsam erwirtschafteten Güter soll abgeschafft werden”, „das Gesetz Nr. 6284 gegen Gewalt an Frauen soll ganz zurückgenommen werden”, „die Türkei soll ihre Unterschrift unter dem Vertrag des Europarats zu Gewalt zurückziehen“ wurden zunehmend in Umlauf gebracht. Mehr noch, die Frauenorganisationen, die als Hindernis für die Verwirklichung dieser Forderungen ausgemacht wurden, konnten offen zur Zielscheibe gemacht werden.
Angesichts dieses voranschreitenden Prozesses erklären wir als Frauengruppen und -organisationen, die diese Bekanntmachung unterzeichnen: Wir werden niemals auf unsere im Kampf gewonnenen Rechte und auf unseren Anspruch auf Gleichheit und Freiheit verzichten; wir werden uns jedem Diskurs und jeden politischen Schritt, mit dem Geschlechterdiskriminierung bestätigt und vertieft wird, entgegenstellen und die Verantwortlichen öffentlich machen.
Als freie und gleiche Individuen, die das Entscheidungsrecht über ihr Leben innehaben, werden wir uns weiterhin jeder Form von Gängelung und jedem Herrschaftsanspruch gegenüber unserer Arbeit, unserem Körper und unserer Persönlichkeit widersetzen.
Wir rufen alle Politiker*innen, Parteien und zivilgesellschaftlichen Einrichtungen in der Türkei auf, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen und solidarisch mit Frauenorganisationen gegen jene Diskurse und Politiken zusammenzustehen, die Frauen den Status als gleichberechtigte Bürgerinnen nehmen, ihre Arbeit ausbeuten und sie schwächen wollen.
Wir Frauen werden, so wie wir stets in der Geschichte der Türkei gegen männliche Vorherrschaft in all ihren Formen gestanden haben, uns dieser auch heute entgegenstellen.
Wir Frauen sagen aufgrund des Wissens, der Erfahrung und Solidarität einer Jahrtausende dauernden gemeinsamen Kampfgeschichte: Wir werden uns weder unsere Rechte noch unsere Kämpfe aus der Hand nehmen lassen!
Aus dem Türkischen von Corinna Trogisch