Hürden einer verbindenden Care-Politik
Ungleichzeitigkeiten: Im Gleichschritt geht es nicht voran
›Den‹ Gesundheitsbereich organisieren zu wollen, ist unmöglich, einen halbwegs vergleichbaren Stand der Auseinandersetzungen gibt es nicht. Zu unterschiedlich sind die Bedingungen des politischen Handelns schon im Feld der Pflegearbeit.
So ist die immense Zahl von Menschen, die zu Hause unbezahlt Angehörige pflegt, kaum als Kollektiv mobilisierbar. Durch die Pflegeverantwortung sind viele nicht nur räumlich, sondern auch meist zeitlich und finanziell bis ans Limit eingebunden. Sie verfügen weder über ökonomisches Druckpotenzial, noch haben ihre Forderungen einen klar fassbaren Adressaten. Schon die eigene Tätigkeit als ›gesellschaftlich notwendige Arbeit‹ zu begreifen, ist keineswegs selbstverständlich, individuelle Zwangslagen werden kaum politisch artikuliert. Nach wie vor ist es oft schambesetzt, an familiären Pflegeverpflichtungen zu scheitern oder wie viele pflegende Angehörige Transferleistungen zu beziehen. So fehlt ein positiver Bezugspunkt, um sich selbstbewusst für die eigenen Anliegen einzusetzen. Einzelne Organisationen wie etwa die Initiative gegen Armut durch Pflege leisten hier Pionierarbeit unter schwierigen Bedingungen.
Unterdessen stehen andere Akteure an einem ganz anderen Punkt und blicken auf jahrelange Auseinandersetzungen zurück. Einzelne gute organisierte Bereiche in der professionellen Krankenpflege haben neue Techniken des Arbeitskampfs und der Organisierung entwickelt, in Krankenhäusern wurde in den letzten Jahren erstmals offensiv gestreikt (vgl. Wolf 2015). Bundesweit formieren sich neue Tarifbewegungen, in denen zunehmend auch über die Rahmenbedingungen der Arbeit, wie etwa die Personalbemessung, gestritten wird.
Nicht überall im Pflegebereich sind solche Zuspitzungen denkbar. Die Bedingungen unterscheiden sich bis in die einzelnen Einrichtungen hinein. In der ambulanten Pflege, in kirchlichen Einrichtungen oder in der Altenpflege ist der Organisationsgrad oft gering und das Arbeitsklima nicht selten repressiv. Weit unterhalb von Streiks geht es hier darum, Standards beim Arbeitsschutz und betrieblicher Mitbestimmung zu verteidigen (Vgl. Lindemann, LuXemburg-Online, April 2016). Bereits kleine Auseinandersetzungen werden zum Kraftakt. Diese ungleichzeitigen Verhältnisse erschweren die Verständigung – auch weil viele Differenzen nicht zufällig entstehen, sondern Ausdruck herrschaftsförmiger Spaltungen sind.
Spaltungslinien: Gräben mit Geschichte
Ein zentraler Angriffspunkt von Feministinnen war seit jeher die gesellschaftliche Abwertung von Sorgearbeit als unqualifizierte Tätigkeit, die Frauen vermeintlich ›naturgegeben‹ ist. Care-Arbeit wurde lange der Status der Professionalität und damit die gesellschaftliche Anerkennung verweigert. Dieser Graben zieht sich auch durch die Pflegeberufe: Mit zunehmender Nähe zur ›bloßen‹ Sorgearbeit sinkt der Status und mit ihm der Lohn. Die Rationalisierung vertieft diese Spaltung: Während Fachkräfte kaum noch ›am Bett‹ arbeiten, sondern mit Managementtätigkeiten oder mit medizinisch-therapeutischen Aufgaben betraut sind, verrichtet eine wachsende Zahl von Hilfskräften Pflegehandlungen wie am Fließband. Ein beträchtlicher Teil häuslicher Pflege- und Sorgearbeit schließlich zählt überhaupt nicht als Arbeit, sondern als Liebesdienst. Hier geht mit der moralischen Idealisierung die monetäre Entwertung einher.
Eine übergreifende Care-Bewegung vom Oberarzt bis zur pflegenden Mutter, von der Intensivpflegerin bis zum ehrenamtlichen Hospitzmitarbeiter liegt also nicht unmittelbar auf der Hand. Während unbezahlt Pflegende fürchten, dass ihre Anliegen (mal wieder) hinter den ›richtigen‹ Arbeitskämpfen zurückstehen müssen, gibt es umgekehrt Berührungsängste bei den professionell Pflegenden. Sie betonen den medizinischen Aspekt ihrer Arbeit und ihre Qualifikationen, gründen hierauf ihr professionelles Selbstbewusstsein. Die Arbeit als Care-Tätigkeit in die Nähe privater Sorgeverhältnisse zu rücken, birgt aus ihrer Sicht die Gefahr, ihren langen Kampf um berufliche Anerkennung zu schwächen.
Diese Fragen müssen in den Debatten um eine Care Revolution bearbeitet werden: Wie passt die Wertschätzung von privater Sorgearbeit, von ›Fürsorglichkeit‹, zu der Forderung nach Vergesellschaftung dieser Arbeit? Wie lässt sich der Wunsch nach Professionalisierung und dem Ausbau einer öffentlichen Infrastruktur verbinden mit der Anerkennung für unbezahlt Pflegende?
Widersprüche: Not a Happy Family
Der positive Bezug auf den Care-Begriff birgt noch weitere Fallstricke: nicht nur die Gefahr einer Idealisierung von Care-Arbeit, sondern auch einer Idealisierung von Care-Beziehungen. Dass diese nicht immer einvernehmlich und selbstgewählt sind, erleben sowohl Sorgende wie ›Versorgte‹. Sie gehen oft mit ungewünschter Nähe, mit dem Verlust an Selbstbestimmung, mit Macht- und Ohnmachtsgefühlen einher.
Dass Interessenlagen hier unterschiedlich sein können, wissen insbesondere diejenigen, die auf Pflege und Assistenz angewiesen sind. Inwiefern ist ihre Perspektive mitgedacht in einem gemeinsamen Projekt? Im Vokabular der Debatte finden sie sich unter Umständen nicht wieder: Der Bezug auf das Gemeingut ›Pflege und Gesundheit‹ etwa hinkt insofern, als Gesundheit ein normativer und normierender Begriff ist und das Gepflegtwerden eine Passivität der Pflegebedürftigen nahelegen kann. Die Betroffenen sind nicht ›krank‹, sondern brauchen eine Praxis der ›Ent-Hinderung‹ und Antidiskriminierung. Ihre Forderungen verbinden sich nicht von selbst mit einer Strategie der Anerkennung und Aufwertung von Care-Arbeit durch Professionalisierung. Dies fordert den Care-Ansatz heraus und wirft die Frage neu auf, wie wir Care eigentlich fassen wollen: als Tätigkeit von Care-Arbeiterinnen oder als eine »Koproduktion aller, die an einer ›Care-Beziehung‹ beteiligt sind« (Zander in diesem Heft)? Und wie lassen sich Sorgeverhältnisse über die persönliche Interaktion hinaus als gesellschaftliche Verhältnisse verstehen?
Verbindende Care-Politik: Wie sie doch gelingen kann
All diese Hindernisse und offenen Fragen erzeugen nachvollziehbare Skepsis gegenüber einer verbindenden Care-Politik. Manche Akteure sehen sich in einem Dilemma: Wie die eigenen Kämpfe führen und zugleich nach Verknüpfungen mit anderen suchen? Wie Auseinandersetzungen zuspitzen und zugleich verbreitern? Bündnisse zu schließen und arbeitsfähig zu halten erscheint als Überforderung oder gar als Hemmnis der eigenen Anliegen. Das Spannungsverhältnis von Zuspitzung und Verbreiterung, von partikularen und universalen Interessen ist ein reales, es lässt sich aber nicht in eine Richtung auflösen. Die skizzierten Schwierigkeiten sind notwendige Ausgangsbedingung einer verbindenden Care-Politik.
Privatheit überwinden: Neue Organisierungsansätze entwickeln
Ungleichzeitige Verhältnisse zwingen dazu, spezifische Antworten zu finden. Oft steht die Suche danach noch am Anfang. Es wäre aber falsch, sich allein auf die Bereiche zu konzentrieren, in denen sich bereits heute Konflikte zuspitzen lassen. Strategisch muss das gesamte Feld der Sorgebeziehungen im Blick bleiben.
Die vermeintliche Privatheit von Sorgeverhältnissen ist ein zentrales Problem für die Politisierung und Organisierung. Die ›Krüppelbewegung‹ hatte in den 1970er Jahren begonnen, Räume für gemeinsames Handeln zu schaffen und sich zusammeneinzuschließen. Unter pflegenden Angehörigen und Menschen mit Pflegebedarf sind solche Ansätze noch rar. Fest steht: Sie werden sich nicht nach dem Muster klassischer Polit- oder Betriebsversammlungen entwickeln lassen. Da die Betroffenen oft nur wenig freie Zeit haben oder das Haus nicht verlassen können, spielen soziale Medien eine wichtige Rolle, um Aufmerksamkeit zu erreichen und sich zu vernetzen (vgl. Schilliger in LuXemburg-Online, Oktober 2014). Dennoch braucht es auch Orte des realen Austauschs, wohnortnahe und ›niedrigschwellige‹ Anlaufpunkte. Eine Vielzahl von Beratungsstellen unterstütz pflegende Angehörige im täglichen Kampf mit Behörden und Richtlinien. Wie wäre es, wenn diese nicht nur individuelle Orientierung, sondern auch kollektive Selbstverständigung ermöglichen würden? Wie könnten sie zu Orten werden, an denen Vereinzelung überwunden und über Kritik und Alternativen zur aktuellen (Pflege-)Politik diskutiert werden kann – zu Räumen, in denen sich Widerstand organisieren liesse? Einzelne VertreterInnen von Beratungsstrukturen zeigen durchaus Interesse daran, sich solchen (care-)politischen Diskussionen gegenüber zu öffnen. Bisher liegt ihr Fokus eher auf einer ›Kultur der Anerkennung‹, weniger auf ›harten‹ politischen und ökonomischen Forderungen. Hier zeichnen sich lohnende Kooperationen ab, etwa mit parteipolitischen Akteuren oder auch mit dem Care-Netzwerk – sie könnten Verständigungs- und Organisierungsprozesse anstoßen.
Kämpfe schrittweise verbreitern
Soll das Projekt einer Care Revolution wirksam werden, gilt es die Aktivitäten zu verbreitern – sonst bleiben sie langfristig wirkungslos und tasten auch die Mechanismen der Spaltung und Abwertung nicht an. Verbreiterung heißt dabei nicht nur, Felder und Akteure miteinander zu verschränken. Es heißt vor allem auch, sie über verschiedene Ebenen des Politischen hinweg zu verbinden – nur so lassen sich Machtstrukturen in Bewegung bringen.
Zunächst bedeutet es, die Konflikte um schlechte Arbeitsbedingungen, mangelnde Unterstützung oder be-hindernde Zuwendungspolitiken überhaupt als gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen zu führen. Es heißt, gemeinsame Problemursachen wie austeritäts-politische Rahmenbedingungen, Ökonomisierung und Marktsteuerung in den Blick zu nehmen. Und vor allem: diese in den jeweiligen Auseinandersetzungen auch tatsächlich zu thematisieren, Zusammenhänge aufzuzeigen und darüber auch mehr Menschen zu involvieren. Denn in den Auseinandersetzungen wird nicht nur um den Wert von Sorgearbeit gestritten, sondern auch um gesellschaftliche Umverteilung; werden nicht nur Arbeits-, sondern auch Geschlechterverhältnisse verhandelt, geht es nicht nur um soziale, sondern auch um politische Teilhabe. All das muss aber so ›verstanden‹ werden, um die Perspektive des Konflikts politisch zu ›verbreitern‹. Dies ist weder in gewerkschaftlichen noch in pflegepolitischen Auseinandersetzungen selbstverständliche Praxis. Die Initiative gegen Armut durch Pflege, in der sich pflegende Angehörige organisieren, versucht es: Sie stellt die Zwangslage, durch Sorgeverantwortung zunächst arbeitslos und dann arm zu werden, in einen breiteren Kontext der Prekarisierung und Entrechtung innerhalb des Hartz-IV-Regimes. Ihr Engagement wird damit anschlussfähig für andere Debatten und Interessen.
Eine weitere Form der Verbreiterung kann dadurch gelingen, dass andere Akteure – wenn auch zunächst nur diskursiv – einbezogen und übergreifende Interessen formuliert werden: Wo berühren die eigenen Forderungen verallgemeinerbare Anliegen wie etwa Versorgungsqualität, Inklusion oder Gerechtigkeit? Eine solche Strategie ist nicht nur für ›ressourcenschwache‹ Akteure wichtig, deren Anliegen sonst untergehen könnten, sondern auch für die ›gewichtigen‹ Player im Care-Bereich. So sind gerade gewerkschaftliche Kämpfe auf die Verbreiterung ihrer Forderungen angewiesen. Im Care-Bereich werden sie in besonderer Weise mit dem Vorwurf konfrontiert, Partikularinteressen auf Kosten des Gemeinwohls durchzusetzen. Bei langen Streiks wird immer wieder die Forderung laut, das Streikrecht zu beschränken. Ein Ausweg liegt darin, die gesellschaftspolitische Bedeutung dieser Kämpfe herauszustellen. Genau das ist 2015 den streikenden Pflegekräften an der Berliner Charité gelungen. Mit ihrem Slogan »Mehr von uns ist besser für alle« konnten sie ihren Kampf für verbindliche Pflegequoten als Kampf für gute Krankenhausversorgung vermitteln (vgl. Kunkel 2016). Über ein zivilgesellschaftliches Bündnis war es möglich, dieses öffentliche Interesse noch zu unterstreichen und so ein hohes Maß an Unterstützung zu mobilisieren.
Perspektivisch reicht es aber nicht aus, auf ›im Prinzip‹ vorhandene Interessenüberschneidungen zu verweisen. Es gilt, diese mit anderen Akteuren politisch herzustellen, sich über gemeinsame Forderungen zu verständigen und über Wege, dorthin zu gelangen. Dies setzt konkrete Zusammenarbeit voraus. Für Gewerkschaften etwa könnte das bedeuten, Arbeitskampfbündnisse nicht nur als Solidaritätsstrukturen zu verstehen, die an die Konjunktur von Streiks und Tarifabschlüssen gebunden sind. Sie müssten zu Orten werden, wo mit anderen Akteuren eine eigenständige, langfristige, am besten lokal verankerte Politik entwickelt wird: mit PatientInnen für eine bessere Versorgung oder mit Eltern für eine andere Kita-Betreuung. Eine solche Praxis ist voraussetzungsvoll und fordert einen bewussten Umgang mit den genannten Unterschieden in Bezug auf Akteure und Ziele.
Verbindende Politik: Bündnisse als Lernprozess
Zentral ist, die jeweiligen Handlungslogiken und Interessen der Beteiligten von Anfang an transparent zu machen. Gewerkschaften und betriebliche Aktive etwa zielen auf Tarifabschlüsse (auch wenn es in vielen Tarifbewegungen längst nicht ›nur‹ um ökonomische Aspekte geht) und müssen das Erreichte gegenüber Mitgliedern und der Öffentlichkeit als Erfolg vermitteln. Bei Arbeitskämpfen in der Krankenpflege beispielsweise nicht nur die Arbeitsverdichtung, sondern auch das Finanzierungsmodell der Fallpauschalen als deren Treiber mit anzugreifen, kann aus gewerkschaftlicher Sicht als politische Überfrachtung erscheinen und damit gar als Gefährdung der Tarifbewegungen. Hier kann es unterschiedliche Prioritäten geben, was nicht heißt, dass die Interessen notwendig gegeneinanderstehen müssen. Wenn ein wechselseitiges Verständnis über die jeweiligen Anliegen besteht, lassen sich realistische und gleichwohl solidarische (Etappen-)Ziele aushandeln. Das setzt voraus, die Handlungszwänge und Grenzen des Anderen zu kennen – nur so entsteht die Möglichkeit, sie schrittweise überwinden zu können.
All das ist kompliziert und erfordert nicht nur ein hohes Niveau an strategischer Planung, sondern auch eine besondere Qualität der internen Kommunikation. Sie funktioniert nicht im Modus wechselseitiger Belehrung, eher über eine gemeinsame Auseinandersetzung mit Differenzen und Widersprüchen – jenseits von Fraktionszwang oder Verratsrhetorik. Entscheidend ist eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe, in der sich die Parteien nicht instrumentell begegnen. Nur wenn alle Beteiligten ihre eigenen Anliegen berücksichtigt wissen, werden sie langfristig für gemeinsame streiten, können auch über das unmittelbar Erreichte (oder Verfehlte) hinaus Lernprozesse stattfinden.
Solche Offenheit ist nicht nur in Arbeitskämpfen wichtig, sondern in jeglichen (care-)politischen Zusammenschlüssen: Auch das Netzwerk Care Revolution organisiert zu einem großen Teil politische ›Verständigungsarbeit‹ – über gemeinsame Problemanalysen und Erwartungen, über Ängste, die mit einer Zusammenarbeit verbunden sein können. Die Debatte um die Inklusivität des Care-Begriffs ist hierfür exemplarisch: Erst der engagierte Einspruch von organisierten AssistenznehmerInnen machte deutlich, dass ihre Interessen nicht stellvertretend ›mitgedacht‹ werden können, sondern dass es hierzu echter Aushandlungen bedarf.
Solche Prozesse fressen viel Energie, ihr Tempo ist langsam, der Einsatz intensiv. Dies liegt oft quer zu den zeitlichen, persönlichen und institutionellen Ressourcen der jeweiligen Akteure und wird damit schnell als uneffektiv abgetan. Aber allein so gelingen kollektive Politisierungs- und Bildungsprozesse, in denen etwas Gemeinsames entstehen kann.
Der Fluchtpunkt: Eine Infrastruktur des Sorgens
Eine verbindende Care-Politik lässt sich nicht auf ›Techniken‹ der politischen Bündnisarbeit reduzieren. Es geht auch darum, gemeinsame Deutungen zu entwickeln, wie wir in Zukunft leben und sorgen wollen. Es geht um ein Projekt, in dem Alternativen vorstellbar werden, das die Anliegen von vielen zu bündeln vermag und in dem sich Kämpfe zuspitzen lassen. Ein gewisser ›Überschuss‹ ist in all den Auseinandersetzungen schon angelegt: In ihnen wird um Grundbedingungen sozialer Teilhabe und menschlicher Würde, um gerechte Arbeits- und Ressourcenverteilung, um Vorrausetzungen eines solidarisches Miteinanders gestritten. Damit dies auch zum expliziten Ziel verbindender Care-Politiken wird, muss darum in den Auseinandersetzungen selbst gerungen werden. Hier sollte sich eine gesellschaftliche Linke einmischen, diese Ziele herausarbeiten und konkrete Alternativen vorschlagen.
Ideen dazu, wie Pflege, Gesundheitsversorgung und Assistenz ganz anders organisiert sein könnten, gibt es schon: als bedürfnisgerechte demokratische soziale Infrastruktur (vgl. u.a. Krampe 2015), nicht als Neuauflage des fordistischen und paternalistischen Wohlfahrtsstaates, sondern als Verwirklichungsstruktur sozialer (Teilhabe-)Rechte. Care Revolution in diesem Sinne zielt darauf, gute Care-Verhältnisse in einem umfassenden Sinne zu ermöglichen. Ein Projekt, das auch für eine breite gesellschaftliche (feministische) Linke attraktiv ist. Wenn es ernst gemeint ist, ist es der Einstieg in eine gesamtgesellschaftliche Transformation. Die Ausweitung und gleichzeitige Dekommodifizierung der Daseinsvorsorge ist nur durch eine Umverteilung von Ressourcen zu erreichen und bricht mit den Diktaten von Austeritäts- und Ökonomisierungspolitik. Zugleich ermöglicht sie eine (geschlechter-)gerechte Neuverteilung von Sorgearbeit und verhindert deren Verschiebung ins prekäre Private. Wird eine solche Infrastruktur bottom-up gedacht, eröffnet sie auch Perspektiven einer Demokratisierung, wenn etwa in lokalen Versorgungszentren Pflegekräfte und zu Pflegende gemeinsam entscheiden, wie die Bedingungen aussehen sollen. Aktuell wäre ein solches care-politisches Projekt besonders dringlich: Die desaströse Versorgung vieler Geflüchteter ist jenseits struktureller Diskriminierung auch eine Folge der kaputtgesparten öffentlichen Infrastrukturen. Sie zu stärken, wäre ein wichtiger Beitrag, um rassistisch aufgeladenen und medial angefeuerten Verteilungskämpfen etwas entgegenzusetzen.
Das Spektrum erweitern: Akteure einer Care Revolution
So ein Projekt ist kein Selbstläufer, es muss in verbindlichen Strukturen vorangetrieben werden. Dem Netzwerk Care Revolution ist es gelungen, eine Vielzahl von Initiativen, politischen Gruppen und auch Einzelpersonen einzubinden. In seiner Reichweite ist es aber beschränkt. Um tatsächlich Mehrheiten zu gewinnen, muss das Spektrum erweitert, muss die ownership verbreitert werden. Eine Care Revolution kann nur von vielen getragen werden.
Das betrifft etwa die Gewerkschaften: Sie müssen zentrale Akteure eines solchen Prozesses werden. Arbeitskämpfe bieten die Chance breiter Aufmerksamkeit und Zuspitzung, sind die Basis für Organisierungsprozesse und Bündnisse. Letztere können Orte verbindender Care-Politiken sein: Sie bilden einen Resonanzraum für gewerkschaftliche Kämpfe und können diese durch Kampagnen real unterstützen. Zugleich lassen sie sich für weitergehende care-politische Fragen öffnen, können andere politische Ebenen einbeziehen. Gewerkschaften sind qua Auftrag nicht immer in der Lage, solche Bündnisse prioritär zu behandeln, sind in ihren hierarchischen Strukturen teils nicht beweglich genug, sich auf andere politische Logiken einzustellen. Hier geht es auch um eine funktionelle Arbeitsteilung, denn: Ohne Gewerkschaften wird es nicht gehen.
Ähnlich steht es um linke Parteien. Die LINKE bietet die Möglichkeit langfristiger Organisierung, gerade auch die Integration und Repräsentation derjenigen, die in ihrem Alltag weder Aktivistinnen sein können noch wollen. Außerdem kann sie die strukturellen, sozial- und gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen gezielt in den Blick nehmen. Oft sind es aber Fragen unmittelbarer (wahl-)taktischer Erfolge, die über Schwerpunktsetzungen und Handlungsfelder entscheiden. Care-Politiken – noch dazu solche, die feministische Anliegen großschreiben und sich zentral um die Probleme unbezahlter Arbeit kümmern – sind kurzfristig nicht unbedingt ›Gewinnerthemen‹. Und doch: Da die Partei auch und zunehmend jene vertritt, die aus dem System der Erwerbsarbeit herausfallen, sind soziale Infrastrukturen ein zentrales Thema. Gemeinsame Projekte könnten also noch viel weitergehen als bisher.
Chancen verbindender Praxis: Lokale Gesundheitsversorgung
Konkret ließen sie sich etwa auf der kommunalpolitischen Ebene entwickeln. Die LINKE könnte dort, wo sie in der Regierungsverantwortung ist, Initiativen unterstützen, die Aspekte einer anderen ›Sorge-Infrastruktur‹ schon heute vorwegnehmen. So wären Synergien zwischen institutionalisierten und eher selbstorganisiert-kommunitären Akteuren im Care-Bereich möglich, die allerdings einen Abbau von Berührungsängsten auf beiden Seiten voraussetzen.
Ein Beispiel sind lokale Gesundheitszentren. In anderen europäischen Ländern gibt es sie bereits (Schubert/Vagkopoulou 2015), in Deutschland eher vereinzelt. Aber es gibt eine Debatte dazu und ein großes Interesse daran, auf lokaler Ebene Gesundheitsversorgung als soziale Infrastruktur zu entwickeln (vgl. Krampe 2015, Poliklinik Gruppe 2014). Dabei geht es um wohnortnahe Versorgungszentren, in denen soziale und medizinische Beratung mit unterschiedlichen Therapieformen zusammenwirken, jenseits disziplinärer Grenzen, Hierarchien und Bevormundung. Durch eine Verankerung im Stadtteil oder in der Region werden auch Lebensbedingungen und Gesundheitsgefährdungen thematisiert. Wichtig sind demokratische Strukturen und reale Beteiligungsmöglichkeiten der PatientInnen.
Solche Alternativen entstehen selten aus der Regierungsverantwortung oder dem Verwaltungsapparat heraus. Gleichzeitig können sie als ›Inseln‹ keine Strahlkraft entwickeln. In Brandenburg oder Thüringen etwa könnte die LINKE solche Projekte finanziell und strukturell fördern, mit Regelungserleichterungen unterstützen und am besten wissenschaftlich begleiten. So ließen sich deren Prinzipien gesellschaftlich verallgemeinern, könnten sie als ›Labore‹ künftiger Infrastrukturen fungieren. Selbstverständlich ist dies angesichts der oft prekären Haushaltslage und der kommunalen Schuldenbremse nicht einfach. Hier gilt es, ehrlich mit den Grenzen der eigenen Handlungsmacht umzugehen. Dennoch: Ein solches Projekt lokaler Gesundheitsversorgung könnte Verständigungs- und Organisierungsprozesse anstoßen. Weitere könnten folgen.
Wie weiter?
Care Revolution kann nicht bedeuten, nach und nach alle Akteure in Pflege, Gesundheit und Assistenz ›einzusammeln‹, womöglich im Gleichschritt unter einem Banner. Es geht nicht darum, eine neue ›Organisation‹ aufzubauen, schon eher eine ›Bewegung der Bewegungen‹. Aber auch diese wird dezentral und kleinteilig sein und mit Ungleichzeitigkeiten umgehen müssen und – nüchtern betrachtet – einen sehr langen Atem brauchen. Nicht die große Euphorie ist damit verbunden, eher Begeisterung auch für die ›kleinen Revolutionen‹. Für viele geht es schlicht darum, im Wissen um ein gemeinsames Projekt den Mut nicht zu verlieren. Womöglich steht ein »umwälzender Pragmatismus« (Kahrs in diesem Heft) an, der die Probleme nicht in großer Geste angeht, eher im Detail, dabei aber das Terrain für nächste Schritte bereitet, neue Praxen erprobt, Handlungsfähigkeit erweitert.
»Revolutionäre Realpolitik« (Rosa Luxemburg) bedeutet ja nicht, die Verhältnisse ›umzuwerfen‹, sondern die Probleme an ihren Wurzeln zu packen; in Kenntnis der Kräfteverhältnisse, aber mit der Perspektive ihrer Verschiebung. Es geht darum, an den konkreten Alltagssorgen, den jeweiligen Einzelforderungen anzuknüpfen und herauszuarbeiten, was sich mit den Interessen anderer Gruppen und Klassenfraktionen verbindet, was verallgemeinert werden kann. In diesem Prozess ist Care Revolution eine wichtige (feministische) Stimme, die mit anderen nach einer gemeinsamen Tonart sucht, ohne dass alle das Gleiche singen müssen.
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